Sonntag, 29. November 2015

Der rote Mond Heidekraut am Bosporus

Oh mein Gott, diese fremde Welt…das ist alles so aufregend, es gibt so viel zu sehen… da sind so viele Menschen. Erika fühlt sich großartig und lässt sich so gerne von Fatma alles zeigen.
Sie wohnen bei Fatmas Großeltern, ein altes, griechisches Haus, das nach vielen Jahrzehnten Mottenkugeln und Käsefüßen riecht. Fatmas Leute reden natürlich nur türkisch, was kann Erika tun? Sie hat ständig die Augenbrauen ein bisschen angehoben, die Mundwinkel auch und nickt immerzu, obwohl sie nichts kapiert. Aber Fatma macht das gut: Wenn Erika angesprochen wird, macht sie den Dolmetscher, sonst spricht sie türkisch, manchmal sagt sie Erika kurz Bescheid, worüber gerade gesprochen wird. Erika ist sehr vertrauensvoll, dass sie nichts verpasst. Sie sitzt einfach dabei, versucht ihre freundliche Maske zu halten, schaut sich die anderen Dinge an, die Gesten, die Mimik, das Rundherum. Ihr ist dabei kein bisschen langweilig, es gibt genug zu sehen, nachzudenken, zu vergleichen mit ihrer Welt. Im Keller des Hauses ist das Badezimmer. Sie bekommen von der Großmutter einen Eimer heißes Wasser, stehen beide nackt auf dem zementierten Boden und benutzen die verschieden großen Zuber um sich mit Wasser zu übergießen und zu waschen. Erika findet das schön und anheimelnd, wenn sie sauber ist freut sie sich schon auf das nächste Bad. Am ersten Morgen sagte Fatma: „ Ich habe heute auf türkisch geträumt.“ Darüber muss Erika lange nachdenken, sie wusste gar nicht, dass sie in einer Sprache träumt. Wie tief ragt diese Spaltung in türkisch und deutsch in Fatma hinein. Wie sehr macht Sprache Identität aus. Wird sich Fatma jetzt von ihr entfernen, weil sie mehr türkisch ist?
Jeden Tag fahren sie in die Stadt, Fatma zeigt sich als hervorragende Fremdenführerin und in Istanbul gibt es ja mehr als genug zu sehen. Überall stehen diese gutaussehenden, jungen Männer in Uniformen. Manche schauen finster, viele andere lächeln Erika freundlich an. Fatma erzählt von dem Putsch letztes Jahr, erklärt damit die vielen Militärposten. Erika ist verblüfft, sie hält sich für informiert und weltpolitisch interessiert, aber sie hatte davon überhaupt nichts mitgekriegt. Tja, sie hatte offensichtlich nicht mal vorher gefragt, wie die politische Situation in der Türkei ist, ob man das überhaupt verantworten kann, dahin zu fahren. Naja, nun ist sie da, jetzt fragt sie sich, ob sie sich bedroht, oder unsicher fühlt, aber die meisten von den uniformierten Jungs sind  adrett und sehen  freundlich aus. Ja, das ist lustig, sie ist hier weit und breit die einzige Touristin, unterwegs mit der exklusiv- Fremdenführerin. Jeden Tag gibt es sehr leckeres Essen, oft folgt ihnen ein Pulk von Kindern oder Jugendlichen, das ist schon etwas lästig. Sonst so kompetent, schafft Fatma es leider nicht, diese Verfolger zu vertreiben.
Istanbul ist so schön, es gibt so viel zu sehen, aber Erika entscheidet sich bald: das Tollste ist die S-Bahn –Fahrt. Morgens und abends sitzen sie zwanzig Minuten in der Bahn, weil das Haus der Großeltern in einem ruhigen Vorort liegt. Die Bahn ist immer voll. Erika bestaunt die Menschen, ihre Fremdartigkeit. Fatma erklärt: die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, die Türken sind eigentlich Mongolen, da gibt es aber auch Kurden, Griechen, Armenier und viele andere. Ja, genau, das ist das Eine, was Erika bestaunt, dass die Menschen so extrem unterschiedlich aussehen. Aber auch mit welcher Gelassenheit sie sich so nah zusammen drängeln, sowas hat sie noch nie erlebt. Abends stehen die Leute Bauch an Po in der Bahn, ein Glück ist Erika hier recht groß, sodass sie meistens oben heraus ragt und Luft zum Atmen bekommt. Am liebsten positioniert sie sich in der Nähe der Eingangstüren, da gibt es manchmal Akrobatik zu bestaunen. Junge Kerle springen an die schon anfahrende Bahn, halten sich außerhalb an den Griffen und auf dem Trittbrett fest und fahren so eine Station. So also geht Trittbrettfahren, Erika prickelt es im ganzen Körper nur vom Zuschauen. Fatma ist nicht begeistert, als Erika meint, dass sie das auch mal ausprobieren will. Sie stellt klar, das ist verboten und extrem gefährlich. Schon klar, Erika wird hier keinen Ärger machen, sie hält sich exakt an alle Verhaltensregeln, die Fatma aufstellt. Aber sie liebäugelt, das Riskante hat seinen Reiz, die Gefahr, die Geschwindigkeit, den Wind im Gesicht spüren, was würden die Leute staunen, wenn sie das machen würde. Aber sie weiß gar nicht…es ist nur ein Gedankenspiel. Ein Gedankenspiel, ein Spiel mit dem Leben, sie hält sich ja nicht so sehr fest an ihrem Leben, wenn es am Schönsten ist, soll man gehen, dann wäre jetzt der richtige Moment… Aber nein, natürlich nicht! In Echt würde sie das Fatma natürlich nicht antun! Aber da gibt es so eine distanzierte Leichtigkeit. Das Leben festhalten, oder loslassen, ist alles nicht so wichtig. Jetzt ist es schön, mit Fatma, alles andere ist Nebensache.
Nach einer Woche nehmen sie die Fähre über das Marmara Meer. Es ist ein wunderbarer Tag, sie stehen an der Reling und genießen die glitzernde Weite. Das Ziel: die kleine, beschauliche Insel Avsa. Hier machen sie so richtig Badeurlaub, wie man es sich vorstellt. Touristen? Fehlanzeige, also außer Erika natürlich. Die Adresse kommt mal wieder von Eva, sie bekommen eine kleine Wohnung bei sehr freundlichen Leuten, es ist alles da, der Weg zum Strand ist kurz, Die Haus-Mutti bringt täglich kleine Kostproben ihrer Kochkunst. So vergehen sehr helle Tage, sie lümmeln am Strand, abends gehen sie ins Cafe und spielen Backgammon. Erika findet es sehr komisch, dass sie die einzigen Frauen in dem Cafe sind, aber Fatma spaziert immer wieder mit stoischem Gesicht hinein. Nach einigen Tagen werden sie nicht mehr so auffällig von den alten Männern beäugt. Bei einem abendlichen Spaziergang geraten sie in eine Hochzeitsgesellschaft, die sie sofort mitnimmt. Sie müssen die ganze Nacht feiern und tanzen, Erika wird gnadenlos vollgequatscht, es ist wohl allen egal, dass sie nichts versteht. Die ausgelassene Stimmung der Leute ist ansteckend und die vielen Leckereien, die aufgetragen werden, muss Erika alle probieren. Mitten in der Nacht tänzeln die Zwei zurück zu ihrem Haus, sie haben keinerlei Bedenken, die Insel wirkt so paradiesisch, Gewalt und Gefahr sind hier unvorstellbar.
 Alle Nachbarsfrauen haben sich angewöhnt kleine Teller mit Essen vorbeizubringen, die Zwei sind wohl die Resteesser der Insel geworden. Es gibt aber auch häufige Einladungen zum Abendessen, sie kaufen sich nur Frühstück und Obst, sonst werden sie vom Dorf versorgt. Fatma muss ja eine hervorragende Empfängerin sein. Im Zug und jetzt hier, überall fühlen sich die Leute animiert, sie zu beschenken. Vielleicht ist es, weil sie so dünn ist, vielleicht haben die Frauen Sorge, dass sie verhungert. Fatma ist ja überhaupt die einzige dünne Frau hier. Alle sind richtig dick. Erika wundert sich und ist mit ihrem Figurproblem hier dünn. Fatma erklärt, dass hier ein anderes Schönheitsideal gilt als in Westeuropa. Erika bestaunt die Grazie und das Selbstverständnis der dicken Frauen, die sich in Deutschland verstecken würden, hier aber wunderschön sind.
Erika kann sich allem einfach überlassen. Sie fühlt sich bei Fatma sehr gut aufgehoben, sie braucht sich um nichts zu kümmern, Fatma sagt ihr manchmal, was sie tun muss, sie hält sich daran, alles ist unproblematisch. Sie hat alle ihre Antennen eingefahren, passt auf nichts auf, das ist so entspannt und gelassen, nichts ist anstrengend, dank Fatma. So geht Urlaub. Erika ist still, schaut, macht sich Gedanken und spürt der Zeit nach wie sie vorbeitropft. Auch mit Fatma gibt es viel Stille. Manchmal lässt Erika sich was erklären, manchmal plaudern sie einfach, dann wieder Stille. Fast träge saugen sie wohlig das Leben wie ein sattes Baby an der Mutterbrust. Blau ist der Himmel, blau ist das Meer. Gelb ist die Sonne, gelb ist der Strand. Blau und Gelb brennen sich in Erikas Seele, das Leben, das Dasein, einfach nur da sein.
Sie müssen zurück. Erst noch mal zwei Tage Istanbul, dann der Zug. Diesmal steigen sie mit einer großen Fresstüte von der Großmutter ein. Die Tage im Zug sind natürlich auch wieder anstrengend, aber sie sind auch ein guter Korridor. Abschied nehmen vom Urlaub und sich der Zukunft zu wenden, das machen sie. Mit jedem Kilometer, den der Zug fährt, kommt ihr neues Leben näher. Sie haben keine Angst, aber Respekt. Jetzt sind sie erwachsen, sie müssen ihr Leben in die Hand nehmen, auf eigenen Füssen stehen. Wie wird das alles, in der neuen Stadt, so weit weg von den Eltern, der Familie. Nur sie Zwei, keine Freunde, keine Verwandten, wird das eine Feuerprobe für ihre Freundschaft? Kindheit und Schulzeit sind vorbei, die neue Zeit- das ist ihr ganzes Leben, das da vor ihnen steht. Eine leere Straße, sonnig, schöne Landschaft, aber das Bild hat keine Tiefe. Da ist gleich ein Hügel, der den Blick auf die Zukunft verstellt. Es ist ein Weg ins Ungewisse. Aber sie gehen ihn zu Zweit und erstmal Hand in Hand. Das ist gut. Erika ist nicht beherzt, aber neugierig und mit Fatma an der Hand traut sie sich…


Liebe Leser. Die Geschichte ist hier zu Ende. Ich will was Neues schreiben, habe aber noch nicht angefangen. Es wird wohl dauern. Keine Ahnung, wie lange.

Vielen Dank fürs Lesen. Das war für mich ganz wichtig

Montag, 23. November 2015

roter Mond II

Fatma steht in der Haustür, sie ist ganz schön fertig: „Erika, Mama ist mit dem Staubsauger auf mich losgegangen, mir reichts, ich will da weg!“ Erika ist mitfühlend, aber auch euphorisch, endlich zieht Fatma Konsequenzen, endlich kann Erika was für sie tun. Erika ist gut vernetzt und durch Otto hat sie einige Freunde, die schon eine eigene Wohnung haben. Sie reißt sich am Riemen, sie kann ja schlecht freudig erregt sein, wenn Fatma so kaputt ist. Sie legt das ich-checke-alles-Gesicht auf und geht schon mal im Kopf die Wohnmöglichkeiten durch, noch bevor die weinende Fatma auf ihrem Bett Platz genommen hat. Hier zu Hause ist ja wirklich Platz genug und das wäre für Erika auch das Allerschönste, Fatma hier zu haben, wie eine Schwester. Aber ihr Vater…, dann auch die Mutter, die ja zu Fatma kein herzliches Verhältnis hat, das Wichtigste ist allerdings, sie sind zu nah dran. Erika lässt Fatma erstmal Zeit sich zu beruhigen, Zeit…Zeit gibt es jetzt ja genug, wenn ihre Eltern Fatma nicht mehr drangsalieren, dann haben sie alle Zeit der Welt. Sie entscheiden sich Harald zu fragen, Erika wird das machen, das muss schnell gehen.
Schon am gleichen Abend steht Fatmas Vater vor der Tür. Erika lügt ihm scheinbar entspannt ins Gesicht, sie weiß nichts von Fatma. Er kann ja schlecht das Haus durchsuchen, er muss unverrichteter Dinge wieder gehen, Erika fühlt nichts, es geht ausschließlich darum Fatma zu schützen. Am nächsten Vormittag schwänzen die Beiden die Schule, suchen in Fatmas Wohnung die wichtigen Dinge zusammen und ab geht’s zu Harald, den Wohnungsschlüssel hat Erika schon organisiert. Erika fühlt sich großartig, sie ist wichtig, sie ist die Helferin, sie ist der Checker. Sie verbringt viel Zeit bei Fatma, in ihrem neuen Domizil. Fatma hat kein eigenes Zimmer, sie muss im Wohnzimmer schlafen, kein Rückzugsraum, keine Privatsphäre, in dieser Umgebung muss sie ihr Abi machen. Erika weiß, dass das schwierige Umstände sind, sie versucht was sie kann, um es Fatma leichter zu machen. Gleichzeitig genießt sie Fatmas neue Freiheit, Fatma kommt jetzt nicht mehr zu ihr, das ist zu nah an ihren Eltern, aber sie wohnt jetzt mitten in der Stadt, Erika geht gerne hin. Sie hören Haralds Musik durch. Da ist lustigerweise viel deutsches Zeug, aber gar nicht schlecht. Georg Danzer gefällt beiden, Fatma geht auf Billy Joel ab, es gibt auch viele Klassikplatten. Sie hören Strawinsky, Fatma findet den Feuervogel toll, Erika die Psalmenmusik.
 Der Edeka ist gegenüber der Schule, dort kaufen sie ein bevor sie zu Fatma gehen. Sie haben gerade bezahlt, als Acar den Laden betritt. Alle Drei sind überrascht. Fatma ist wie paralysiert, Erika kann das  in ihrem Gesicht sehen. Auch der Körper, die Bewegungen sind völlig verlangsamt, das Gesicht bewegungslos, scheinbar schielt sie. Fatma schafft jetzt gar nichts, das erkennt Erika sofort. Der Vater stürzt nach dem Schreck-Moment auf Fatma zu, Erika stellt sich vor sie und baut so Abstand zwischen den Beiden auf. Acar versucht an Erika vorbeizukommen, Erika lässt das nicht zu, Fatma schafft es hinter Erika zu bleiben. Die Drei machen eine Art Tanz in der Eingangszone des Edekas. Erika ist mit voller Kraft auf Fatmas Vater konzentriert. Sie sagt kein Wort, aber innerlich schreit sie: du-kommst-hier-nicht-vorbei-! Der Vater verlegt sich aufs Schimpfen, auf Türkisch, Erika versteht kein Wort, aber sie wird schon entspannter, der Vater hat aufgegeben. Fatma hat sich noch nicht gefangen, Erika schirmt sie weiter ab und schickt sie jetzt raus, sie soll gehen. Sie weiß jetzt, Acar wird hier keine Gewalt anwenden. Als Fatma draußen ist, wendet Acar sich dem Drehkreuz zu, Erika wartet noch einen Moment, dann geht sie auch. Sie treffen sich in Haralds Wohnung. Beide verlieren kein Wort über das Erlebte.
Erika ist mitfühlend und fühlt sich so wohl in ihrer Rolle. Sie ist so wunderbar wichtig, Fatmas Dasein hängt an Erika. Das Geld für Fatmas Leben kommt aus der kleinen Vase in Erikas Zimmer, also von ihrem Vater. Erika fühlt sich groß, großartig, es ist so symbiotisch, der Mond ist rund und voll. So soll es eigentlich für immer bleiben. Sie will gar keine Dankbarkeit, sie tut alles, damit Fatma sich nicht abhängig fühlt, aber sie weiß nicht, wie erfolgreich sie dabei ist, sie sprechen nicht darüber. Fatma hält alles einfach aus, wie es ihr dabei geht, sagt sie nicht. Wann immer Zeit ist, fahren die Zwei weg. Fatma hat immer Lust dazu, das ist wohl auch ein Weg der Situation in Haralds Wohnzimmer zu entrinnen. Sie fahren übers Wochenende zu Freunden von Erika, nach Göttingen zum Beispiel, in den Ferien fahren sie weiter weg, alles finanziert der Vater über die Vase. In den Pfingstferien, vor ihrem mündlichen Abitur, fahren sie nach Südtirol. Sie bekommen Unterkunft in dem Gasthaus von Peters Eltern. Was für eine unfassbare Situation. Mit Fatma an der Seite schafft Erika es, nochmal an diese schreckliche Geschichte heranzugehen. Sie freunden sich mit der ganzen Familie an, außer Peter, sie helfen in der Küche, brauchen die Unterkunft nicht zu bezahlen. Mit einem älteren Bruder von Peter verstehen sie sich richtig gut, gehen abends mit ihm aus. Dann fahren sie schnell mal nach Hause und machen ihr Abitur fertig. Fatma kriegt das ganz gut hin, Erika ist beeindruckt, wie zielstrebig Fatma immer noch sein konnte, Erikas Abi ist die schlimmste Hängepartie aller Zeiten, aber sie hat den Wisch, Scheiß drauf. Bis zur offiziellen Abi-Feier fahren sie wieder nach Südtirol. Sie werden in diesem Jahr insgesamt vier Mal in Südtirol sein, sie werden sich so eng mit der Familie anfreunden, dass sie auch abends im Wohnzimmer sitzen werden. Sie werden im November dort sein, wenn die Gegend für Touristen schon geschlossen ist, wenn der Landstrich Winterschlaf hält, so ruhig und ausgestorben, wie man es sich niemals hätte vorstellen können. Dann wird das Wohnzimmer wohlig warm vom Kachelofen beheizt sein und alle werden ganz viel Zeit haben. Erika wird mit Fatmas Unterstützung  in dieser Zeit zu dieser immer noch offenen Wunde zurückkehren können. Obwohl Peter kaum anzutreffen ist, kann sie daran arbeiten, Fatma hält ihr dabei die Hand. Naja, arbeiten ist wohl ein bisschen hochgegriffen, aber sie ist konfrontiert, sie sieht ihn manchmal, kann ein paar Worte mit ihm wechseln und so. Sie fühlt sich immer noch ganz stark zu ihm hingezogen, aber sie hält das unterm Deckel. Später wird sie mal ein Bild von ihrem jungen Vater sehen und feststellen, dass Peter wie er aussieht. Diese Familie zu erleben ist auch interessant. Die Leute sind herzlich und nett zu Fatma und Erika, aber sie sind auch so gut miteinander. Die meisten der sieben Kinder sind schon erwachsen und ausgezogen, aber alle sind sehr präsent. Der Vater ist Alkoholiker, hat schon einen großen Gasthof versoffen und ist auf dem besten Weg den restlichen Besitz auch noch auszutrinken. Erika spürt aber keine Wut, oder Verzweiflung, eher so ein „es ist wie es ist“ und alle versuchen das Beste daraus zu machen. Sie sind einfach in Liebe verbunden. Erika würde sich gerne für immer in diesem Nest einrichten und die Wärme dieser großen Mutter genießen.
Zurück in ihrem Kaff planen Fatma und Erika ihre Zukunft. Die Vielzahl an Möglichkeiten ist fast lähmend. Mit dem Studienführer in der Hand versuchen sie eine engere Auswahl zu finden. Fatma will Geschichte studieren, Erika weiß eigentlich gar nichts, naja, sie will mit Fatma zusammen ihre Zukunft planen und sie will ganz weit weg. Ihr Vater soll nicht mehr nach ihr greifen können und ihre Mutter soll großes Heiopei um sie machen, wenn sie doch mal nach Hause kommt. Sie entscheiden sich für eine Stadt in einer Ecke Deutschlands, dort fahren sie hin, um sich das mal anzuschauen. Sie sehen eine lebensgroße Puppenstube, alles ist so nett, adrett und aufgeräumt, sehr niedlich. Sie schreiben sich ein, damit wäre das entschieden und sie können sich wieder der Freizeit zuwenden. Fatma will arbeiten und Geld verdienen, nachvollziehbar, also macht Erika das auch. Sie kriegt einen Job als Zimmermädchen in einem renommierten Hotel in Hannover. Erika ist schockiert, Lohnarbeit, sie spürt das Joch so schwer. Ihre Freizeit könnte sie mit Heulen zubringen, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit muss, diese Fremdbestimmung, das ist wie Knast. Mit Hängen und Würgen schafft sie sechs Wochen, das Geld ist viel zu wenig für den Stress, den sie hatte. Den Betrag könnte sie in einer Woche aus des Vaters Geldbörse hervorzaubern.
Die restliche Zeit, bis sie in der neuen Stadt ihr neues Leben beginnen wollen, fahren sie in die Türkei. In München steigen sie in den Zug, das ist für einige Tage ihr neues Zuhause. Glücklicherweise wird Erika mit Fatma eigentlich nie langweilig. Sie sind ja so schlecht auf diese Fahrt vorbereitet, sie haben gar keinen Proviant dabei, schon in Österreich stehen sie auf dem Schlauch, Erika fragt sich was wohl in Jugoslawien und Bulgarien sein wird, ihr Wasserfläschchen ist auch schon leer. Erika würde gerne ihre Turnschuhe ausziehen, aber wegen ihrer Käsefüße traut sie sich das nicht. In ihrem Abteil sitzen noch einige komische Kerle aus Köln, die lachen sich andauernd über Witze kaputt, die nicht witzig sind und trinken Bier. Draußen ist es schon dunkel, es gibt nichts mehr zu sehen, Fatma hat das Abteil verlassen, Erika fühlt sich verlassen. Das muss sie jetzt so aushalten, tagelang muss sie aushalten, auf ihrem Arsch sitzen und warten, dass sie irgendwann in Istanbul ankommt, bis dahin: aushalten. Fatma holt Erika ab und führt sie einige Abteile weiter. Dort sitzt eine türkische Familie, sie werden herzlich empfangen. Ein Picknick ist ausgebreitet: kalte Buletten, Gemüse, Brot, Joghurt, Wasser und Saft. Fatma übersetzt kurz: „wir sollen uns reichlich bedienen, es ist genug da!“ Dann unterhält sie sich wieder angeregt mit der Frau. Erika lässt sich das nicht zweimal sagen, alles schmeckt wunderbar. Beim Essen hört sie der fremden Sprache zu, versucht ein freundliches Gesicht zu machen, lächelt, wenn sie angelächelt wird. So fühlt sich die Zugfahrt schon besser an und so bleibt es auch. Fatma organisiert alle Mahlzeiten, sie werden rund und satt in Istanbul aus dem Zug steigen. Oft stehen sie auf dem Flur und unterhalten sich, in ihr Abteil kehren sie eigentlich nur zum Schlafen zurück. Das geht dann wie die Ölsardinen, so nah an fremden Männern, schwer zu ertragen. Mitten in der Nacht wacht Erika von schrecklichen Schmerzen auf, ein bulgarischer Zollbeamter hat ihr mit dem Griff seiner Pistole auf den Knöchel geschlagen. Sie versteht. Sie soll ihre Schuhe ausziehen. Der Bulgare schützt die Polster des deutschen Zuges, vielen Dank. An der türkischen Grenze bleibt der Zug lange stehen. Zollbeamte laufen hin und her, Fatma und Erika werden herausgebeten. Sie sitzen im Bahnhofsgebäude bei einem Herren zum Tee. Erika versteht wieder gar nichts, trinkt ihren Tee und fragt sich, was wohl jetzt wieder abgeht. Fatma unterhält sich mit dem Mann, es gibt noch mehr Tee, völlig unklar ist, wann dieser Zug wohl weiterfahren wird. Erika macht sich Sorgen, dass der Zug ohne sie abfahren könnte, aber Fatma beruhigt sie schnell, ihr Gesprächspartner entscheidet hier alles, sie werden schon rechtzeitig ihren Tee austrinken. Erika spürt bei Fatma, dass die Situation nicht entspannt ist, so sitzt sie ruhig da, hat alle Antennen ausgefahren, beobachtet unauffällig den Mann, der eigentlich ganz freundlich wirkt. Erika ist erleichtert, als sie wieder zum Zug geführt werden, der sich bald in Bewegung setzt. Fatma erläutert die Situation: der Mann wollte sie aushorchen, aber Fatma hat das gut gemeistert. Erika sagt dazu nichts, aber sie fragt sich mal wieder, ob Fatma vielleicht manchmal ein bisschen paranoid ist. Möglicherweise hatte der Mann Lust sich mitten in der Nacht mit einer gutaussehenden jungen Türkin zu unterhalten.

 Am hellen Vormittag fahren in diese fremde Stadt hinein, Fatma ist ganz schön aufgedreht und zeigt ständig auf Sehenswertes aus dem Fenster.

Samstag, 14. November 2015

Der rote Mond Treffer...versenkt

Otto feiert wieder…sehr gut. Das wird bestimmt wieder super. Erika hat nichts anderes vor, deswegen ist sie schon mittags nach Hannover gefahren, um Otto bei den Vorbereitungen zu helfen. Sie lungert in Ottos WG herum, von Vorfreude erfüllt, so gefällt ihr das Leben. Die Vorfreude kleidet ihren Hohlkörper aus, wenn sie nach innen horcht klingt der Ton angenehm. Sie inspiziert das Zimmer in dem sie später übernachten soll. Eine Mitbewohnerin von Otto ist nicht zu Hause. Erika schaut sich alles genau an, sie ist neugierig, ja, aber es ist mehr, sie will eintauchen in dieses fremde Leben. Sie berührt Nippes, liest alte Ansichtskarten, die an Bücher angelehnt sind, blättert in den Zeitschriften, die herumliegen. Es ist noch viel Zeit, bis die ersten Leute kommen, also fängt sie ein Buch an, Gruppenbild mit Dame. Das liest sich ganz schön langweilig, aber was man von Böll so mitkriegt scheint der ja ganz gut drauf zu sein, so links und so, also kämpft sie sich durch die Seiten, er müsste doch was zu sagen haben.
Otto holt sie in sein Zimmer, das ist eine willkommene Abwechslung, er will mit ihr reden, sie soll die Tür schließen, spannend, was hat er denn? Hinter seinem Schreibtisch verschanzt redet ungewohnt leise. „Pass auf Erika! Ich möchte, dass du dich heute mal anders benimmst als sonst. Du willst immer im Mittelpunkt stehen, das hier ist aber meine Party, deswegen steht dir diese Rolle keineswegs zu. Du machst das jedesmal und das geht mir gehörig auf den Wecker, und nicht nur mir, gestern hat Willy zu mir gesagt, na, wird sich deine Schwester wieder in die Mitte spielen und die Party reißen? So geht das nicht, Erika! Heute benimmst du dich mal, oder das war die letzte Party bei der du dabei bist.“ Erika kann nichts mehr sehen. Alles verschwimmt rot. Sie stottert „ah…eh...ja..ist gut. Eh…, ich weiß nicht…eh…ja mach ich…“ Mit etwas Glück erreicht sie das Zimmer der Mitbewohnerin. Sie weint, sie weint und weint. Noch nie in ihrem Leben hat sie sich so getroffen gefühlt. Sie muss immer weiter weinen und sie schämt sich so.  Nie wieder kann sie dieses Zimmer verlassen, nie wieder kann sie jemandem in die Augen sehen. Die Tränen versiegen, aber sie liegt weiter verwundet auf dem Bett und muss sich den Bauch halten. Otto war so eindringlich und es gibt niemanden, dessen Kritik so treffsicher ist, wie Otto.
 Sie kann sich überhaupt nicht erinnern jemals im Mittelpunkt gewesen zu sein. Was hat sie denn mit Mittelpunkt zu tun? Sie wird doch immer einfach gar nicht wahrgenommen, seit ihrer Kindheit muss sie darum kämpfen, dass sie nicht vergessen wird, immer fühlt sie sich wie ein hässlicher Regenschirm, der gerne bei Gelegenheit mal stehen gelassen wird. Aber sie schämt sich so und sie fühlt sich so getroffen und gleichzeitig versteht sie die Welt nicht mehr. Die Kritik ist nicht an ihr vorbeigeglitten, oder abgeprallt, nein, das war Treffer-versenkt. So fühlt es sich an, aber sie kann es nicht sehen, wo immer sie in ihrer Erinnerung schaut, sie findet sich nicht im Mittelpunkt. Andererseits muss sie sich eingestehen, dass die Bühne eine leckere Verheißung ist. Die Phantasie, dass sie da oben steht und unten alle an ihren Lippen hängen, ja… das ist warm und süss. Sie fühlt sich getroffen, kann dieses Zimmer nie wieder verlassen, tja, da muss wohl was sein. Das ist eine komische Situation: sie muss jetzt ein Verhalten vermeiden, von dem sie nicht weiß, dass sie es tut

Thomas wäre jetzt die absolute Unterstützung. Wenn der käme, dann könnte sie sich einfach an ihm festhalten. Mit ihm könnte sie vielleicht darüber reden. Aber er hat ihr ja kürzlich auch eine reingewischt. Daran wollte sie eigentlich überhaupt nicht denken. Thomas…so eine Scheiße…
Er ist nach Bremen gezogen, das ist jetzt nicht so schlimm, ist ja nicht so weit weg. Er hat dort mit einer Frau eine 2-er WG aufgemacht. Erika hat ihn dort schon mehrfach besucht. Das letzte Mal, als sie reingestürmt kam und ihm um den Hals gefallen ist, hat er sich ziemlich rabiat von ihr losgemacht und ihr gesagt, dass das jetzt nicht mehr geht, dass er mit der Alten jetzt zusammen ist… „Erika, lass das, das geht jetzt nicht mehr, ich liebe dich nicht mehr, ich bin jetzt mit ihr zusammen…“

Ich liebe dich nicht mehr

Wie…was…warum…Was hat sie denn da wieder verpasst? Diese wunderbare Freundschaft, und er hat sie geliebt und sie hat das einfach nicht kapiert? Und jetzt ist es vorbei?


Was für ein Verlust! Nein, an Thomas kann sie jetzt nicht denken. Das ist zu schmerzhaft, sie ist ja sowieso schon so fertig wegen Otto. Hat sich die ganze Welt gegen sie verschworen? Wann wird sie diese Scheiß-Welt eigentlich mal verstehen und ihren ewigen Dreisprung von Fettnapf zu Fettnapf lassen. Wird es eine Zeit geben, wo sie souverän durch die Welt spaziert, die Dinge versteht, die sie sieht und einfach entspannt ihren Weg geht? Anpassung ist weiterhin unmöglich. Lieber sterben als klein bei geben. Sie hat nichts gegen diese Normalos, aber es kann nicht sein, dass das was andere denken mögen, ihr Dasein bestimmt. Sie will auf jeden Fall weiterhin ihren Impulsen folgen, sie könnte gar nicht argumentieren, warum das so einen Stellenwert bei ihr hat, völlig egal, es bleibt dabei. Die Handbremse! Sie muss jetzt eine Handbremse einrichten! Otto hat sie ins Mark getroffen, eigentlich versteht sie da einiges nicht, aber doch: Handbremse. Wenn sie ordentlich angeschickert ist…und in diese wunderbare Energie kommt…wo das Leben, der Zustand, die Party einfach nur geil ist, sie sich selbst unfassbar inspirierend und lustig findet…da muss es sein! Da muss die Handbremse angezogen werden. Sie kann sich so gar nicht von außen sehen, aber doch, irgendwie ist sie sicher, dass Otto das meint. Da muss die Bremse rein, wie Schade, auch ein Verlust

Samstag, 7. November 2015

Das Muttertier benzinblau


Was will ich nicht alles sein, für meine Tochter. Wenn ich meine Ansprüche an mich da anschaue, bekomme ich Kopfschmerzen. Ich schaue auf ein riesiges Knäuel, die Enden sind versteckt, das Knäuel verstellt mir den Blick. Also gut: Kopfschmerzen und erst mal ein loses Ende ausfindig machen.
Ich will perfekt sein. Das ist klar, aber auch abgegessen. Perfektion ist ausgeschlossen, wer perfekt sein will zerfranzt sich in seinen Ansprüchen an sich selbst. Klar soweit, aber wenn ich den Wollball anschaue, dann steht da doch schon wieder Perfektion drauf. Ich bin von mir selbst genervt (nicht hilfreich!) und wische den Begriff beiseite, suche weiter nach einem Ende. Ich will eine gute Mutter sein, was will ich da? Für sie da sein, wenn sie mich braucht. Unaufdringlich. Was ist mit meinen Bedürfnissen? Irgendwie sollen die in den Hintergrund, aber ich kann mich in der Beziehung ja nicht unterdrücken, das geht wahrscheinlich nicht gut, das Unterdrückte bleibt wohl trotzdem anwesend. Meine Bedürfnisse: ich will das Band nicht loslassen. Ich bin ambivalent, ich finde es toll, dass sie auf eigenen Füssen steht, ihr Leben in die Hand nimmt, von mir endlich völlig unabhängig ist. Es gibt aber auch einen Teil in mir, der sich entmachtet fühlt. Meine zunächst schützende, mütterliche Hand ist mit einem endgültigen Plopp aus ihrer Lebenshülle entfernt worden. Die Beziehung bleibt die Gleiche, ich bleibe Mutter, will gar nicht Freundin sein, inhaltlich gibt es die Veränderung. Das mütterliche Band, das Nährende, das Schützende, das jahrzehntelang wie eine verlängerte Nabelschnur gewirkt hat, ist durchschnitten. Es hat mein Leben ausgemacht, mein Sein geprägt. Jetzt muss ich mich dringend davon verabschieden. Meine Hand reicht nicht mehr in fremdes Leben hinein, meine allmächtigen Flügel sind gestutzt, ich kann und muss mich nur noch um mich selbst kümmern. Dieses Zurückgeworfen sein auf mich selbst ist schmerzlich, weil es wenig ist. Mein eigenes Sein war mir lange Zeit nicht so wichtig wie Ihres. Nun bin ich auf dieses kleine Leben reduziert. Ich will es mir wieder groß machen. Es gibt das Sprichwort: der Wunsch ist der Vater des Gedanken. Hier zeigt sich mein Problem: ich bin bei Wünschen und Gedanken, wo ich nicht hinkomme sind die Gefühle und da ist das Knäuel. Meine Gedanken können mit dem Leben mithalten, ich bin meistens bereit Veränderungen wahrzunehmen und meine Schlüsse daraus zu ziehen. Das Andere, meine Seele, mein Bauch, mein Herz, wo immer ich das ansiedeln will, meine Gefühle, sind so träge, das hinkt so hinterher, einbeinig auf einer Krücke. Immer wieder muss ich diese traurige Einbeinige einsammeln, trösten und mitnehmen. Sie muss beachtet werden, anders komme ich keinen Schritt voran, aber sie humpelt leise und unauffällig am Straßenrand, sie ruft nicht mal Hallo, oder so. Immer wieder übersehe ich sie, brause mit meinem hochnäsigen Gedanken-Porsche laut an ihr vorbei, doch die tollste Hirnakrobatik hilft mir nichts, ich muss doch zurück und sie einsammeln. Und jedes Mal von Neuem, muss ich sie einsammeln. Immer wieder zurück zu meiner Traurigkeit, den Verlust spüren: ich bin nicht mehr mächtig, ich bin nicht mehr wichtig. Alle Beziehung, die wir jetzt haben ist ohne Geschichte. Es ist gar nicht die große Angst das Kind zu verlieren. Ich glaube fest daran, dass wir eine schöne, freundliche, freudvolle Beziehung zueinander aufbauen können oder schon haben. Aber ich muss mich halt von dieser alten Allmachtsphantasie verabschieden und das immer wieder, Bröckchen für Bröckchen. Also lege ich den Rückwärtsgang ein, hole sie ab, doch sie fährt nur einige Meter mit mir, legt einen kleinen Brocken auf das Armaturenbrett und verlässt meinen Hirn-Porsche ohne dass ich es merke. Wie oft muss ich noch rückwärts, wie kann ich sie überreden, dass sie da bleibt, die einbeinige, traurige Alte?
Das ist das Knäuel, jetzt sind wenigstens meine Kopfschmerzen weg, aber ich frage mich, wie viele Kapitel über das Muttertier ich wohl noch schreiben muss, bis das Knäuel mir nicht mehr den Blick versperrt?

Doch, doch, natürlich, eine Beziehung mit Geschichte, mit der Geschichte von einer Nabelschnur, die aber schon durchgeschnitten ist. Eine Herkunft, in Liebe verbunden, aber keine Schuld und keine Macht, sondern freiwillige Entscheidung für die Verbindung. So ungefähr könnte es hinter dem Knäuel aussehen, stelle ich mir vor. Schön wär das. Aber ich muss mich wohl erst mit der flüchtigen Alten anfreunden, bevor ich den freien Blick auf meine erwachsene Tochter bekomme. Ich scharre schon wieder mit den Hufen, …ruhig Brauner…, Geduld ist erste Bürgerpflicht. Immer wieder sage ich mir: sei geduldig und großzügig mit dir selbst. Jetzt auch.

Montag, 2. November 2015

Der rote Mond Sie kommt zurück

Sie kommt zurück! Vier Monate war sie weg, vor einigen Tagen hatten sie mal wieder telefoniert, da hat ihre Mutter ihr gesagt, dass sie zurück kommt. Erika hat das überhaupt nicht verstanden. Sie hatte ihre Mutter einige Male in Köln besucht. Schon beim ersten Besuch war auffällig, wie gut es ihrer Mutter dort geht, sie sah so gut und zufrieden aus. Damals war Muttertag und auf dem Tisch stand ein riesiger Strauß Baccara Rosen, vom  Vater natürlich, Fleurop. Erika hat sich sehr abfällig über ihren Vater und sein Bemühen geäußert, ihre Mutter hat nichts dazu gesagt. Nach kurzer Zeit hatte ihre Mutter sogar Arbeit in ihrem alten Beruf. Erika war ganz schön stolz auf sie und obwohl sie ihr zu Hause so sehr fehlte, hat sie sich über ihre Entwicklung gefreut.
„Warum willst wiederkommen, es geht dir doch gut dort?“ Erika war fassungslos über die Entscheidung ihrer Mutter. „Vater hat versprochen, dass er sich ändert.“ Erika hat noch nie erlebt, dass er irgendwas ändert, so gesehen ist er verlässlich, immer die gleiche Scheisse. „Und du glaubst ihm das?“ Erika wundert sich sehr über ihre Mutter, die weiß doch eigentlich noch mehr über ihn. „Ja, ich glaube ihm!“ Na dann mach mal, denkt Erika. „Tja, Mutter, dann komm nach Hause, ich freue mich.“ Wenige Tage später ist die Mutter wieder da. Erika freut sich sehr, ihre Mutter hat ihr schmerzlich gefehlt. Das Abiturjahr fängt bald an und es ist schon gut, wenn alles wieder beim Alten ist. Die Mutter ist nachmittags angekommen, abends, der Vater ist schon schlafen gegangen, dreht Erika in ihrem Zimmer die Musik auf und macht sich fertig zum Ausgehen. Die Mutter kommt rein: „Mach die Musik leise, Vater schläft. Wo willst du denn jetzt noch hin?“ Fragt sie, als sie sieht, dass Erika sich die Schuhe anzieht. „Mutter! Misch dich nicht ein! Was willst du jetzt? Wir sind hier gut klargekommen und ich gehe jetzt in die Kneipe.“ Erst jetzt merkt Erika, was in den letzten Monaten alles passiert ist. Sie hat sich abgenabelt von ihrer Mutter, vielleicht nicht vollständig, aber doch soweit, dass sie ihrer Mutter jetzt diese Antwort hinschmiert, sie zur Seite schiebt und einfach aus dem Haus geht.
Auf dem Weg in die Kneipe wundert sie sich. Da scheint soviel passiert zu sein, in ihr… und sie hat das nicht gemerkt. In der Kneipe holt sie sich ein Bier und ist zum ersten Mal froh, dass sie alleine sitzt. Sie muss nachdenken, sie muss diese Veränderung nachvollziehen. Sie war von der Unabhängigkeit der Reaktion ihrer Mutter gegenüber völlig überrascht. Sie war doch immer so liebevoll, so harmoniebedacht. Ja, Erika hat sich an ihrer Mutter immer so festgehalten und damit ihrer Mutter auch Halt gegeben. Anscheinend kann Erika jetzt besser alleine stehen. Aber eigentlich ist es doch unnötig ihre Mutter gleich am ersten Abend so zurückzuweisen…sind da doch auch Rachegefühle, weil sie sie so alleine gelassen hat? Und mit diesem Suizidversuch wollte ihre Mutter sie ja auch allein lassen… das fällt ihr gerade zum ersten Mal auf… das ist doch eigentlich ganz schön egoistisch.
Ihr Thomas kommt zur Tür rein, noch einige Freunde im Schlepptau. Sie holen an der Theke einen Stiefel Altbier und kommen zu Erika an den Tisch. Eigentlich ist das so sehr nach Erikas Geschmack, Thomas weiß schon genau, was Erika sich von ihm wünscht. Sie fühlt sich zugehörig, alle kommen zu ihr, die ganze Kneipe sieht das, dass fünf gutaussehende Jungs zu IHR an den Tisch gehen. Stiefel trinken ist darauf ausgelegt ganz schnell betrunken zu werden. Wer den vorletzten Schluck trinkt, muss den nächsten Stiefel bezahlen. Außerdem ist es ziemlich lustig, weil man sich gerne mal dabei mit Bier besudelt. Normalerweise wäre diese Situation also ein Fest für Erika. Die Zugehörigkeit zu diesen coolen Typen, die alle schon studieren. Als einziges Mädchen mit am Tisch sitzen, keine weibliche Konkurrenz, sie kann sich probieren und auch mal ein bisschen mit den Augen plinkern, was sie sich sonst selten traut. Alle saufen wie die Löcher, das macht sie ja auch gerne. Aber sie muss ihre Gedanken verstauen, an einer Stelle wo sie sie bald wiederfinden kann. Sie mag sich davon im Moment nicht lösen. Das erschien ihr gerade so wichtig, so erhellend, sie war mittendrin, jetzt muss sie umschalten auf sinnloses Gequatsche, Gejohle und Gekicher. Am liebsten würde sie sagen: „setzt euch woanders hin, ich muss noch ein bisschen allein sein und nachdenken, ich komme gleich zu euch.“ Aber das macht sie nicht, sie meint, sie müsse Thomas` Offerte mit offenen Armen empfangen, sonst würde sie ihm nicht gerecht. Sowas in der Art. Sie hat keine Zeit das jetzt genau auseinander zu klamüsern. Wenn Thomas so sehr ihre Sehnsüchte erfüllt, dann muss sie da sofort und unbedingt drauf einsteigen.

Aber diese Gedanken waren so ungewohnt und spannend. Rache war noch nie Thema, ihrer Mutter gegenüber und egoistisch…? Ihre Mutter ist doch Altruismus pur. Das muss in eine Schublade, die jederzeit wieder aufgeht, aber schnell jetzt, sie hat ja schon den Stiefel in der Hand, seeliges Vergessen ist angesagt.

Sonntag, 25. Oktober 2015

Der rote Mond Vater und Tochter


Das ist eine komische Zeit, danach. Erika ist hauptsächlich damit beschäftigt aufrecht zu bleiben. Die Situation in der Schule, zum Beispiel, ist schwierig. Erika verschläft ständig, ihre Mutter hatte eben immer dafür gesorgt, dass sie aufsteht. Ihr Klassenlehrer ist großzügig und mitfühlend, warum weiß er davon? Erika hat Nachwehen von ihrer Krankheit, sie kann sich nicht konzentrieren, sie stottert ein bisschen.
 Einmal will sie zu einer Fete nach Göttingen, übers Wochenende. Sie fragt ihren Vater um Erlaubnis, er sagt nein. Jetzt muss sie ja dableiben, danach fragt sie ihn nie wieder. Sie macht einfach, was sie will, das ist das Übliche: manchmal wegfahren, viel ausgehen und so. Manchmal kauft sie ein, oder macht Essen für sich und ihren Vater. Das sind seltene Momente, wenn sie mit ihrem Vater zusammen sitzt, sie sich unterhalten, richtig freundlich, eigentlich zauberhaft. Da sind Chancen, aber Erika nimmt sie nicht auf. Ihr Vater ist abhängig von ihr, er ist sich dessen bewusst, deswegen ist er freundlich, Erika kapiert das nicht, sie weiß schon von seiner Abhängigkeit, fühlt ihre Macht, aber die Chance, die das birgt, kann sie nicht sehen. Fürsorglich ist sie nicht, das sind nur seltene Anfälle bei ihr. Sie lässt ihren Vater am langen Arm verhungern. Otto kommt oft. Er kümmert sich, sonst hätte man den Vater wohl irgendwann als vertrocknete Mumie in seinem Büro aufgefunden. Abends ist sie selten zu Hause, der Vater geht früh schlafen, Erika aus Prinzip nicht. Ihr Vater hat Albträume, er schläft im Zimmer neben ihr. Sie hört ihn laut schreien: „Ich sehe dich, du Dieb! Raus aus meinem Haus, ich habe eine Waffe…“ Erika läuft zu ihrem Vater ins Zimmer. Er liegt zitternd im Bett, mit geschlossenen Augen, heftig am ganzen Körper vor Angst schlotternd schreit er immer noch den Dieb an. Jetzt ist Erika voller Mitgefühl, sie fasst seine Hand und redet beruhigend auf ihn ein. Ihr Vater wird davon nicht wach, aber sein Traum verändert sich offensichtlich, sein Schimpfen wird leiser, das Schlottern weniger. Erika streichelt weiter seine Hand und redet beruhigenden Blödsinn. Ihr Vater brummt noch einige Male, dann dreht er sich um, seufzt und schläft ruhig weiter. Erika geht zurück in ihr Zimmer und wundert sich über ihre Macht. Nein, es ist nicht die Macht, über die sie sich wundert, die Macht ist ihr klar. Sie war so mitfühlend und sie konnte ihren Vater eben lieb haben, das ist das Verwunderliche, aber sowas will sie nicht spüren, sie schließt das ein, in eine kleine Schublade, den Schlüssel schmeißt sie ins Klo.
Bald sind Sommerferien. Erika und Fatma wollen zusammen nach Frankreich. Einfach los, mit dem Daumen im Wind. Erika plant das, sie war im letzten Sommer mit ihrem Cousin so unterwegs, das ging ganz gut, jetzt soll es mit Fatma sein, das wird super. Sie fahren zusammen nach Hannover, Fatma braucht einige Sachen für so eine Reise. Erika ist die richtige Spezialistin dafür: sie kann gut klauen, macht es schon lange, ist noch nie erwischt worden und fühlt sich großartig mit dieser Fähigkeit. Als erstes trägt Erika einen großen Rucksack aus einem Geschäft. In den folgenden Läden steckt Erika Isomatte, Schlafsack und andere nützliche Gegenstände ein. Vor dem Laden wird alles in den Rucksack umgefüllt , den Fatma geschultert hat und ab geht es in das nächste Kaufhaus. Fatma trägt den Rucksack wie ein Ackergaul durch Hannovers Innenstadt, sie macht dazu die entsprechenden Geräusche, bläst die Wangen auf und lässt ihre Lippen aufeinander flattern. Erika könnte sich wegschmeißen. Fatma überrascht sie oft mit ihrem Witz, eigentlich meint Erika, dass sie für alles Witzige zuständig ist. Aber das ist natürlich Unsinn. Hier findet sich eine weitere Besonderheit ihrer Freundschaft: die Rollen sind nicht so fest fixiert. Als letztes, die Kür sozusagen, kommen noch einige hübsche Sommersachen in den Sack und dann fahren sie wieder nach Hause. Die beiden sitzen aufgekratzt in dem Zug und reden über den bevorstehenden Urlaub. Sie sind beide schon 18, wer soll ihnen noch was verbieten. Ein Meilenstein, Fatmas Ausrüstung, ist abgearbeitet, sie haben kein Geld ausgegeben, abgesehen vom Fahrpreis für den Bummelzug. Sie fühlen sich großartig und kichern die ganze Fahrt über.

Wenige Tage später ist es soweit, sie wollen los. Fatma ist nicht rechtzeitig da, das ist ärgerlich, aber typisch, Verabredungen mit Fatma sind… sagen wir… flexibel! Erika wischt den aufkommenden Ärger beiseite und geht eben rüber zu Fatma. Sie findet Fatma noch im Bett. Sie sieht schlecht aus. „Papa hat  gestern Abend auf mich eingeschlagen, mit einem Schuh hat er mich verprügelt. Erika! Ich habe Blut gespuckt!“ Jetzt sieht Erika die Blutflecken auf Fatmas Bettdecke. Ihr Ärger über Fatmas Unpünktlichkeit weicht unbändigem Hass auf Fatmas Vater. Wie kann ein Mann sowas seiner eigenen Tochter antun?! Eigentlich möchte Erika Fatma überreden trotzdem mit ihr loszufahren. Erika hat sich sosehr auf die Fahrt gefreut. Die Enttäuschung, die sie jetzt empfindet ist riesig und die Vorstellung, die Ferien zu Hause zu verbringen, ist trostlos. Aber sie schiebt ihre Gefühle beiseite, ihre Freundin braucht sie jetzt. Der Rest ist nicht wichtig

Samstag, 17. Oktober 2015

Der rote Mond Persistierende Einsamkeit


 Erika hatte doch so erfolgreich gebastelt: aus ihrer kleinen Schaukel über dem Abgrund ist ein gut geflochtenes Netz geworden. Es sieht so aus, als könne sie waghalsige Sprünge machen, so wie Artisten am Ende ihres Hochseilakts, wenn sie zum letzten Sprung in das Netz ausholen. Doch ab und an passiert noch das Andere. Wenn sie allein ist, mit sich nichts anfangen kann, Stille kommt erschwerend dazu: dann schmiert sie ab. Der alte, erschreckende Köpper ist immer noch da. Da scheint es kein Entrinnen zu geben. Ihr Leben ist so laut, sie hat Freunde, viele Freunde, sie hat Fatma, die ihr soviel Halt gibt, sie hat eine große Familie- naja, die sind doch meistens nicht da, auch wenn sie körperlich anwesend sind. Sie rennt in Kneipen, ist bei jeder Feier dabei, auch wenn sie nicht eingeladen ist und doch ist das immer noch möglich.
Sie kommt langsam ins Rutschen, dann tut sich der Abgrund auf: es ist eine glatte Fläche, steil bergab, keine Unebenheit, sie möchte um Hilfe schreien, aber sie hat einen trockenen Keks im Mund, an den Krümeln wird sie ersticken, wenn sie ruft. Sie gleitet ohnmächtig in den Abgrund. Sie kommt an in einem dunklen Raum. Sie steht da, gefangen und bewegungsunfähig, sie kann keine Wände oder Grenzen ausmachen, sie kann gar nichts machen. Da ist nur Schrecken. Sie würde gerne fliehen, aber sie kann sich nicht rühren, sie ist ohnmächtig vor Erschrecken, dass sie hier wieder gelandet ist.


In diesem Zustand kann sie keinen Kontakt aufnehmen. Am ehesten noch zur Welt. Wenn es ein verhangener Herbsttag ist, die Wolken so tief hängen, dass sie fast den Boden berühren, wenn die Feuchtigkeit steht, wie ein kalter Umhang, ruhig, als würde alles immer so bleiben, dann kann sie sich mit der Welt zusammen fühlen. Wenn es aber ein klarer Tag ist, wohlmöglich keine Wolke am Himmel, stahlblau, weit weg und endlos, dann fühlt sie sich so verloren. Sie geht verloren in der Weite. Überall geht sie verloren, auch in ihren Träumen, auch in den Märchen aus ihrer Kindheit. Der Held zieht aus ans Ende der Welt. Was ist am Ende der Welt? Sie kippt runter ins Nichts. Ist sie da nicht gerade? Ist das wirklich ein dunkler Raum, ohne Wände, oder ist sie in diesem undefinierten Nichts gelandet, ein blinder weißer Zustand. Kontakt ist unmöglich, das Telefon hat keine Funktion. Sie kann auch nicht zu Fatma rübergehen, das ist unvorstellbar in diesem Dasein, sie kann sich nicht vermitteln, sie ist bloß und nackt, so kann sie nicht aus dem Haus, das ihr keine Sicherheit gibt, sondern Teil des Abgrunds ist. Was geht ist fernsehen. Laute Ablenkung kann helfen. Aber wenn das Programm nichts hergibt und sie in ihrer Not „Robi, Tobi und das Fliwatüt“ schaut, dann wird nach 20 Minuten alles noch schlimmer. Wie auch immer, wenn sie den Fernseher ausstellt ist sie immer noch dort. Es ist nur entsetzlich, sie kann sich da nicht einrichten. Sie kann nicht erkennen, dass der Abgrund ein großer Teil von ihr ist. Sie fühlt sich zwar nicht fremd hier, aber es bleibt unwillkommen und Flucht ist der einzige Impuls, aber leider nicht möglich. Inzwischen ist ihr Denken ihrem Fühlen hier runter nachgefolgt. Damit sind Handlungsansätze verfügbar. Sie geht ins Bad und sucht sich eine Rasierklinge von ihrem Vater. Ängstlich und zögernd versenkt sie die Klinge in ihrer Haut am linken Handgelenk. Es brennt, das ist aber nicht das Einzige, was sie hindert weiter zu schneiden. Sie ist feige, sie ist ängstlich. Sie erinnert sich, wie sie als Kind zur Küchenschublade gegangen ist. In der offenen Lade betrachtete sie die großen Messer. Sie überlegte, welches Messer sie sich in das Herz rammen würde. Das Bild war ihre trauernde, reuige Familie rund um ihr Grab. Sie wollte ihre Liebe sehen. Sie wollte sehen, dass sie wichtig ist. Ist das jetzt anders? Sie würde ihrer Verlorenheit gerne Ausdruck geben. Aber sie ist gar nicht definitiv Lebensmüde, sie will immer noch eigentlich nur sehen, dass sie wichtig ist. Wenn sie jetzt richtig schneidet, was sie sich wahrscheinlich gar nicht traut, das ganze Gedöns, das könnte auch peinlich enden. Also bleibt es bei dem kleinen Schnittchen, zwei Tropfen Blut fallen ins Waschbecken, die bewundert sie eine Weile, dann sucht sie sich ein Pflaster. Musik könnte helfen. Das Gezupfe von Andreas Vollenweider, das legt sie jetzt auf. Die Musik passt und passt nicht. Da hört sie soviel Lebensfreude, soviel Anteil an der schönen Welt. Sie steht hier in dem vertrauten Wohnzimmer, jetzt kann sie ein paar Tränchen rausdrücken, aber das ist auch nicht das Richtige. Das Gefühl ist nicht zu beweinen und es gibt auch keinen Trost. Das Schlimme ist, dass alles sich ganz schlimm anfühlt, aber irgendwie so unklar ist. Deswegen kann ihr ihr Verstand auch so wenig helfen. Hach…schwierig. Was bleibt? Sie geht aus dem Haus, spazieren. Hoffentlich sind nicht allzu viele Menschen unterwegs, sie ist immer noch nicht bereit für Begegnungen. Aber wie so oft braucht sie ein bisschen Bewegung um ihr Gemüt zu beruhigen. Den Boden unter den Füssen bei jedem Schritt wahrnehmen, die Luft spüren, die Welt hören. Sie ist da, sie spürt ihre Fingernägel in ihren Handflächen, sie spürt die Frische der Welt, sie sieht wie die Wolken orange werden. Der Abend…, bis zu ihrem Lebensabend ist wohl noch lang. Sie geht jetzt einfach mal und bestaunt die so bekannte Welt und vielleicht sieht sie sogar was Neues und vielleicht kann sie nachher, wenn sie zurückkommt, noch bei Fatma reinschauen.

Sonntag, 11. Oktober 2015

Der rote Mond Der Tag X


Otto ist schon seit längerer Zeit ausgezogen, er lebt in Hannover. Er ist nicht verloren, er kommt häufig vorbei, aber im Alltag ist sie allein mit den beiden Alten, Scheintoten, Untoten, es ist so trostlos. Hier, beim Mittagessen, streiten die Zwei. Es geht um Erikas Führerschein, Erika spricht ja schon lange nicht mit ihrem Vater, sie überlässt es ihrer Mutter für ihre Interessen zu streiten. Erika spürt ihre Feigheit, will das aber nicht wahrhaben, also hört sie lieber interessiert zu, wie ihre Mutter ihre Interessen vertritt. Der Streit verläuft in den üblichen Bahnen, die Zwei offenbaren ihre Lieblosigkeit zueinander, es wird um Prinzipien gestritten, das Geld ist ja da.
Plötzlich ist Erika berührt, es gibt keinen besonderen Anlass, Erika war schon hundertmal dabei, wenn ihre Eltern streiten, aber jetzt ist sie schockiert. „Das ist ja furchtbar, wie ihr Zwei miteinander umgeht!“ Sagt sie mit brüchiger Stimme und vom Entsetzen verzerrtem Gesicht, während sie vom Mittagstisch vorzeitig aufsteht um in ihr Zimmer zu rennen. Heulend schlägt sie die Tür zu, macht laut Musik an, setzt sich auf ihr Bett und überlässt sich ihren Gefühlen. Sie ist noch ganz mit sich, vordergründig mit ihren Eltern, beschäftigt, haltlos weinend, als ihre Mutter hereinkommt. Die Mutter schreit gegen die Musik an „Kind, was ist denn, was ist denn los?“ „Ich weiß auch nicht, das macht mich gerade so fertig, wie ihr miteinander redet…“ schreit Erika und macht endlich die Musik leiser. Sie weint weiter laut schluchzend, die Situation wird absurd, die Mutter fängt auch an zu weinen, beide weinen aus Mitgefühl mit der Anderen. „Was bin ich für eine schlechte Mutter, dass ich meine Tochter nicht trösten kann.“ Erika meint dass es hier nicht mehr weitergeht, sie sagt: „lass mal, Mutter, ich fahr zu meinem Freund.“ So beendet Erika die Situation und verlässt das Haus. Ihre Mutter wird sich zum Mittagsschlaf hinlegen, wie es ihre Gewohnheit ist.
Bei ihrem Freund kann Erika die Sache mit ihren Eltern schnell beiseite schieben. Nicht, weil sie ihrem Freund so zugetan ist, sondern, weil es dort so lebendig ist. Die Familie sitzt noch beim Mittagessen als sie dort ankommt. Ihr Freund hat jüngere Geschwister, Erika setzt sich dazu, alle reden freundlich miteinander. Später räumen alle zusammen die Küche auf, Erika will sich einreihen, bekommt aber keine Aufgabe, sie steht nutzlos im Türrahmen und schaut dem Treiben zu. Ihr Freund ist ganz nett, naja, solala, sie nennt das Beziehung, eigentlich ist das nur eine Bekanntschaft. Das ist schon bezeichnend, wie sie da im Türrahmen steht: die Familie lässt sie nicht richtig rein, auch ihre Beziehung geht nicht richtig ab, sie kommen nicht in die Tiefe, in Erikas Kopf schlummert die Frage, wie sehr das wohl an ihr liegt. Das Telefon klingelt, erstaunlicherweise ist es für Erika. Verwundert nimmt Erika den Hörer. Es ist Corinna: „Erika! Deine Mutter hat Tabletten geschluckt und ist auf dem Weg ins Krankenhaus, komm mal nach Hause!“
Ihr Freund hat ein Mofa. Erika hängt mit einer Hand an seiner Schulter die andere Hand am Lenker. So kommt sie mit ihrem Fahrrad schnell und ohne Anstrengung nach Hause. Den ganzen Weg über redet sie laut mit sich selbst: „das Schwein…“, „der Arsch“, „so ein Arschloch“

SIE GIBT IHREM VATER ALLE SCHULD

Zuhause wartet Corinna und erzählt ihr alles was sie weiß. Der Vater wollte um halb drei Kaffee trinken, aber die Mutter war nicht auf. Er ging zu ihrem Zimmer, aber es war abgeschlossen. Also klopfte er und sagte ihr durch die Tür, dass es Kaffeezeit ist und sie jetzt aufstehen muss. Da sie nicht reagierte, klopfte und rief er immer lauter. Erikas Vater bleibt dran, bei was immer er tut. Er klopfte und rief; und rief und schimpfte und klopfte; und er hätte wohl auf seine alten Tage auch noch die Tür eingetreten, aber das war nicht nötig. Die Mutter stand irgendwann auf und öffnete, legte sich aber gleich wieder hin. Der Vater sah die vielen leeren Tabletten Schachteln und rief gleich den Krankenwagen. Corinna hat aus ihrem Fenster den Krankenwagen gesehen und ist gleich rübergerannt um zu schauen, was los ist. Jetzt geht sie wieder nach Hause, der Vater ist mit ins Krankenhaus gefahren, Erika ist allein.
Die Brüder kümmern sich, Erika ist mal wieder die Kleine, sie fährt auch einmal mit ins Krankenhaus, aber sie muss abseits warten, während ihr ältester Bruder mit der Mutter spricht. Die Mutter verschwindet direkt aus dem Krankenhaus nach Köln, zu ihrer Schwester. Dort bleibt sie. Manches wird Erika erzählt, den Rest puzzelt sie sich alleine zusammen. Sie kommt der Wahrheit wahrscheinlich recht nah: Die Mutter hat sich zum Mittagsschlaf hingelegt, wie es ihre Gewohnheit ist. Aber sie war in einem ungewohnten Zustand. Sie haderte mit sich und ihrem Leben. „Was bin ich für eine schlechte Mutter, dass ich meine Tochter nicht trösten kann…“ Damit ist sie allein in ihr Zimmer gegangen und da hat sie weitergemacht, hart mit sich im Gericht, untröstlich. Das Leben vertan, nichts richtig gemacht, eine Aneinanderreihung falscher Entscheidungen…und so weiter. Irgendwann hat sie ihre Schlaftabletten zusammen gesucht und alles geschluckt was da war….und dann kam der Vater und hat geklopft…


Das ist jetzt ein neues Leben: Vater und Tochter allein in einem großen Haus. Nach kurzer Zeit wird Erika krank, Gehirnhautentzündung, sie kommt ins Krankenhaus, dort bleibt sie erst mal für drei Wochen. So löst man keine Probleme, aber es ist ein Aufschub. Sie kommt zurück in die gleiche Situation, sie ist allein mit ihrem Vater

Montag, 5. Oktober 2015

Roter Mond


Fatma und Erika, Erika schaut sich das gerne an. Da gibt es doch diese Geschichte von Aristoteles, oder war es Platon? Egal. Der Mensch, ursprünglich als Kreis, dann zerbrach er und nun sind die zwei Teile immer auf der Suche nacheinander. Fatma und Erika haben sich gefunden! Erika fühlt sich rund und voll, wenn sie an Fatma denkt, oder mit ihr zusammen ist. Die Unterschiede sind auch so faszinierend, Fatmas Herkunft, ihre Eltern, da gibt es viel zu bedenken. Erika hat eine ganz eigene Philosophie über Menschen: sie sind ein Puzzle. Da gibt es die Kinderpuzzle mit 100 Teilen, da gibt es die Tausender, die sind die Regel und es gibt Zehntausender. Sie  hält sich für ein 10000 er, Fatma ist ganz sicher einer und Erika puzzelt gerne. Jede noch so kleine Information, die sie von Fatma bekommt, wird zum Puzzlestein und vielleicht schon einsortiert. Erika kann die großen Löcher in dem Bild gut aushalten und hat viele Steine am Rand liegen.
Eva, die Mutter, der Hammer! Sie ist engstirnig, irgendwie kleingeistig, dabei trotzdem lebensklug. Wie das geht versteht Erika nicht, sie ist immer wieder verblüfft von Eva. Eigentlich findet sie Eva ja doof und dann muss sie doch anerkennend zurücktreten um Eva Platz zu machen. Diese Energie, so lebensfreudig, Eva baut ihren Weg mit Kopfsteinpflaster. Sie ist emsig dabei, schaut zuweilen stolz auf das Erreichte, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, geht sie beherzt an.  Der Vater, er sieht aus wie der 1a-Türke: dunkle Haare, großer, dunkler Schnurrbart, drahtig, samstags liegt er unter seinem 200er- Bauern-Mercedes, um ihn in Schuss zu halten. Er ist sehr zugeschlossen, Erika kann sich nur ein Bild von ihm machen, weil Fatma von ihm erzählt und sie hört das Gezänk, sein türkischer Bass dröhnt zwischen den schrillen Tönen von Eva. „Mama sagt, Sex ist das Wichtigste in einer Ehe.“ Der Satz ist von Fatma und verwirrt Erika noch mehr. Das sind doch alte Leute, warum haben die noch Sex und wie geht das mit dem vielen Streit. Dann ist da noch die Gewalt. Fatma wird gezüchtigt, wenn sie sich nicht fügt. Fatma hat einen unglaublichen Willen und bietet ihrem Vater immer wieder die Stirn, nimmt die Züchtigung in Kauf. Wenn Fatma Erika ihre Blessuren zeigt, spürt Erika nur Hass. Sie will Fatma schützen, fühlt Ohnmacht und schimpft endlos. Erika versucht Beistand zu leisten, indem sie Fatmas Eltern klein macht, sich herablassend über sie äußert, oder einfach Hasstiraden loslässt. Fatma lässt Erika labern, vielleicht tut ihr das gerade gut.

Oft hört Erika auch Stolz aus Fatmas Worten über ihre Eltern. Ja, es ist schon irgendwie nachvollziehbar, dass Fatma auf ihren Vater stolz ist. Er hat sich voll etabliert in der Gesellschaft, man könnte denken, er hat sich angepasst. Studium in Deutschland, guter Job, viele Freunde, die Ehefrau, die er liebt, zwei Kinder, die weitgehend auf der Spur sind. Soweit sieht das sehr gut aus. Dabei ist er aber auch er selbst geblieben und geht seinen eigenen, gut überlegten Weg zwischen Orient und Okzident. Die Gewalt an Fatma hindert Erika das zu bewundern. Acar pickt aus beiden Kulturen das für ihn Richtige heraus und lebt damit sein Leben. Fatma kann das an ihrem Vater sehen und anerkennen. Sie ist stolz auf ihn. Sie ist auch stolz auf ihre Mutter, auf deren Klugheit. Erika meint ja, dass Evas Gehirn höchstens die Größe einer Walnuss hat, manchmal stimmt Fatma ihr da zu und manchmal äußert sie sich eben doch stolz über ihre Mutter. Fatmas Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt, Fatma ist auch in Deutschland geboren. Dann haben sie aber doch erstmal einige Jahre in Istanbul gelebt. Erika mag das sehr, wenn Fatma von dieser fremden Welt erzählt. Eva hat damals mit ihrer Familie bei den Schwiegereltern im Haus gelebt. Das ist eine von Evas großen Stärken: aus widrigen Umständen das Beste machen, sich einfinden in ein System, in einer fremden Kultur. Sieben Jahre lang waren sie in Istanbul und es ist Eva zu verdanken, dass Fatma dann in Deutschland direkt ins Gymnasium gekommen ist. Sie hat Fatma gezwungen jeden Abend in der deutschen Fibel zu lesen.
Da ist aber nicht nur Stolz, Fatma ist mit ihren Eltern in Liebe verbunden und sie ist natürlich auch ein junges Mädchen, das in Deutschland heranwächst, ganz normal pubertär. Sie hat  Mittel und Wege gefunden, ihre Eltern zu leimen, wie mit den Kaffeebohnen, zum Beispiel. Ihr Familienleben spielt sich auf einem hohen Energielevel ab.
Erika vergleicht.
Die Energie bei ihr Zuhause scheint deutlich weniger, irgendwie ist alles viel subtiler. Ob subtil der richtige Ausdruck dafür ist? Oder ist es sublim? Oder einfach alt? Erikas Vater könnte Acars Vater sein, Erikas Vater ist einfach alt. Wenn die großen Brüder manchmal Geschichten erzählen, wie der Vater sich früher aufgeführt hat, dann ist Erika schon ganz zufrieden, dass er inzwischen einen schweren Herzinfarkt hatte und sich nicht mehr so aufregen darf.
 Sonntags, nach dem Mittagessen, passiert es, dass Alle sitzenbleiben müssen, weil der Vater von früher erzählen will. Erika kann diese Geschichten nicht interessiert anhören, weil sie sich so gezwungen fühlt. Er war als junger Mensch ein Draufgänger, amüsiersüchtig, lebenslustig. Von dieser Zeit, noch vor dem zweiten Weltkrieg, erzählt er gern. Wie sie damals, bevor sie zum Trinken und Feiern los wollten, erstmal eine Dose Ölsardinen aufgemacht haben. Nachdem sie die Ölsardinen gegessen haben, haben sie das Öl getrunken, nur damit sie mehr und länger trinken können. Wie sie in Friedrichshagen unterwegs waren, Köpenick unsicher gemacht haben, solche Geschichten. Wenn Erika mit ihrer Mutter einen alten Film im Fernsehen anschaut, dann sagt die Mutter manchmal: „guck mal, mit der Schauspielerin war dein Vater mal zusammen.“ Er war ein Hans Dampf in allen Gassen. Dann kamen die Nazizeit und der Krieg. Die Geschichten von der Zeit sind irgendwie schemenhaft. Er war wohl in Jugoslawien, hat da Fabriken gebaut. Für wen? Für die kroatischen Nazis? Da war doch auch Krieg, Kollaborateure, Widerständler, auch dort wurden Juden ausgerottet. Erika guckt mit ihren Eltern „Holocaust“ im Fernsehen. Der Vater scheint schockiert, er hat von alldem nichts gewusst, er war doch im Balkan. Die Mutter sagt „ja, ja.“ Erika kann sich keinen Reim darauf machen. Eine Auseinandersetzung geht anders, welche Rolle hatte ihr Vater? Kann er wirklich so unwissend gewesen sein, oder will er etwas für sich behalten? Erikas Interesse für ihren Vater ist so gering, dass sie nicht nachhakt.
Dann doch lieber die Mutter. Das kann Erika gut gebrauchen. Die Mutter ist ja protestantische Pastorentochter, bekennende Kirche, christlicher Widerstand. Das ist eine Herkunft, auf die kann Erika sehr stolz sein, aber ihre Mutter hindert sie daran und spricht von der allgemeinen, deutschen Schuld. Erika darf nicht aufs Podest und sich rühmen, aber so im Nebensatz kann sie das schon mal erwähnen, Bonhoeffer und so. Die Mutter ist sehr eindringlich: „wir alle tragen die Schuld.“ Das Thema ist für Erika besonders wichtig, immer wieder denkt sie darüber nach. Wie konnte das passieren? Welche Position würde sie einnehmen, wenn sowas wäre, würde sie „Heil Hitler“ brüllen? Sie träumt davon, dass sie im Widerstand wäre, das ist ja auch der Kontext aus dem sie kommt, aber sicher ist sie sich nicht. Der Holocaust, das ist ein Thema, das sie ganz nah an sich heranlässt. Da muss man hinspüren, meint sie, vielleicht ist es doch zu groß für sie, zum Spüren. Jedenfalls ist sie ganz und gar betroffen und ganz stolz auf ihre Herkunft, ihre Mutter, ihren Großvater, den sie nie kennengelernt hat, der aber auf dem Photo so ernst und freundlich aussieht.

Natürlich macht Fatmas Beziehung zu ihren Eltern einen Teil des Puzzles aus, an dem Erika bastelt. Bemerkenswert ist, wie viele unterschiedliche Gefühle Fatma zu ihren Eltern hat, sie gibt Erika immer wieder neue Steine in die Hand. Erika bastelt, gleichzeitig ist sie bemüht Fatma das nicht merken zu lassen, Fatma möchte nicht durchschaut werden, vom Durchschauen ist Erika allerdings noch weit entfernt und wird dieses Bestreben auch irgendwann aufgeben. Erika will sehen, sie will eine aufmerksame Zuhörerin sein, sie will Fatma einen guten Spiegel zeigen, das Bild soll Fatma nicht zu sehr reduzieren. Fatma ist ja wild, das findet Erika toll, manchmal aber auch beängstigend. Mit Kritik muss sie sehr vorsichtig sein. Dazu hat sie sich was Gutes überlegt, das klappt bisher hervorragend: wenn sie Fatma etwas über sie sagen will, was vielleicht nicht so toll ist, dann schickt sie viel Anerkennung voraus. Sie sagt also zum Beispiel: „weißt du, Fatma, was ich gut an dir finde, ist 1. blabla… außerdem 2. blabla… und dann kommt noch dazu , dass du 3. blabla… Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass deine ….blabla…vielleicht nicht so gut ist. So schützt Erika sich und wird gleichzeitig ihrem Anspruch an sich gerecht. Sie will eine gute Freundin sein, das hat viele Aspekte. Einer davon ist Ehrlichkeit, dass man auch mal was Negatives sagt, Kritik übt. Aber Erika hat auch Angst vor der wilden Indianerin mit dem Giftpfeilköcher, die in Fatma immer mal durchscheint. Die Pfeile dürfen schon gerne mal abgeschossen werden, aber bitte nicht auf Erika. Also balsamiert sie Fatma fett ein, bevor sie ihr Kritiklein abgibt. Fatma nimmt das so gerne hin, sie suhlt sich in der fetten Anerkennung und hat gleichzeitig die Ohren offen, um die Kritik noch zu hören. Sie fühlt sich nicht angegriffen, die Waffen ruhen, sie fragt nach und setzt sich mit Erika und ihrer Kritik auseinander.
Fatma und Erika haben unendlich viele Themen, das Gespräch ist eigentlich nie langweilig. Sie reden zum Beispiel gerne über Philosophie, Erika mag das sehr. Fatma hat Geschichte Leistungskurs, da wurden die griechischen Philosophen sehr ausgebreitet. Erika hat nur ganz privates Wissen über Philosophie, einfach weil sie gerne über das Leben nachdenkt, auch über die Menschen und warum wohl alles so ist, wie es ist. Dabei hat sie natürlich kein einziges Buch in die Hand genommen. Ohne den Begriff zu kennen, diskutiert sie den kategorischen Imperativ, das Moralkonzept aus ihrer Muttermilch. Fatma kann ihr angelesenes Wissen unaufdringlich erläutern, so kommen griechische und preußische Philosophie in den Vergleich. Das Thema macht beiden immer wieder Spaß. Auch über die neue deutsche Geschichte reden die Zwei. Bei diesem Thema wird Erika sehr emotional, ihre Herkunft, ihre Betroffenheit, sie diskutiert sehr eindringlich. „Wir sind verantwortlich, dass sowas nie wieder passiert. Fatma, sechs Millionen Juden wurden in Europa ausgerottet, das ist doch unfassbar…und alle behaupten, sie hätten davon nichts gewusst. Alle haben sich schön eingerichtet in dem System, warum sind sie nicht an ihre innere moralische Grenze gestoßen, wenn nebenan die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden? Nein, sie haben das Haus noch schnell zum Vorzugspreis gekauft! Innere Verrohung als Gemeinschaftsprojekt! Was waren das für Mechanismen, die da gewirkt haben? Aus aufrichtigen Menschen sind Kakerlaken geworden, die sich gegenseitig auffressen. Das Alles macht mich so fertig und ich stecke in der Schuld fest.“
 „Dann mach dich doch frei von der Schuld! Du hast damit doch gar nichts zu tun. Es geht doch darum, sich im Jetzt umzuschauen und darauf zu achten, dass sowas nicht wieder passiert, wie du eben ja selbst schon gesagt hast!“
„Nein! Wir müssen da ganz genau hinschauen: was ist passiert, wie konnte das passieren. Keine Distanz! Juden wurden ja schon vorher jahrhundertelang diskriminiert, da wurde von den Nazis ein Weg geteert, der schon lange ausgetreten war. Wie ist eigentlich meine innere Einstellung gegenüber Fremden? Muss ich da was überprüfen? Wir müssen uns in das Thema versenken, richtig einlassen; und immer mit der Schuld ganz vorne, um Distanzierungen zu vermeiden. Ich bin schuldig!“
Fatmas Gesicht verändert sich zu einer angewiderten Fratze: „Du gehst mir so auf den Keks mit deiner Schuld. Und im nächsten Moment schreist du –nicht schuldig- weil du dich zu deiner tollen bekennenden Kirche zurückziehst. Du drehst dir das alles immer hübsch zurecht, wie es für dich gerade passt. Lass mich in Ruhe mit der Scheiße!“
Erika läuft davon. Sie muss Weinen. Sie schwingt sich aufs Fahrrad und fährt weinend durch das Viertel, der Weg ist egal, sie braucht die Bewegung, sie braucht Entfernung vom Tatort. Fatma hat mit der Armbrust auf sie geschossen. Erika fühlt sich schwer verletzt und doch im Recht, weinend klagt sie Fatma hier auf dem Fahrrad an. Fatma versteht das alles nicht richtig! Sie ist ja nur zur Hälfte Deutsche, sie muss die Schuld nicht so schwer tragen, weil sie sich auf ihr Türkisch sein zurückziehen kann. Das ist keine Entlastung, sondern erklärt nur ihr Unverständnis. Ok! Was war denn mit ihrem deutschen Opa? Vielleicht ist das der Grund für den Schuss! Aber da wird Erika besser mal nicht nachfragen. Fatma ist so ungerecht, warum ist sie sooo verletzend? Vielleicht hat sie sich von Erika in die Enge getrieben gefühlt, oder hat Erika das mit der Schuld wirklich zu sehr geritten? Erika ist inzwischen auf leeren Feldwegen außerhalb der Stadt unterwegs. Der Wind trocknet die Tränen auf ihren Wangen. Plötzlich ist sie empfänglich für die Schönheit der Gegend. Raps und grüner Roggen, oder was für Getreide mag das sein? Schwarz-weiße Kühe auf fetten Wiesen, ein D-Zug nach Bremen rattert an ihr vorbei, dann ist es wieder friedlich, nur der Wind rauscht in ihren Ohren. Sie radelt weiter und hört zu, wie ihr innerer Dialog ruhiger wird. Sie hört Fatmas Erklärungen für den Ausraster. Die Wunde heilt, aber es wird eine Narbe bleiben. Wie wird sich Erika weiter verhalten? Sie wird sich weiter bemühen, dass Fatma friedfertig bleibt, aber sie wird sich dabei keinesfalls verbiegen. Nun ja, sie braucht nicht gleich morgen wieder mit Fatma über den Holocaust zu reden, aber vielleicht irgendwann. Dann vielleicht mit zitternden Knien, aber das ist ja egal. Sie mag Fatma, so wie sie ist. Es gibt diese gegenseitige Anerkennung, auch der Unterschiedlichkeiten. Einmal sagte Fatma: „Erika, du bist harmoniesüchtig.“ Das war eine gute Information für Erika, da war keine Wertung, einfach die Information. Fatma liebt Erika mit ihrer Harmoniesucht, Erika liebt Fatma mit ihrem Zorn.


Samstag, 26. September 2015

Der rote Mond Der Tanzkreisel

Mit Thomas, das ist einfach schön. Er hat Zeit für sie, er ist amüsant, er interessiert sich für sie. Sie ist zwar anfangs noch unsicher, aber er badet sie in Öl und sie kann immer mehr loslassen. Sie hält sich an Silke H.  „Wenn er dein Freund wäre…“ Sie will nichts riskieren, unterdrückt also konsequent ihren Beziehungswunsch und verhält sich nur freundschaftlich. Auf dieser Ebene kann sie sich sehr einlassen und er macht es ihr so leicht. Er hat immer Zeit für sie, ist immer liebevoll und akzeptiert alles, was sie von sich zugibt. Er sitzt auch ganz oft abends in der Kneipe, wenn sie kommt. Also auch dort wird er zum sicheren Hafen für sie. Er ebnet ihr den Weg, wenn er da ist, kann sie alle Sorgen über Bord schmeißen und ihre Freiheit genießen: einfach rauslassen, ohne zu überlegen! Ok. Genau, das ist ein Teil ihrer Freiheit: einfach agieren und sich selber dabei zuschauen, der Zensor ist im Keller eingesperrt. So ist Thomas, diese wunderbaren braunen Augen, so warm.

Nachmittags hören sie Musik bei ihm und unterhalten sich. Das ist meistens nicht besonders tiefschürfend, das Interesse gilt der Musik. Thomas unterrichtet sie in Musik, aber sie empfindet das nicht als Unterricht. Sie hören zusammen die Musik an, er macht sie auf besondere Beats oder Gitarrensoli aufmerksam, sie sagt was ihr gefällt. Dann mischt er ihr eine Kassette zusammen, die sie mitnimmt und zu Hause anhört, bis sie Bandsalat produziert. Er schult ihr Ohr, die Musik wird immer komplizierter. Sie merkt, dass er ihren Geschmack akzeptiert, trotzdem sagt sie ihm nicht, dass sie sich die Platte von Mothers Finest gekauft hat. Baby Love. Das haut rein. Das geht voll in die Beine, nein, in den ganzen Körper, sie kann sich zu dem Rhythmus schütteln wie eine Besessene. Da spürt sie Hingabe ohne Selbstverlust. Diese Musik ist so kraftvoll, so lebensbejahend und dadurch auch so befremdlich. Erika könnte das Lied ewig anhören. Sie spürt, dass ihre Sehnsucht dahingeht, sie möchte einen Mann so lieben, sich so hingeben, das so kraftvoll erleben. Und das macht so ANGST. Darüber möchte sie nicht mit Thomas reden. Also reden sie weiter über Eric Clapton und Steppenwolf, das ist auch interessant. Er erzählt ihr auch vom Kiffen. Sie ist sehr interessiert. Sie möchte ja am liebsten die ganze Welt probiert haben, noch bevor sie 20 ist. Wieder macht er ihr alles ganz angenehm. Sie sitzen bei ihr im Zimmer, er dreht den Joint, angenehme Musik, zu Essen, zu Trinken, er hat an alles gedacht. Sie ist natürlich ein bisschen aufgeregt, oder freudig erregt, auch ängstlich. Bei aller Sicherheit, die er ihr gibt, will sie natürlich immer noch gefallen. Freiheit, ja ja, aber das Gefallen steht weiter im Vordergrund. Drogen assoziiert sie mit Kontrollverlust, aber natürlich ist Thomas der sicherste Hafen, den man sich dafür vorstellen kann, also unterdrückt sie ihre Sorgen und zieht an der Tüte. Der Nachmittag wird super. Sie können sich über alles schlapplachen, es ist so kurzweilig, im Handumdrehen ist es Abend und sie gehen in die Kneipe, um den Rausch mit Bier abzurunden. Vom vielen Lachen hat sich eine grinsende Maske in ihrem Gesicht festgesetzt, die sie jetzt in die Kneipe trägt. Sie fühlt sich wissend und erfahren, sie kennt sich aus mit Drogen.
Erika liest den Steppenwolf von Hesse. Sie will sich bilden, mitreden können, hatte Thomas ihr das Buch empfohlen? Etwas atemlos kämpft sie sich durch die Seiten. Atemlos und gleichzeitig träge gelangweilt. Was ist mit diesem Haller/Wolf? Was will der eigentlich?  Genauso schlau wie vorher klappt sie das Buch am Ende wieder zu. Von eigenen Bildungsimpulsen nimmt sie erstmal wieder Abstand. Sie hat nicht gemerkt, dass sie in dem Buch eigentlich in den Spiegel geschaut hat

Jetzt hat sie doch eigentlich alles beisammen. Aus der Schaukel ist ein Netz geworden. Sie hat die Freunde, die sie will, mit Otto ist sie in guter Verbindung, die Welt könnte in Ordnung sein. Sie traut sich den Köpper in den Abgrund, sie weiß, da ist ein gutes Netz, das ihren Sprung sanft auffängt. Aber sie bleibt verhaftet in ihren Strukturen. Es bleibt dieses unstillbare Sehnen. Sie macht immer wieder neue Leute ausfindig, wo sie um Anerkennung kämpfen muss. Sie findet neue Gipfel, die sie erklimmen muss, immer sieht sie sich in einer Unzufriedenheit, im Mangel.

Ihre Beziehung zu Fatma hat sich sehr angenehm entwickelt. Erika ist sehr vertrauensvoll und hat den Eindruck, dass Fatma ein gutes Gespür für sie hat. Fatma selbst ist auch so lebenshungrig, dabei aber nicht so gierig wie Erika. Fatma hat zu vielem Lust: Kiffen, Ausgehen, neue Leute, neue Länder. Bei all dem aber, kennt sie ihr Maß und bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Eigentlich ist sie der Pflock und Erika der Gaul. Das Bild ist zu lustlos. Fatma ist die Sonne und Erika der Planet. Jedenfalls umkreist Erika Fatma, die geerdet ist und ziemlich klar ihren Weg geht. Fatma lässt sich von Erika gerne mitreißen, Möglichkeiten eröffnen, Horizonte verschieben, aber sie weiß immer was ihr guttut. Erika weiß das nicht, wie ein Tanzkreisel, der aus dem Lot ist, eiert sie immer größere Ellipsen, auf der Suche nach Grenzen, die sie nicht akzeptieren wird, durchbrechen will. Für diese Mauern, die sie unbedingt einreißen will, verbraucht sie ihre Energie. Fatma steht ihr bei, in dem Schlamassel, schaut zu, lässt sich unterhalten, sammelt Erika ein, wenn sie zu fertig ist fürs Leben

Samstag, 19. September 2015

Der rote Mond Die Kröte

Fatmas Worte schwingen noch lange in Erika nach. Der Schwerpunkt verschiebt sich langsam. Immer öfter denkt Erika daran, was Fatma über ihr Verhältnis zu Otto gesagt hat. „Otto ist in seiner Anmache beliebig…“ Wie genau Fatma hinschaut! Wenn Erika das Gefühl hat, dass ein Junge auf sie abfährt, dann schnappt sie zu wie eine Kröte. Wenn der nur halbwegs akzeptabel wirkt, dann ist sie dabei. Wie die Kröte trägt sie ihn auch auf dem Rücken, wenn das nötig ist. Aber anders als die Kröte lässt sie sich nicht wirklich ein. Alles Mögliche hindert sie. Äußerlich ist sie Beziehung, allerdings auch meistens nur für zwei bis drei Wochen. Dann ist der Zauber schon wieder vorbei. Der Zauber ist keineswegs zauberhaft. Wie geht Zweisamkeit? Welchen Anforderungen muss Erika da eigentlich gerecht werden? Sie müsste sich öffnen und einlassen. Wie üblich kommt sie gar nicht dazu, darüber nachzudenken. Sie agiert kräftig herum, folgt ihren Eingebungen, alles schmeckt irgendwie schal. Das Bild: „ Erika hat einen Freund“, bleibt schemenhaft. Da war Einer, den hatte sie im Schwimmbad aufgegabelt. Nicht schlecht, der wohnte ein Dorf weiter, hatte sonst mit ihrem Leben gar nichts zu tun. Da konnte sie sich ganz unauffällig probieren. Er wollte ständig ins Bett, Petting. Sie war da nicht lustvoll, sondern nur mit ihrer Scham beschäftigt. Er ja auch, aber sie schämte sich, oder nein, sie konnte die Blöße nicht aushalten. Anstatt darüber zu reden, ging sie einfach nicht mehr hin.

Ein Anderer war aus ihrer Klasse, ein blasser, langhaariger Hungerturm. Sie verbrachten einige Wochen miteinander, da kam nicht viel von ihm. Aber der ließ sich nicht so einfach abschütteln, Erika musste richtig Schluss machen. Das hatte sie noch nie und der Vorsatz allein trieb ihr schon den Schweiß aus den Poren. Die Sache zog sich hin, nur weil Erika es nicht auf die Reihe bekam, ihm zu sagen, dass es aus ist. Wenn sie zu ihm hinging, es ihm zu sagen, ging schon ihr Hals zu. Irgendwann presste sie dann die Worte aus dem zugeschnürten Hals. Es war in der Kneipe, er saß ganz entspannt neben dem Flipper auf dem Fensterbrett.  Die Luft war schnell weg: „Ich mag nicht mehr…ich mach Schluss!“ Die letzten drei Worte versiegten atemlos. Er schnellte vor, machte scheinbar ein bestürztes Gesicht: „was?“ Die Schuld, oder was war es? Erika konnte das nicht aushalten, sie rannte davon. Es dauerte nochmal einige Tage, bis sich herausstellte, dass er ihre Worte einfach akustisch nicht verstanden hatte. Sie musste also noch mal Schluss machen. Beim zweiten Mal ging es dann schon leichter und hat auch geklappt. Langsam dämmerte ihr, dass sie besser nicht alles mitnimmt, schon allein, weil es manchmal schwierig ist, da wieder rauszukommen. Aber natürlich steht sie auf dem Schlauch. Alle ihre Nöte: Anerkennung, geliebt werden, Zweisamkeit und so weiter, könnte sie mit einer Beziehung lindern. Aber eine Beziehung ist nun mal etwas Öffentliches. Wenn sie versucht mit dem „Fremdblick“ auf ihre Jungs zu schauen, dann kann keiner standhalten. Ihr Kerl muss eigentlich so sein, wie ihre Brüder, er muss was hermachen, er muss groß sein, dominant, ein Alpha-Wolf, ein Leittier. So gesehen sind das kleine Fuzzies, peinlich.

 Sie war bei ihrer Tante zu Besuch, in der Nähe von Nürnberg. Der Freund von ihrem Cousin hat sie angebaggert, da hat sie sich eingelassen. Das ist okay, der ist weit weg, das hat einige Vorteile. Es gibt keinen Fremdblick, sie muss sich nicht ständig Verhalten, sie kann sich sehnen. Er schreibt ihr viele Briefe, das ist schön, da fühlt sie sich geliebt, eigentlich. Die Anrede im Brief ist immer „Hallo Engelchen“. Aha. Das hört sich nett an, sie selbst fühlt sich schwerfällig, linkisch und burschikos. Das ist weit weg von „Engelchen“. Aber ein bisschen fühlt sie sich auch geschmeichelt. Und er sieht sie, manchmal mehr als ihr lieb ist. Nürnberg ist ja nun mal näher als Südtirol. Sie schafft es schon öfter mal dahin, auch übers Wochenende. Er holt sie am Bahnhof ab, ja, er ist sehr zugewandt. Schon nach wenigen Minuten, im Auto, sagt er: „was bist du denn schon wieder so kratzbürstig?“ Erstmal ist sie sprachlos, sie wird so sehr gesehen, dass es an Blöße grenzt. Sie kämpft ein bisschen um Kontrolle, dann ist sie noch kratzbürstiger, er lässt das liebevoll über sich ergehen. Noch bevor sie bei ihm zu Hause, oder bei ihrer Tante ankommen, ist sie glücklich. Sie fühlt sich gesehen und akzeptiert. Er kann sie lassen, sie braucht das Zurückweisende, Kratzbürstige, bevor sie sich öffnen kann. Das hat sie aber erst durch ihn erfahren. Er ist heilsam für sie und zu ihren Gefühlen für ihn mischt sich Dankbarkeit.

Da kann sie sich aufhalten, sie übt „Beziehung“ in homöopathischen Dosen. Sie empfindet das als nicht öffentlich und er gibt ihr viel Sicherheit. Unsicher ist immer nur der erste Moment, wenn sie bei ihm im Auto sitzt und konfrontiert ist. Nachher gewöhnt sie sich, sie verbringen einige Tage zusammen und dann fährt sie wieder nach Hause. Daheim kann sie sich sehnen, in ihren Träumereien kann er nichts falsch machen; und diesmal hat sie wirklich einen Freund. Daneben hat sie Zuhause ja immer noch alle Räume offen. Treue ist für sie wirklich ein Fremdwort, das ist ein leerer, bedeutungsloser Begriff. Sie hält die Augen offen. Sie glaubt, dass ihr Herz so groß ist, dass sie mehrere Jungs gleichzeitig lieben könnte. Mit Thomas geht es auch weiter, aber Erika verhält sich freundschaftlich. Das ist sicheres Terrain. Da kennt sie sich aus. Sie kann eine sehr gute Freundin sein.

Samstag, 12. September 2015

Der rote Mond 16.05.79

Der Platz am Schreibtisch, sie guckt aus dem Fenster. Der Blick über die Rasenfläche zur Straße. Wie immer passiert da gar nichts. Sie guckt weiter und streicht gedankenverloren über die Oberfläche ihres Schreibtischs. Innerlich ist sie mit ihrem Absturz ins Bodenlose beschäftigt. Nicht liebenswert, nichts Besonderes, Erika, das unförmige, leere Fass.  Doch heute ist etwas anders. Sie fühlt den Lack auf dem Holz des Schreibtischs. Den Schreibtisch hat Otto ihr zu Weihnachten geschenkt. Es ist ein kleiner, alter Zeichentisch, den der Vater schon vor langer Zeit aus seinem Büro aussortiert hatte. Eigentlich ist es nur eine Holzplatte, die auf einem soliden Bock liegt. Otto hat die Platte lackiert. Erika findet ihren Schreibtisch wunderschön, und wie sie über die Platte streicht, sieht sie Otto beim Herrichten. Sie sieht Otto lackieren und lächeln. Sie sieht, wie er sich drauf freut, ihr eine Freude zu bereiten. Sie kann sein großes Herz sehen. Sie spürt seine Liebe und ihre eigene. In ihrem bodenlosen Absturz ist da plötzlich eine Liane, an der sie sich halten kann. Sie kann kurz verschnaufen und sich orientieren. Fatma! Erika liebt Fatma und sie hofft, dass sie für Fatma wichtig ist. Schwups, da ist die nächste Liane. Aus zwei Lianen kann sie sich eine Schaukel basteln. Sie war schon immer eine Akrobatin. Sie schaukelt über dem gefährlichen Abgrund. Otto und Fatma! Es ist doch alles gut! Auch wenn sie sich in sich selbst verliert, die Beiden, die sie liebt, finden in ihr was, was sie nicht sehen kann. Aber sie kann doch vertrauensvoll sein.
Es ist eine Konstruktion, das ist ihr klar. Aber das ist völlig egal, Hauptsache sie findet Halt in ihrem Absturz. Da muss was sein, auch wenn sie es nicht weiß, wenn die Beiden sie mögen…das reicht doch. Da kann sie entspannt schaukeln.
Otto macht schon wieder eine Party. Heute können sie es ordentlich krachen lassen, die Eltern sind über Nacht außer Haus. Ein lauer Frühlingsabend, die Party steigt nicht im Keller, wie sonst meistens, sondern im Garten. Obwohl es keinen besonderen Anlass gibt, sind wieder alle Freunde und Bekannte anwesend. Es gibt Bier und endlos Wein aus des Vaters Weinkeller, auch über seine Schnapsbar hat der Vater keinen Überblick mehr, die Freunde können sich bedienen. Die Küche ist so voll mit Leuten, dass man kaum noch durchkommt, aber das kennt man ja, alle stehen am Trog. Michael ist mal wieder frühzeitig voll und kotzt ins Waschbecken. Tja, nicht schön, der Abfluss ist verstopft. Ekki rührt mit dem Finger das Erbrochene in den Ausguss, er lächelt und sagt jedem, dass ihm das nichts ausmacht. Glaubwürdig, er will Medizin studieren, da muss er mit Körperflüssigkeiten und sowas auskommen. Erika beteiligt sich ausnahmsweise nicht an der allgemeinen Aufregung. Sie schlendert mit Fatma durch den Garten. Fatma ist bei diesen Gartenfeiern zurückhaltend, ihre Eltern könnten hinter der Gardine stehen und alles beobachten. Erika passt das gut, sie will Fatma sowieso für sich haben, außerdem hat sie heute ein besonderes Anliegen: „du hör mal, Fatma, ich muss dich was fragen! Ich muss jetzt mal genau wissen, wie das ist, mit unserer Freundschaft!“      „Was soll sein, wir sind Freundinnen.“     „Ja, ja. Ist schon klar. Aber Freundin und Freundin ist nicht das Gleiche. Ich will wissen, welche Bedeutung ich für dich habe. Du bist mir wichtig. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, das bedeutet mir viel.“ Erika muss unauffällig dreimal tief atmen, um ihre Aufregung zu kontrollieren. So stellt sie sich einen Heiratsantrag vor. Sie hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt hat sie Angst vor der Antwort. Fatma überlegt nicht lange: „weißt du, Erika, für mich ist unsere Freundschaft was Besonderes, ich kann das aber nicht in Worte fassen.“  Erika pustet. Glück kribbelt durch ihren Körper, aber jetzt ist sie schon dabei, jetzt macht sie das noch zu Ende: „Okay, das ist gut. Jetzt will ich noch wissen, wie das mit Otto ist. Mal kommst du zu mir, mal zu Otto. Wer ist dir wichtiger?“   „Ja, der Otto. Mit Otto, das macht Spaß. Otto ist lustig und das Gekuschel mit ihm ist nett und prickelt angenehm. Aber Otto ist beliebig in seiner Anmache. Er probiert nur so ein bisschen herum, ich fühle mich nicht wirklich gemeint. Dein Bruder ist toll, klar, aber er ist nicht der Typ Mann, auf den ich abfahre. Wir probieren ein bisschen herum mit Körperlichkeit und Nähe, und da ist auch was Eigenes, Otto und Fatma. Aber das steht in keinem Vergleich, zu der Bedeutung, die unsere Freundschaft hat. Du und ich.“   Erika ist still. Sie überlässt sich dem Kribbeln. Fatmas Sätze schwingen angenehm durch ihr Gehirn…du und ich…..kein Vergleich….Das tut gut. Erika schwebt über den Rasen. Das ist auch sowas schönes an Fatma: sie muss nicht quatschen. Sie kann Stille aushalten, oft redet sie nur, wenn sie wirklich was zu sagen hat. Erika kann sinnloses Gequatsche nicht ausstehen. Davon wird ihr manchmal ganz flau im Magen. Erika gibt sich ganz dem Wohlgefühl hin, immer noch lässt sie die süßen Sätze durch ihr Hirn wabern. 16.05.79, vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.               
Beide gehen zurück auf die Terrasse und überlassen sich dem Partygewusel. Da sind genügend interessante Jungs. Erika amüsiert sich großartig, ein wunderbarer Abend. Fatmas Worte haben sich wie Schlagsahne auf ihre Seele geschmiegt.

Als Erika am nächsten Morgen in die Küche kommt, ist Otto schon da und hat schon mit dem Aufräumen begonnen. Wortlos gesellt sich Erika dazu. Sie würde zwar viel lieber ihren Kater pflegen und erstmal in Ruhe frühstücken, aber sie weiß genau, was Otto jetzt von ihr erwartet. Sie setzt Kaffee auf und sammelt leere Flaschen ein. Dabei verschafft sie sich einen Überblick über das Chaos. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schnarcht Michael, sonst sind keine weiteren Schnapsleichen auffindbar. Auf dem grünen Teppich ist ein großer Rotweinfleck, da muss eine Flasche umgefallen sein. Erika holt als erstes Wasser und Salz um dem schon angetrockneten Fleck beizukommen. Alles muss relativ schnell gehen. Gegen Mittag wird Tante Erna hier aufschlagen. Sie kommt immer am Sonntagmittag, sie ist die Schwester vom Vater und liebt es ihn mit Informationen zu versorgen. Wenn bis dahin nicht alles fertig ist, wird sie wortlos den Lappen nehmen und helfen. Das macht einen netten Eindruck, sie ist ja auch nett, aber Otto und Erika wollen unbedingt alle Spuren beseitigen bevor sie kommt. Also Konzentration und Eifer! Mit dem Schädel ist das gar nicht so einfach. Die gröbsten Spuren zuerst, dann die Kreise immer feiner ziehen, kleine Unregelmäßigkeiten können ja schon mal sein. Nach zwei Stunden sieht alles schon ganz gut aus, Erika weiß, dass sie Ottos Anforderungen entsprochen hat, jetzt kann sie sich ganz entspannt der Zweisamkeit mit ihm beim Frühstück hingeben. Was für ein wundervolles Wochenende                                                                                                                                                                                     

Montag, 7. September 2015

Herbstsonate

Ich muss gerade dran denken, wie meinem Kind damals fast etwas zugestoßen wäre. Oh, Mann, das war knapp. Wenn ich daran denke wird mir ganz komisch, Herzklopfen, Druck im Hals, da will was in mir platzen… Naja. Es war ja nichts, die Anderen hatten gut auf sie aufgepasst… ich muss dankbar sein. Die Vorstellung, dass ihr etwas zustößt, ist viel schlimmer, als was immer mir zustoßen kann. Ich möchte ihre Seele einbalsamieren, auch für alles, was ich ihr angetan habe. Unwillentlich, unaufmerksam, getrieben von unguten, unreflektierten Gefühlen. Die eigene Mutter ist der größte Feind des Kindes. Nicht Feind, Antuer. Wenn ich diese These in meinem Freundeskreis aufstelle, besonders bei Müttern, ernte ich keine Anerkennung. Ich werde niedergemacht. Alle gegen Einen. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit mein Statement angemessen auszubreiten, die Empörung ist zu groß.
Und doch, die meisten Narben, die sie hat, werden wohl von mir sein. Wenn sie mal älter ist, stelle ich mir das vor wie bei der „Herbstsonate“, dem Film von Ingmar Bergmann. Ich kann mich gar nicht so genau an den Film erinnern, aber vielleicht wird es auch mal so eine richtige Auseinandersetzung geben. Wohlmöglich bekomme ich dann irgendwas vorgehalten, an das ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann, das sich ihr aber tief eingegraben hat. Ich sollte mir den Film mal wieder anschauen,  ich habe das Equipment nicht, sonst würde ich ihn direkt jetzt einschalten. Vielleicht fände ich ihn strunz langweilig. Wie das so ist, mit alten Filmen, manchmal. Ich erinnere mich jedenfalls, dass meine  Mutter den Film damals furchtbar fand: „hach…schrecklich!“ Das  allein macht mich ganz neugierig. Ist der Film wohl nah an der Wirklichkeit? Meine Mutter hatte es ja nicht so mit der Wirklichkeit, sie liebte die Illusion, fand immer jemanden, der sie ihr bestätigte. Ja, kann sein, der Film war desillusionierend: eine Mutter, die ihr Bestes gibt, alles versucht, und das dann von der Tochter um die Ohren gehauen bekommt. Und warum bin ich da so eifrig neugierig? Ich bilde mir wohl mal wieder ein gut abzuschneiden. „Ach, Mama, du bist doch die Beste!“ Jede Mama, egal was sie macht, ist zeitweilig die beste Mama der Welt. Kinder werden kritiklos geboren, distanzlos auch und eben auch schutzlos. Sie sind ungeschützt ihrer Mutter ausgeliefert. Ich weiß, ich erzähle keine Neuigkeiten, vor Jahrzehnten hat Alice Miller das schon alles geklärt. „Am Anfang war Erziehung“ , ein toller Titel. Jetzt amüsiert es mich, in der Erinnerung, wie sehr sie sich über das vierte Gebot ausgekotzt hat. Danach, viel später, kam dann Hellinger: ohne Wurzeln keine Flügel. Beides finde ich wahr, zusammen ist es wahr. Ich stehe in der Mitte. Ich habe eine Mutter und eine Tochter. Beide Beziehungen versuche ich klar zu sehen. Mit der Mutter scheint es schon ordentlich abgearbeitet. Ich fühlte mich so lange so liebevoll angebunden. Ich war schon einiges über 20 und brauchte auch noch Hilfe von Freundinnen um mal genauer hinzuschauen. Ein Prozess, von dem ich immer noch nicht das Gefühl habe, dass er abgeschlossen ist. Klarheit, über das, was sie mir angetan hat, im besten Gewissen; und gleichzeitig die Drehung zur liebevollen Zuwendung. Ich sehe eine verknorzte Wurzel, das ist eine Turnübung für Schlangenmenschen! Oder ein eineinhalbfacher Rittberger von 10 Meter Turm. Klarheit beim Absprung, dann die Wurzelübung, Eintauchen in der liebevollen Zuwendung. Das unfassbar Traurige ist, meine Mutter lebt zwar noch, ist aber nicht mehr erreichbar, jedenfalls nicht für solche Gespräche. Ich bleibe mit all dem für mich. Ich kann sie auch mit meiner Liebe nicht mehr finden, oder ich kann meine Liebe kaum noch finden. Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum: Wir saßen hoch über dem Meer, schauten auf das sonnige Blau, ich war erbost über meinen Bruder. Meine Mutter machte mitfühlende Grunzlaute, an denen ich erkennen konnte, dass sie meine Gefühlslage versteht. Gleichzeitig wusste ich, dass sie sehr alt ist und bald sterben wird. Von meinem verzweifelten Schluchzen wachte ich auf. Ich musste noch ein bisschen in meinem Bett weinen. Dann verblasste das Bild. Meine Mutter ist sehr alt und wird hoffentlich bald sterben. Sie wünscht sich das, ich wünsche ihr das. Ihr Leben strengt sie an und bereitet ihr keine Freude mehr. „Es ist einfach ekkelhaft…“, sagt sie. Ihre Demenz kommt unauffällig aus allen Ecken, macht sie klein, sie kämpft um Kontrolle. Komplexe Gedanken kann sie schon lange nicht mehr denken, oder verstehen. Wie lange, weiß ich nicht, aber ich habe den Moment verpasst. Nach Vaters Tod hatte ich mir geschworen, dass mir das nicht wieder passiert: dass mir ein Mensch wegstirbt, ohne dass die wichtigen Dinge ausgesprochen wurden. Schon vor einiger Zeit musste ich mir eingestehen, dass es wieder passieren wird: sie wird sterben, ohne dass wir über die wichtigen Dinge gesprochen haben.

Eifrige Neugierde habe ich das vorhin genannt. Falsch. Dieses Gespräch habe ich mit meiner Mutter verpasst. Mit meiner Tochter soll es stattfinden. Das wünsche ich mir. Eifer wird mir da nicht helfen, ich denke, den Zeitpunkt legt sie fest. Und neugierig bin ich auch nicht. Ich wünsche es mir einfach

Sonntag, 30. August 2015

Der rote Mond Hauptsache es knallt

Gehen Sie zurück zum Anfang, gehen Sie nicht über los. Also wieder die Tauchübung. Erika taucht, sie hat keine Schwimmbrille auf, sie sieht wenig, kennt den Weg nicht, hört nichts. Sie bekommt keine Luft.
Sie merkt nichts, oder wenig. Sie kann das alles nicht realisieren, sie kann nur den Schmerz unter dem Deckel halten. Das Leben geht weiter. Ihr kaltes Herz modert in ihrem Bauch, da spürt sie keinesfalls hin. Erika lebt nur noch eine flache Scheibe von sich, so wie ihre Mutter. Aber die hat richtige Schicksalsschläge hinnehmen müssen.
Erikas Mutter war sieben Jahre alt, als ihre eigene Mutter starb. Als Kind konnte Erika das Mitgefühl kaum aushalten, wenn ihre Mutter davon erzählte. Erika fühlt sich  ganz stark an ihre Mutter gebunden. Die Mutter war erst 19, als dann auch ihr Vater starb. Das war ein anderer Vater als Erikas. Die Mutter spricht mit liebevoller Ehrfurcht von ihrem Vater. Erika stellt sich immer vor, wie allein gelassen und voller Trauer ihre Mutter damals in der chaotischen Welt stand. Das war ja Chaos pur: Nazizeit, Krieg, Vertreibung, Besetzung. In all dem Durcheinander fand ihre Mutter den Mann ihres Lebens. Horst. Der heilige Horst. Erika hat sich viel von Horst erzählen lassen. Der absolute Gutmensch. Die Zwei haben geheiratet, die Mutter war zweimal Schwanger, beide verloren, und bald danach hat Krebs den Horst dahingesiecht. Erika sieht nur Trauer und Verlust, wenn sie sich die Jugend ihrer Mutter anschaut. Als Kind konnte sie das gar nicht aushalten, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt. Die Cognacflasche steht schon immer in der Küche über der Spüle, das macht Erika ihrer Mutter auch nach. Aber Cognac mag sie nicht, sie trinkt Martini oder Apfelkorn, Hauptsache es knallt. Ihre Mutter ist flach, Erika kann das verstehen, nimmt es ihrer Mutter nicht übel. Ihre Mutter hat sich abgeschnitten, von ihren eigentlichen Gefühlen. Man muss wohl zu Horsts Grab gehen, um den Rest von ihrer Mutter zu finden. Vordergründig kann man keinen Mangel erkennen. Ihre Mutter ist liebevoll und empathisch. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man den Rückzug vom Leben, die tiefe Trauer, die sie umflort und eben, dass sie ganz flach ist, abgeschnitten von ihren Gefühlen, die sie ausmachen.
Nein nein, Erika vergleicht sich nicht mit ihrer Mutter, das ist unmöglich. Und doch hat Erikas kleine  Geschichte sie zerrissen und nun macht sie es ihrer Mutter nach, trinkt, taucht und schneidet sich ab. Das kleine Fitzelchen Selbstbewusstsein, das in letzter Zeit gewachsen war, ist mit zersplittert. Erika sitzt wieder in ihrem Zimmer und macht den Köpper in den Abgrund, bodenlos. Sie hätte Peter fragen können, warum es so gekommen ist. Aber sowas macht sie nicht. Wenn sie sich verletzt fühlt, zieht sie sich sofort ganz zurück. Das ist wie ein Reflex, geht ganz schnell, da hat sie keinen Einfluss. Also kann sie nur raten, aber sie rät nicht mal, sie bezieht es einfach voll und ganz auf ihre Person. Sie ist nicht liebenswert. Das ist die einzige Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen kann, aber sie hat den Deckel drauf und zieht ihn mit Apfelkorn fest.
Das Leben geht weiter. Otto macht weiter seine tollen kleinen Zusammenkünfte, es kommen immer mehr Leute. Da ist Einer, Thomas, braune Augen, lebendiger Typ, lustig. Diese schönen, braunen Augen schauen auf Erika. Kann der was von Erika wollen? Dieser coole Typ? Sie verabreden sich für den nächsten Tag. Erika geht ihn besuchen. Sie unterhalten sich, hören Musik, ein paar Küsschen sind wohl auch dabei. Am Montag in der Schule ist es das Erste, was Erika herausposaunt: „Ich habe einen Freund!“ Ihre Klassenkameradinnen wollen alles ganz genau wissen, Erika verspricht, dass sie ihn in der großen Pause sicherlich zu sehen bekommen, da er ja auch hier Schüler ist.

Wie meistens steht sie mit ihren Klassenkameradinnen am Rand der breiten Treppe, die vom Pausenhof in das Gebäude führt. Hier haben sie den besten Überblick, sehen und gesehen werden. Am Ende der Pause läuft Thomas mit seinen Freunden an ihr vorbei, er schaut ihr in die Augen, sonst keine besondere Regung. „Hier, eben, der Dunkelhaarige, das war er!“ Silke H. faucht sie direkt an:    „ du erzählst wieder einen Scheiß! Wenn der dein Freund wäre, dann wäre er jetzt hergekommen und hätte Hallo gesagt!“ Erika weiß mal wieder keine Antwort. Sie fühlt sich getroffen und sie schämt sich. Silke! Die kennt sich wohl aus, sie ist schon lange mit Heino zusammen. Erika kennt sich gar nicht aus. Ist dann Thomas vielleicht doch eher ein freundlicher Bekannter? Wahrscheinlich hat Erika die Situation völlig falsch eingeschätzt. Es gibt ja auch überhaupt keinen Grund für ihn, auf sie abzufahren

Mittwoch, 5. August 2015

Fahrradfahren in Berlin

Mit dem Fahrrad in Berlin unterwegs zu sein, ist immer schön, außer bei Regen, aber in Berlin regnet es ja selten. Ich fahre und lasse die Stadt dabei auf mich wirken. Die ganz alltäglichen Wege sind inzwischen natürlich etwas langweilig, aber auch da entdecke ich manchmal was Neues. Mein Lieblingsweg ist von Zuhause zu einem Freund in Moabit. Ich mag den Freund, aber den Weg mag ich so sehr, dass ich den Freund am liebsten alle drei Tage besuchen würde. Zuerst fahre ich über das Feld, an der Stirnseite, östlich. Die Seite ist kurz, trotzdem habe ich genügend Zeit über das Feld zum Flughafengebäude zu schauen, im Süden den Ullsteinturm auszumachen. Hier kann man im Winter die schönsten Sonnenuntergänge sehen. Diese Weite, mitten in der Stadt, das ist berauschend. Im Dezember geht die Sonne hinter den Schloten eines Kraftwerks unter, das könnte Lankwitz sein, ich weiß es aber nicht genau. Der freie Blick über das Feld, dann die rauchenden Schlote, dahinter die orangene Sonne: soviele Assoziationen auf einmal. Freiheit, Vergänglichkeit, Stadtleben mit verseuchter Lunge und gleichzeitig der kühle, scheinbar frische Wind um die Nase. Die Weite genießen, sehen, wie die vielen Leute den Raum nutzen. Die Neuköllner, eine mir vertraute berliner Volksgruppe. Um den Fernsehturm zu sehen, muss ich hier ein Stück auf das Feld rauf fahren. Ich mag das, immer wieder, oft plötzlich, unerwartet, irgendwo zwischen Häuserschluchten, zeigt sich der Fernsehturm. Wie ein Pflock um den sich Berlin anordnet. Wie ein Zeigefinger ragt er in den Himmel, „ hier bin ich, orientier dich!“ Es heißt ja: alle Wege führen nach Rom, bedeutungslos, alle Wege führen zum Alex. Das Buch, Berlin, Alexanderplatz, will ich schon lange lesen, jetzt wird es dringender. Ich muss wissen, wie Döblin den Flair eingefangen hat. Allerdings habe ich Sorge, dass ich mit der Sprache nicht klarkomme. Thomas Mann wirkt auf mich immer wie ein Schlafmittel, ich muss mich regelrecht durchkämpfen, ob das bei Döblin anders ist?
Vom Feld komme ich durch die Hasenheide. Schon wieder entspanntes Radeln durch einen Park. Wieder viele junge Menschen, Rasenflächen, alte Bäume. Ich schaue auf die vielen Grüntöne und spüre gleich, wie gut mir das tut. Hier sind schon mehr Kinderwagen, hier sind Decken auf dem Rasen ausgebreitet, Leute mit Getränken und Gitarre, Freizeitakrobaten. Das Neuköllner Durcheinander wechselt zu Kreuzberger Aufgeräumtheit. In der Bergmannstraße bestaune ich, wie sich Kreuzberg verkauft. Eingeborene und Touristen lassen sich leicht unterscheiden. Ich bin froh, wenn ich über die Ampel in die Kreuzbergstraße komme und die gierige Geschäftigkeit langsam abebbt. Ich passe den richtigen Moment ab, Augen links: Kreuzberg, mit Denkmal und Wasserfall. Über Katzmann- und Yorckstraße komme ich schon in den nächsten Park: Gleisdreieck. Hier steht kein einziger großer Baum. Der Raum wirkt viel offener, gleißender, grauer. Wieder so viele junge Menschen, sportlich, oder mit Kindern. Der Park scheint ein riesiger Spielplatz für groß und klein zu sein. Erst versinken die Bahngleise im Tunnel. Dann alte Brücken, über die die S-Bahn rumpelt, rechts alte Lagergebäude, links Neubauten. Die sehen richtig teuer aus. Jetzt sehe ich auch, dass sich der Volksstamm schon wieder verändert hat. Emsiges Streben liegt in der Luft, die Kinderwagen haben Allradantrieb, die hippen Skater waschen sich brav die Hände, wenn sie in den Dreck gefallen sind. Ich komme am Potsdamer Platz aus dem Park. Diese Gegend wirkt blutleer. Die wenigen Leute, die ich sehe, sind auf dem Sprung. Einige Touristen sitzen in stylischen Lounges. Ich freue mich in den Tiergarten einzutauchen, Potsdamer Platz, da sind zu viele Anzüge mit teuren Schuhen. Im Tiergarten radeln auch solche Anzüge an mir vorbei, aber ich bin wieder entspannter. Der Park, obwohl er recht schmal ist, hat eine starke Aura, irgendwie erhaben, unberührbar. Bei Bellevue fahre ich über die Spree und komme so nach Moabit. Von hier zur Turmstraße verändert sich der Flair so schnell, das es überraschend ist. Eben noch Regierungsviertel, machtvolle Weitläufigkeit, bin ich hier wieder in einem lebendigen Durcheinander gelandet. Hier fühle ich mich wieder richtig wohl, ich spüre weder Dünkel noch Gier. Die Leute machen einfach ihr Ding, ohne zu sehr auf Außen zu achten, so wirkt das auf mich.
Von Berlin nach Tokio durchfliegt man 10 Zeitzonen, oder so. Von Britz nach Moabit zähle ich 8 Berlinzonen. Acht unterschiedliche Volksstämme. Achtmal verändert sich der Geschmack auf der Zunge, der Weg dauert nur 40 Minuten, aber ich bekomme so viele Eindrücke, dass ich tagelang damit beschäftigt sein kann.
Ich stelle mein Fahrrad ab und setze mich im kleinen Tiergarten auf eine Bank. Der Autolärm stört gar nicht so sehr, ich kann ihn gut ausblenden. Die Sonne scheint silbern, es ist Vormittag, noch etwas frisch. Ich schaue der entspannten Geschäftigkeit zu, die mich hier umgibt. Das hört sich an wie ein Paradox, ich kann es aber nicht besser ausdrücken. Alle scheinen ein Ziel zu haben, es gibt auch keine Langsamkeit und doch ein Verharren im Jetzt. Gegenüber hat ein Türke seine Auslagen in einer alten Garage aufgebaut. Er quatscht mit einem Passanten, geistesabwesend sortiert er hin und wieder eine vergammelte Nektarine aus. Ich würde gerne bei ihm einkaufen, aber es wäre natürlich blödsinnig das Obst quer durch die Stadt zu tragen. Eine alte Frau setzt sich neben mir auf die Bank, sie schmeißt Brotreste für Vögel vor sich auf den Boden. Sofort kommen Spatzen und Tauben angeflogen. Ich mag das nicht so sehr. Ich mag Vögel, keine Frage, aber nicht so nah. Ich mag nicht mehr atmen, ich habe das Gefühl, die Luft ist von Keimen verseucht. Aber mein Platz ist so schön, bis eben war ich so entspannt und offen für die Welt, dass ich eigentlich nicht aufstehen will.

Dieses Moabit gefällt mir so richtig gut, es wirkt ganz ähnlich unaufgeräumt wie Neukölln, wie ein Zwilling auf der anderen Seite der Stadt. Hier würde ich auch gerne wohnen.