Montag, 5. Oktober 2015

Roter Mond


Fatma und Erika, Erika schaut sich das gerne an. Da gibt es doch diese Geschichte von Aristoteles, oder war es Platon? Egal. Der Mensch, ursprünglich als Kreis, dann zerbrach er und nun sind die zwei Teile immer auf der Suche nacheinander. Fatma und Erika haben sich gefunden! Erika fühlt sich rund und voll, wenn sie an Fatma denkt, oder mit ihr zusammen ist. Die Unterschiede sind auch so faszinierend, Fatmas Herkunft, ihre Eltern, da gibt es viel zu bedenken. Erika hat eine ganz eigene Philosophie über Menschen: sie sind ein Puzzle. Da gibt es die Kinderpuzzle mit 100 Teilen, da gibt es die Tausender, die sind die Regel und es gibt Zehntausender. Sie  hält sich für ein 10000 er, Fatma ist ganz sicher einer und Erika puzzelt gerne. Jede noch so kleine Information, die sie von Fatma bekommt, wird zum Puzzlestein und vielleicht schon einsortiert. Erika kann die großen Löcher in dem Bild gut aushalten und hat viele Steine am Rand liegen.
Eva, die Mutter, der Hammer! Sie ist engstirnig, irgendwie kleingeistig, dabei trotzdem lebensklug. Wie das geht versteht Erika nicht, sie ist immer wieder verblüfft von Eva. Eigentlich findet sie Eva ja doof und dann muss sie doch anerkennend zurücktreten um Eva Platz zu machen. Diese Energie, so lebensfreudig, Eva baut ihren Weg mit Kopfsteinpflaster. Sie ist emsig dabei, schaut zuweilen stolz auf das Erreichte, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, geht sie beherzt an.  Der Vater, er sieht aus wie der 1a-Türke: dunkle Haare, großer, dunkler Schnurrbart, drahtig, samstags liegt er unter seinem 200er- Bauern-Mercedes, um ihn in Schuss zu halten. Er ist sehr zugeschlossen, Erika kann sich nur ein Bild von ihm machen, weil Fatma von ihm erzählt und sie hört das Gezänk, sein türkischer Bass dröhnt zwischen den schrillen Tönen von Eva. „Mama sagt, Sex ist das Wichtigste in einer Ehe.“ Der Satz ist von Fatma und verwirrt Erika noch mehr. Das sind doch alte Leute, warum haben die noch Sex und wie geht das mit dem vielen Streit. Dann ist da noch die Gewalt. Fatma wird gezüchtigt, wenn sie sich nicht fügt. Fatma hat einen unglaublichen Willen und bietet ihrem Vater immer wieder die Stirn, nimmt die Züchtigung in Kauf. Wenn Fatma Erika ihre Blessuren zeigt, spürt Erika nur Hass. Sie will Fatma schützen, fühlt Ohnmacht und schimpft endlos. Erika versucht Beistand zu leisten, indem sie Fatmas Eltern klein macht, sich herablassend über sie äußert, oder einfach Hasstiraden loslässt. Fatma lässt Erika labern, vielleicht tut ihr das gerade gut.

Oft hört Erika auch Stolz aus Fatmas Worten über ihre Eltern. Ja, es ist schon irgendwie nachvollziehbar, dass Fatma auf ihren Vater stolz ist. Er hat sich voll etabliert in der Gesellschaft, man könnte denken, er hat sich angepasst. Studium in Deutschland, guter Job, viele Freunde, die Ehefrau, die er liebt, zwei Kinder, die weitgehend auf der Spur sind. Soweit sieht das sehr gut aus. Dabei ist er aber auch er selbst geblieben und geht seinen eigenen, gut überlegten Weg zwischen Orient und Okzident. Die Gewalt an Fatma hindert Erika das zu bewundern. Acar pickt aus beiden Kulturen das für ihn Richtige heraus und lebt damit sein Leben. Fatma kann das an ihrem Vater sehen und anerkennen. Sie ist stolz auf ihn. Sie ist auch stolz auf ihre Mutter, auf deren Klugheit. Erika meint ja, dass Evas Gehirn höchstens die Größe einer Walnuss hat, manchmal stimmt Fatma ihr da zu und manchmal äußert sie sich eben doch stolz über ihre Mutter. Fatmas Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt, Fatma ist auch in Deutschland geboren. Dann haben sie aber doch erstmal einige Jahre in Istanbul gelebt. Erika mag das sehr, wenn Fatma von dieser fremden Welt erzählt. Eva hat damals mit ihrer Familie bei den Schwiegereltern im Haus gelebt. Das ist eine von Evas großen Stärken: aus widrigen Umständen das Beste machen, sich einfinden in ein System, in einer fremden Kultur. Sieben Jahre lang waren sie in Istanbul und es ist Eva zu verdanken, dass Fatma dann in Deutschland direkt ins Gymnasium gekommen ist. Sie hat Fatma gezwungen jeden Abend in der deutschen Fibel zu lesen.
Da ist aber nicht nur Stolz, Fatma ist mit ihren Eltern in Liebe verbunden und sie ist natürlich auch ein junges Mädchen, das in Deutschland heranwächst, ganz normal pubertär. Sie hat  Mittel und Wege gefunden, ihre Eltern zu leimen, wie mit den Kaffeebohnen, zum Beispiel. Ihr Familienleben spielt sich auf einem hohen Energielevel ab.
Erika vergleicht.
Die Energie bei ihr Zuhause scheint deutlich weniger, irgendwie ist alles viel subtiler. Ob subtil der richtige Ausdruck dafür ist? Oder ist es sublim? Oder einfach alt? Erikas Vater könnte Acars Vater sein, Erikas Vater ist einfach alt. Wenn die großen Brüder manchmal Geschichten erzählen, wie der Vater sich früher aufgeführt hat, dann ist Erika schon ganz zufrieden, dass er inzwischen einen schweren Herzinfarkt hatte und sich nicht mehr so aufregen darf.
 Sonntags, nach dem Mittagessen, passiert es, dass Alle sitzenbleiben müssen, weil der Vater von früher erzählen will. Erika kann diese Geschichten nicht interessiert anhören, weil sie sich so gezwungen fühlt. Er war als junger Mensch ein Draufgänger, amüsiersüchtig, lebenslustig. Von dieser Zeit, noch vor dem zweiten Weltkrieg, erzählt er gern. Wie sie damals, bevor sie zum Trinken und Feiern los wollten, erstmal eine Dose Ölsardinen aufgemacht haben. Nachdem sie die Ölsardinen gegessen haben, haben sie das Öl getrunken, nur damit sie mehr und länger trinken können. Wie sie in Friedrichshagen unterwegs waren, Köpenick unsicher gemacht haben, solche Geschichten. Wenn Erika mit ihrer Mutter einen alten Film im Fernsehen anschaut, dann sagt die Mutter manchmal: „guck mal, mit der Schauspielerin war dein Vater mal zusammen.“ Er war ein Hans Dampf in allen Gassen. Dann kamen die Nazizeit und der Krieg. Die Geschichten von der Zeit sind irgendwie schemenhaft. Er war wohl in Jugoslawien, hat da Fabriken gebaut. Für wen? Für die kroatischen Nazis? Da war doch auch Krieg, Kollaborateure, Widerständler, auch dort wurden Juden ausgerottet. Erika guckt mit ihren Eltern „Holocaust“ im Fernsehen. Der Vater scheint schockiert, er hat von alldem nichts gewusst, er war doch im Balkan. Die Mutter sagt „ja, ja.“ Erika kann sich keinen Reim darauf machen. Eine Auseinandersetzung geht anders, welche Rolle hatte ihr Vater? Kann er wirklich so unwissend gewesen sein, oder will er etwas für sich behalten? Erikas Interesse für ihren Vater ist so gering, dass sie nicht nachhakt.
Dann doch lieber die Mutter. Das kann Erika gut gebrauchen. Die Mutter ist ja protestantische Pastorentochter, bekennende Kirche, christlicher Widerstand. Das ist eine Herkunft, auf die kann Erika sehr stolz sein, aber ihre Mutter hindert sie daran und spricht von der allgemeinen, deutschen Schuld. Erika darf nicht aufs Podest und sich rühmen, aber so im Nebensatz kann sie das schon mal erwähnen, Bonhoeffer und so. Die Mutter ist sehr eindringlich: „wir alle tragen die Schuld.“ Das Thema ist für Erika besonders wichtig, immer wieder denkt sie darüber nach. Wie konnte das passieren? Welche Position würde sie einnehmen, wenn sowas wäre, würde sie „Heil Hitler“ brüllen? Sie träumt davon, dass sie im Widerstand wäre, das ist ja auch der Kontext aus dem sie kommt, aber sicher ist sie sich nicht. Der Holocaust, das ist ein Thema, das sie ganz nah an sich heranlässt. Da muss man hinspüren, meint sie, vielleicht ist es doch zu groß für sie, zum Spüren. Jedenfalls ist sie ganz und gar betroffen und ganz stolz auf ihre Herkunft, ihre Mutter, ihren Großvater, den sie nie kennengelernt hat, der aber auf dem Photo so ernst und freundlich aussieht.

Natürlich macht Fatmas Beziehung zu ihren Eltern einen Teil des Puzzles aus, an dem Erika bastelt. Bemerkenswert ist, wie viele unterschiedliche Gefühle Fatma zu ihren Eltern hat, sie gibt Erika immer wieder neue Steine in die Hand. Erika bastelt, gleichzeitig ist sie bemüht Fatma das nicht merken zu lassen, Fatma möchte nicht durchschaut werden, vom Durchschauen ist Erika allerdings noch weit entfernt und wird dieses Bestreben auch irgendwann aufgeben. Erika will sehen, sie will eine aufmerksame Zuhörerin sein, sie will Fatma einen guten Spiegel zeigen, das Bild soll Fatma nicht zu sehr reduzieren. Fatma ist ja wild, das findet Erika toll, manchmal aber auch beängstigend. Mit Kritik muss sie sehr vorsichtig sein. Dazu hat sie sich was Gutes überlegt, das klappt bisher hervorragend: wenn sie Fatma etwas über sie sagen will, was vielleicht nicht so toll ist, dann schickt sie viel Anerkennung voraus. Sie sagt also zum Beispiel: „weißt du, Fatma, was ich gut an dir finde, ist 1. blabla… außerdem 2. blabla… und dann kommt noch dazu , dass du 3. blabla… Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass deine ….blabla…vielleicht nicht so gut ist. So schützt Erika sich und wird gleichzeitig ihrem Anspruch an sich gerecht. Sie will eine gute Freundin sein, das hat viele Aspekte. Einer davon ist Ehrlichkeit, dass man auch mal was Negatives sagt, Kritik übt. Aber Erika hat auch Angst vor der wilden Indianerin mit dem Giftpfeilköcher, die in Fatma immer mal durchscheint. Die Pfeile dürfen schon gerne mal abgeschossen werden, aber bitte nicht auf Erika. Also balsamiert sie Fatma fett ein, bevor sie ihr Kritiklein abgibt. Fatma nimmt das so gerne hin, sie suhlt sich in der fetten Anerkennung und hat gleichzeitig die Ohren offen, um die Kritik noch zu hören. Sie fühlt sich nicht angegriffen, die Waffen ruhen, sie fragt nach und setzt sich mit Erika und ihrer Kritik auseinander.
Fatma und Erika haben unendlich viele Themen, das Gespräch ist eigentlich nie langweilig. Sie reden zum Beispiel gerne über Philosophie, Erika mag das sehr. Fatma hat Geschichte Leistungskurs, da wurden die griechischen Philosophen sehr ausgebreitet. Erika hat nur ganz privates Wissen über Philosophie, einfach weil sie gerne über das Leben nachdenkt, auch über die Menschen und warum wohl alles so ist, wie es ist. Dabei hat sie natürlich kein einziges Buch in die Hand genommen. Ohne den Begriff zu kennen, diskutiert sie den kategorischen Imperativ, das Moralkonzept aus ihrer Muttermilch. Fatma kann ihr angelesenes Wissen unaufdringlich erläutern, so kommen griechische und preußische Philosophie in den Vergleich. Das Thema macht beiden immer wieder Spaß. Auch über die neue deutsche Geschichte reden die Zwei. Bei diesem Thema wird Erika sehr emotional, ihre Herkunft, ihre Betroffenheit, sie diskutiert sehr eindringlich. „Wir sind verantwortlich, dass sowas nie wieder passiert. Fatma, sechs Millionen Juden wurden in Europa ausgerottet, das ist doch unfassbar…und alle behaupten, sie hätten davon nichts gewusst. Alle haben sich schön eingerichtet in dem System, warum sind sie nicht an ihre innere moralische Grenze gestoßen, wenn nebenan die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden? Nein, sie haben das Haus noch schnell zum Vorzugspreis gekauft! Innere Verrohung als Gemeinschaftsprojekt! Was waren das für Mechanismen, die da gewirkt haben? Aus aufrichtigen Menschen sind Kakerlaken geworden, die sich gegenseitig auffressen. Das Alles macht mich so fertig und ich stecke in der Schuld fest.“
 „Dann mach dich doch frei von der Schuld! Du hast damit doch gar nichts zu tun. Es geht doch darum, sich im Jetzt umzuschauen und darauf zu achten, dass sowas nicht wieder passiert, wie du eben ja selbst schon gesagt hast!“
„Nein! Wir müssen da ganz genau hinschauen: was ist passiert, wie konnte das passieren. Keine Distanz! Juden wurden ja schon vorher jahrhundertelang diskriminiert, da wurde von den Nazis ein Weg geteert, der schon lange ausgetreten war. Wie ist eigentlich meine innere Einstellung gegenüber Fremden? Muss ich da was überprüfen? Wir müssen uns in das Thema versenken, richtig einlassen; und immer mit der Schuld ganz vorne, um Distanzierungen zu vermeiden. Ich bin schuldig!“
Fatmas Gesicht verändert sich zu einer angewiderten Fratze: „Du gehst mir so auf den Keks mit deiner Schuld. Und im nächsten Moment schreist du –nicht schuldig- weil du dich zu deiner tollen bekennenden Kirche zurückziehst. Du drehst dir das alles immer hübsch zurecht, wie es für dich gerade passt. Lass mich in Ruhe mit der Scheiße!“
Erika läuft davon. Sie muss Weinen. Sie schwingt sich aufs Fahrrad und fährt weinend durch das Viertel, der Weg ist egal, sie braucht die Bewegung, sie braucht Entfernung vom Tatort. Fatma hat mit der Armbrust auf sie geschossen. Erika fühlt sich schwer verletzt und doch im Recht, weinend klagt sie Fatma hier auf dem Fahrrad an. Fatma versteht das alles nicht richtig! Sie ist ja nur zur Hälfte Deutsche, sie muss die Schuld nicht so schwer tragen, weil sie sich auf ihr Türkisch sein zurückziehen kann. Das ist keine Entlastung, sondern erklärt nur ihr Unverständnis. Ok! Was war denn mit ihrem deutschen Opa? Vielleicht ist das der Grund für den Schuss! Aber da wird Erika besser mal nicht nachfragen. Fatma ist so ungerecht, warum ist sie sooo verletzend? Vielleicht hat sie sich von Erika in die Enge getrieben gefühlt, oder hat Erika das mit der Schuld wirklich zu sehr geritten? Erika ist inzwischen auf leeren Feldwegen außerhalb der Stadt unterwegs. Der Wind trocknet die Tränen auf ihren Wangen. Plötzlich ist sie empfänglich für die Schönheit der Gegend. Raps und grüner Roggen, oder was für Getreide mag das sein? Schwarz-weiße Kühe auf fetten Wiesen, ein D-Zug nach Bremen rattert an ihr vorbei, dann ist es wieder friedlich, nur der Wind rauscht in ihren Ohren. Sie radelt weiter und hört zu, wie ihr innerer Dialog ruhiger wird. Sie hört Fatmas Erklärungen für den Ausraster. Die Wunde heilt, aber es wird eine Narbe bleiben. Wie wird sich Erika weiter verhalten? Sie wird sich weiter bemühen, dass Fatma friedfertig bleibt, aber sie wird sich dabei keinesfalls verbiegen. Nun ja, sie braucht nicht gleich morgen wieder mit Fatma über den Holocaust zu reden, aber vielleicht irgendwann. Dann vielleicht mit zitternden Knien, aber das ist ja egal. Sie mag Fatma, so wie sie ist. Es gibt diese gegenseitige Anerkennung, auch der Unterschiedlichkeiten. Einmal sagte Fatma: „Erika, du bist harmoniesüchtig.“ Das war eine gute Information für Erika, da war keine Wertung, einfach die Information. Fatma liebt Erika mit ihrer Harmoniesucht, Erika liebt Fatma mit ihrem Zorn.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen