Fatma und Erika, Erika schaut sich das gerne an. Da gibt es
doch diese Geschichte von Aristoteles, oder war es Platon? Egal. Der Mensch,
ursprünglich als Kreis, dann zerbrach er und nun sind die zwei Teile immer auf
der Suche nacheinander. Fatma und Erika haben sich gefunden! Erika fühlt sich
rund und voll, wenn sie an Fatma denkt, oder mit ihr zusammen ist. Die
Unterschiede sind auch so faszinierend, Fatmas Herkunft, ihre Eltern, da gibt
es viel zu bedenken. Erika hat eine ganz eigene Philosophie über Menschen: sie
sind ein Puzzle. Da gibt es die Kinderpuzzle mit 100 Teilen, da gibt es die
Tausender, die sind die Regel und es gibt Zehntausender. Sie hält sich für ein 10000 er, Fatma ist ganz
sicher einer und Erika puzzelt gerne. Jede noch so kleine Information, die sie
von Fatma bekommt, wird zum Puzzlestein und vielleicht schon einsortiert. Erika
kann die großen Löcher in dem Bild gut aushalten und hat viele Steine am Rand
liegen.
Eva, die Mutter, der Hammer! Sie ist engstirnig, irgendwie kleingeistig,
dabei trotzdem lebensklug. Wie das geht versteht Erika nicht, sie ist immer
wieder verblüfft von Eva. Eigentlich findet sie Eva ja doof und dann muss sie
doch anerkennend zurücktreten um Eva Platz zu machen. Diese Energie, so
lebensfreudig, Eva baut ihren Weg mit Kopfsteinpflaster. Sie ist emsig dabei,
schaut zuweilen stolz auf das Erreichte, Hindernisse, die sich ihr in den Weg
stellen, geht sie beherzt an. Der Vater,
er sieht aus wie der 1a-Türke: dunkle Haare, großer, dunkler Schnurrbart, drahtig,
samstags liegt er unter seinem 200er- Bauern-Mercedes, um ihn in Schuss zu
halten. Er ist sehr zugeschlossen, Erika kann sich nur ein Bild von ihm machen,
weil Fatma von ihm erzählt und sie hört das Gezänk, sein türkischer Bass dröhnt
zwischen den schrillen Tönen von Eva. „Mama sagt, Sex ist das Wichtigste in
einer Ehe.“ Der Satz ist von Fatma und verwirrt Erika noch mehr. Das sind doch
alte Leute, warum haben die noch Sex und wie geht das mit dem vielen Streit.
Dann ist da noch die Gewalt. Fatma wird gezüchtigt, wenn sie sich nicht fügt.
Fatma hat einen unglaublichen Willen und bietet ihrem Vater immer wieder die
Stirn, nimmt die Züchtigung in Kauf. Wenn Fatma Erika ihre Blessuren zeigt,
spürt Erika nur Hass. Sie will Fatma schützen, fühlt Ohnmacht und schimpft
endlos. Erika versucht Beistand zu leisten, indem sie Fatmas Eltern klein
macht, sich herablassend über sie äußert, oder einfach Hasstiraden loslässt.
Fatma lässt Erika labern, vielleicht tut ihr das gerade gut.
Oft hört Erika auch Stolz aus Fatmas Worten über ihre
Eltern. Ja, es ist schon irgendwie nachvollziehbar, dass Fatma auf ihren Vater
stolz ist. Er hat sich voll etabliert in der Gesellschaft, man könnte denken,
er hat sich angepasst. Studium in Deutschland, guter Job, viele Freunde, die
Ehefrau, die er liebt, zwei Kinder, die weitgehend auf der Spur sind. Soweit
sieht das sehr gut aus. Dabei ist er aber auch er selbst geblieben und geht
seinen eigenen, gut überlegten Weg zwischen Orient und Okzident. Die Gewalt an
Fatma hindert Erika das zu bewundern. Acar pickt aus beiden Kulturen das für
ihn Richtige heraus und lebt damit sein Leben. Fatma kann das an ihrem Vater
sehen und anerkennen. Sie ist stolz auf ihn. Sie ist auch stolz auf ihre
Mutter, auf deren Klugheit. Erika meint ja, dass Evas Gehirn höchstens die
Größe einer Walnuss hat, manchmal stimmt Fatma ihr da zu und manchmal äußert
sie sich eben doch stolz über ihre Mutter. Fatmas Eltern haben sich in
Deutschland kennengelernt, Fatma ist auch in Deutschland geboren. Dann haben
sie aber doch erstmal einige Jahre in Istanbul gelebt. Erika mag das sehr, wenn
Fatma von dieser fremden Welt erzählt. Eva hat damals mit ihrer Familie bei den
Schwiegereltern im Haus gelebt. Das ist eine von Evas großen Stärken: aus
widrigen Umständen das Beste machen, sich einfinden in ein System, in einer
fremden Kultur. Sieben Jahre lang waren sie in Istanbul und es ist Eva zu
verdanken, dass Fatma dann in Deutschland direkt ins Gymnasium gekommen ist.
Sie hat Fatma gezwungen jeden Abend in der deutschen Fibel zu lesen.
Da ist aber nicht nur Stolz, Fatma ist mit ihren Eltern in
Liebe verbunden und sie ist natürlich auch ein junges Mädchen, das in
Deutschland heranwächst, ganz normal pubertär. Sie hat Mittel und Wege gefunden, ihre Eltern zu
leimen, wie mit den Kaffeebohnen, zum Beispiel. Ihr Familienleben spielt sich
auf einem hohen Energielevel ab.
Erika vergleicht.
Die Energie bei ihr Zuhause scheint deutlich weniger,
irgendwie ist alles viel subtiler. Ob subtil der richtige Ausdruck dafür ist?
Oder ist es sublim? Oder einfach alt? Erikas Vater könnte Acars Vater sein, Erikas
Vater ist einfach alt. Wenn die großen Brüder manchmal Geschichten erzählen,
wie der Vater sich früher aufgeführt hat, dann ist Erika schon ganz zufrieden,
dass er inzwischen einen schweren Herzinfarkt hatte und sich nicht mehr so
aufregen darf.
Sonntags, nach dem
Mittagessen, passiert es, dass Alle sitzenbleiben müssen, weil der Vater von
früher erzählen will. Erika kann diese Geschichten nicht interessiert anhören,
weil sie sich so gezwungen fühlt. Er war als junger Mensch ein Draufgänger,
amüsiersüchtig, lebenslustig. Von dieser Zeit, noch vor dem zweiten Weltkrieg,
erzählt er gern. Wie sie damals, bevor sie zum Trinken und Feiern los wollten,
erstmal eine Dose Ölsardinen aufgemacht haben. Nachdem sie die Ölsardinen
gegessen haben, haben sie das Öl getrunken, nur damit sie mehr und länger
trinken können. Wie sie in Friedrichshagen unterwegs waren, Köpenick unsicher
gemacht haben, solche Geschichten. Wenn Erika mit ihrer Mutter einen alten Film
im Fernsehen anschaut, dann sagt die Mutter manchmal: „guck mal, mit der Schauspielerin
war dein Vater mal zusammen.“ Er war ein Hans Dampf in allen Gassen. Dann kamen
die Nazizeit und der Krieg. Die Geschichten von der Zeit sind irgendwie schemenhaft.
Er war wohl in Jugoslawien, hat da Fabriken gebaut. Für wen? Für die
kroatischen Nazis? Da war doch auch Krieg, Kollaborateure, Widerständler, auch
dort wurden Juden ausgerottet. Erika guckt mit ihren Eltern „Holocaust“ im
Fernsehen. Der Vater scheint schockiert, er hat von alldem nichts gewusst, er
war doch im Balkan. Die Mutter sagt „ja, ja.“ Erika kann sich keinen Reim
darauf machen. Eine Auseinandersetzung geht anders, welche Rolle hatte ihr
Vater? Kann er wirklich so unwissend gewesen sein, oder will er etwas für sich
behalten? Erikas Interesse für ihren Vater ist so gering, dass sie nicht
nachhakt.
Dann doch lieber die Mutter. Das kann Erika gut gebrauchen.
Die Mutter ist ja protestantische Pastorentochter, bekennende Kirche,
christlicher Widerstand. Das ist eine Herkunft, auf die kann Erika sehr stolz
sein, aber ihre Mutter hindert sie daran und spricht von der allgemeinen,
deutschen Schuld. Erika darf nicht aufs Podest und sich rühmen, aber so im
Nebensatz kann sie das schon mal erwähnen, Bonhoeffer und so. Die Mutter ist
sehr eindringlich: „wir alle tragen die Schuld.“ Das Thema ist für Erika
besonders wichtig, immer wieder denkt sie darüber nach. Wie konnte das
passieren? Welche Position würde sie einnehmen, wenn sowas wäre, würde sie „Heil
Hitler“ brüllen? Sie träumt davon, dass sie im Widerstand wäre, das ist ja auch
der Kontext aus dem sie kommt, aber sicher ist sie sich nicht. Der Holocaust,
das ist ein Thema, das sie ganz nah an sich heranlässt. Da muss man hinspüren,
meint sie, vielleicht ist es doch zu groß für sie, zum Spüren. Jedenfalls ist
sie ganz und gar betroffen und ganz stolz auf ihre Herkunft, ihre Mutter, ihren
Großvater, den sie nie kennengelernt hat, der aber auf dem Photo so ernst und
freundlich aussieht.
Natürlich macht Fatmas Beziehung zu ihren Eltern einen Teil
des Puzzles aus, an dem Erika bastelt. Bemerkenswert ist, wie viele
unterschiedliche Gefühle Fatma zu ihren Eltern hat, sie gibt Erika immer wieder
neue Steine in die Hand. Erika bastelt, gleichzeitig ist sie bemüht Fatma das
nicht merken zu lassen, Fatma möchte nicht durchschaut werden, vom Durchschauen
ist Erika allerdings noch weit entfernt und wird dieses Bestreben auch
irgendwann aufgeben. Erika will sehen, sie will eine aufmerksame Zuhörerin
sein, sie will Fatma einen guten Spiegel zeigen, das Bild soll Fatma nicht zu
sehr reduzieren. Fatma ist ja wild, das findet Erika toll, manchmal aber auch
beängstigend. Mit Kritik muss sie sehr vorsichtig sein. Dazu hat sie sich was
Gutes überlegt, das klappt bisher hervorragend: wenn sie Fatma etwas über sie
sagen will, was vielleicht nicht so toll ist, dann schickt sie viel Anerkennung
voraus. Sie sagt also zum Beispiel: „weißt du, Fatma, was ich gut an dir finde,
ist 1. blabla… außerdem 2. blabla… und dann kommt noch dazu , dass du 3.
blabla… Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass deine ….blabla…vielleicht
nicht so gut ist. So schützt Erika sich und wird gleichzeitig ihrem Anspruch an
sich gerecht. Sie will eine gute Freundin sein, das hat viele Aspekte. Einer
davon ist Ehrlichkeit, dass man auch mal was Negatives sagt, Kritik übt. Aber
Erika hat auch Angst vor der wilden Indianerin mit dem Giftpfeilköcher, die in
Fatma immer mal durchscheint. Die Pfeile dürfen schon gerne mal abgeschossen
werden, aber bitte nicht auf Erika. Also balsamiert sie Fatma fett ein, bevor
sie ihr Kritiklein abgibt. Fatma nimmt das so gerne hin, sie suhlt sich in der
fetten Anerkennung und hat gleichzeitig die Ohren offen, um die Kritik noch zu
hören. Sie fühlt sich nicht angegriffen, die Waffen ruhen, sie fragt nach und
setzt sich mit Erika und ihrer Kritik auseinander.
Fatma und Erika haben unendlich viele Themen, das Gespräch
ist eigentlich nie langweilig. Sie reden zum Beispiel gerne über Philosophie,
Erika mag das sehr. Fatma hat Geschichte Leistungskurs, da wurden die
griechischen Philosophen sehr ausgebreitet. Erika hat nur ganz privates Wissen
über Philosophie, einfach weil sie gerne über das Leben nachdenkt, auch über
die Menschen und warum wohl alles so ist, wie es ist. Dabei hat sie natürlich
kein einziges Buch in die Hand genommen. Ohne den Begriff zu kennen, diskutiert
sie den kategorischen Imperativ, das Moralkonzept aus ihrer Muttermilch. Fatma
kann ihr angelesenes Wissen unaufdringlich erläutern, so kommen griechische und
preußische Philosophie in den Vergleich. Das Thema macht beiden immer wieder
Spaß. Auch über die neue deutsche Geschichte reden die Zwei. Bei diesem Thema
wird Erika sehr emotional, ihre Herkunft, ihre Betroffenheit, sie diskutiert
sehr eindringlich. „Wir sind verantwortlich, dass sowas nie wieder passiert.
Fatma, sechs Millionen Juden wurden in Europa ausgerottet, das ist doch
unfassbar…und alle behaupten, sie hätten davon nichts gewusst. Alle haben sich
schön eingerichtet in dem System, warum sind sie nicht an ihre innere
moralische Grenze gestoßen, wenn nebenan die jüdischen Nachbarn abgeholt
wurden? Nein, sie haben das Haus noch schnell zum Vorzugspreis gekauft! Innere
Verrohung als Gemeinschaftsprojekt! Was waren das für Mechanismen, die da
gewirkt haben? Aus aufrichtigen Menschen sind Kakerlaken geworden, die sich
gegenseitig auffressen. Das Alles macht mich so fertig und ich stecke in der
Schuld fest.“
„Dann mach dich doch
frei von der Schuld! Du hast damit doch gar nichts zu tun. Es geht doch darum,
sich im Jetzt umzuschauen und darauf zu achten, dass sowas nicht wieder
passiert, wie du eben ja selbst schon gesagt hast!“
„Nein! Wir müssen da ganz genau hinschauen: was ist
passiert, wie konnte das passieren. Keine Distanz! Juden wurden ja schon vorher
jahrhundertelang diskriminiert, da wurde von den Nazis ein Weg geteert, der
schon lange ausgetreten war. Wie ist eigentlich meine innere Einstellung
gegenüber Fremden? Muss ich da was überprüfen? Wir müssen uns in das Thema
versenken, richtig einlassen; und immer mit der Schuld ganz vorne, um
Distanzierungen zu vermeiden. Ich bin schuldig!“
Fatmas Gesicht verändert sich zu einer angewiderten Fratze:
„Du gehst mir so auf den Keks mit deiner Schuld. Und im nächsten Moment
schreist du –nicht schuldig- weil du dich zu deiner tollen bekennenden Kirche
zurückziehst. Du drehst dir das alles immer hübsch zurecht, wie es für dich
gerade passt. Lass mich in Ruhe mit der Scheiße!“
Erika läuft davon. Sie muss Weinen. Sie schwingt sich aufs
Fahrrad und fährt weinend durch das Viertel, der Weg ist egal, sie braucht die
Bewegung, sie braucht Entfernung vom Tatort. Fatma hat mit der Armbrust auf sie
geschossen. Erika fühlt sich schwer verletzt und doch im Recht, weinend klagt
sie Fatma hier auf dem Fahrrad an. Fatma versteht das alles nicht richtig! Sie
ist ja nur zur Hälfte Deutsche, sie muss die Schuld nicht so schwer tragen,
weil sie sich auf ihr Türkisch sein zurückziehen kann. Das ist keine
Entlastung, sondern erklärt nur ihr Unverständnis. Ok! Was war denn mit ihrem
deutschen Opa? Vielleicht ist das der Grund für den Schuss! Aber da wird Erika
besser mal nicht nachfragen. Fatma ist so ungerecht, warum ist sie sooo
verletzend? Vielleicht hat sie sich von Erika in die Enge getrieben gefühlt,
oder hat Erika das mit der Schuld wirklich zu sehr geritten? Erika ist
inzwischen auf leeren Feldwegen außerhalb der Stadt unterwegs. Der Wind
trocknet die Tränen auf ihren Wangen. Plötzlich ist sie empfänglich für die
Schönheit der Gegend. Raps und grüner Roggen, oder was für Getreide mag das
sein? Schwarz-weiße Kühe auf fetten Wiesen, ein D-Zug nach Bremen rattert an
ihr vorbei, dann ist es wieder friedlich, nur der Wind rauscht in ihren Ohren.
Sie radelt weiter und hört zu, wie ihr innerer Dialog ruhiger wird. Sie hört
Fatmas Erklärungen für den Ausraster. Die Wunde heilt, aber es wird eine Narbe
bleiben. Wie wird sich Erika weiter verhalten? Sie wird sich weiter bemühen,
dass Fatma friedfertig bleibt, aber sie wird sich dabei keinesfalls verbiegen.
Nun ja, sie braucht nicht gleich morgen wieder mit Fatma über den Holocaust zu
reden, aber vielleicht irgendwann. Dann vielleicht mit zitternden Knien, aber
das ist ja egal. Sie mag Fatma, so wie sie ist. Es gibt diese gegenseitige
Anerkennung, auch der Unterschiedlichkeiten. Einmal sagte Fatma: „Erika, du
bist harmoniesüchtig.“ Das war eine gute Information für Erika, da war keine
Wertung, einfach die Information. Fatma liebt Erika mit ihrer Harmoniesucht,
Erika liebt Fatma mit ihrem Zorn.
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