Otto feiert wieder…sehr gut. Das wird bestimmt wieder super.
Erika hat nichts anderes vor, deswegen ist sie schon mittags nach Hannover
gefahren, um Otto bei den Vorbereitungen zu helfen. Sie lungert in Ottos WG
herum, von Vorfreude erfüllt, so gefällt ihr das Leben. Die Vorfreude kleidet
ihren Hohlkörper aus, wenn sie nach innen horcht klingt der Ton angenehm. Sie
inspiziert das Zimmer in dem sie später übernachten soll. Eine Mitbewohnerin
von Otto ist nicht zu Hause. Erika schaut sich alles genau an, sie ist
neugierig, ja, aber es ist mehr, sie will eintauchen in dieses fremde Leben.
Sie berührt Nippes, liest alte Ansichtskarten, die an Bücher angelehnt sind,
blättert in den Zeitschriften, die herumliegen. Es ist noch viel Zeit, bis die
ersten Leute kommen, also fängt sie ein Buch an, Gruppenbild mit Dame. Das
liest sich ganz schön langweilig, aber was man von Böll so mitkriegt scheint
der ja ganz gut drauf zu sein, so links und so, also kämpft sie sich durch die
Seiten, er müsste doch was zu sagen haben.
Otto holt sie in sein Zimmer, das ist eine willkommene
Abwechslung, er will mit ihr reden, sie soll die Tür schließen, spannend, was
hat er denn? Hinter seinem Schreibtisch verschanzt redet ungewohnt leise. „Pass
auf Erika! Ich möchte, dass du dich heute mal anders benimmst als sonst. Du
willst immer im Mittelpunkt stehen, das hier ist aber meine Party, deswegen
steht dir diese Rolle keineswegs zu. Du machst das jedesmal und das geht mir
gehörig auf den Wecker, und nicht nur mir, gestern hat Willy zu mir gesagt, na,
wird sich deine Schwester wieder in die Mitte spielen und die Party reißen? So
geht das nicht, Erika! Heute benimmst du dich mal, oder das war die letzte
Party bei der du dabei bist.“ Erika kann nichts mehr sehen. Alles verschwimmt
rot. Sie stottert „ah…eh...ja..ist gut. Eh…, ich weiß nicht…eh…ja mach ich…“
Mit etwas Glück erreicht sie das Zimmer der Mitbewohnerin. Sie weint, sie weint
und weint. Noch nie in ihrem Leben hat sie sich so getroffen gefühlt. Sie muss
immer weiter weinen und sie schämt sich so. Nie wieder kann sie dieses Zimmer verlassen,
nie wieder kann sie jemandem in die Augen sehen. Die Tränen versiegen, aber sie
liegt weiter verwundet auf dem Bett und muss sich den Bauch halten. Otto war so
eindringlich und es gibt niemanden, dessen Kritik so treffsicher ist, wie Otto.
Sie kann sich
überhaupt nicht erinnern jemals im Mittelpunkt gewesen zu sein. Was hat sie
denn mit Mittelpunkt zu tun? Sie wird doch immer einfach gar nicht
wahrgenommen, seit ihrer Kindheit muss sie darum kämpfen, dass sie nicht
vergessen wird, immer fühlt sie sich wie ein hässlicher Regenschirm, der gerne
bei Gelegenheit mal stehen gelassen wird. Aber sie schämt sich so und sie fühlt
sich so getroffen und gleichzeitig versteht sie die Welt nicht mehr. Die Kritik
ist nicht an ihr vorbeigeglitten, oder abgeprallt, nein, das war
Treffer-versenkt. So fühlt es sich an, aber sie kann es nicht sehen, wo immer
sie in ihrer Erinnerung schaut, sie findet sich nicht im Mittelpunkt.
Andererseits muss sie sich eingestehen, dass die Bühne eine leckere Verheißung
ist. Die Phantasie, dass sie da oben steht und unten alle an ihren Lippen
hängen, ja… das ist warm und süss. Sie fühlt sich getroffen, kann dieses Zimmer
nie wieder verlassen, tja, da muss wohl was sein. Das ist eine komische
Situation: sie muss jetzt ein Verhalten vermeiden, von dem sie nicht weiß, dass
sie es tut
Thomas wäre jetzt die absolute Unterstützung. Wenn der käme,
dann könnte sie sich einfach an ihm festhalten. Mit ihm könnte sie vielleicht
darüber reden. Aber er hat ihr ja kürzlich auch eine reingewischt. Daran wollte
sie eigentlich überhaupt nicht denken. Thomas…so eine Scheiße…
Er ist nach Bremen gezogen, das ist jetzt nicht so schlimm,
ist ja nicht so weit weg. Er hat dort mit einer Frau eine 2-er WG aufgemacht.
Erika hat ihn dort schon mehrfach besucht. Das letzte Mal, als sie reingestürmt
kam und ihm um den Hals gefallen ist, hat er sich ziemlich rabiat von ihr
losgemacht und ihr gesagt, dass das jetzt nicht mehr geht, dass er mit der
Alten jetzt zusammen ist… „Erika, lass das, das geht jetzt nicht mehr, ich
liebe dich nicht mehr, ich bin jetzt mit ihr zusammen…“
Ich liebe dich nicht mehr
Wie…was…warum…Was hat sie denn da wieder verpasst? Diese
wunderbare Freundschaft, und er hat sie geliebt und sie hat das einfach nicht
kapiert? Und jetzt ist es vorbei?
Was für ein Verlust! Nein, an Thomas kann sie jetzt nicht
denken. Das ist zu schmerzhaft, sie ist ja sowieso schon so fertig wegen Otto.
Hat sich die ganze Welt gegen sie verschworen? Wann wird sie diese Scheiß-Welt
eigentlich mal verstehen und ihren ewigen Dreisprung von Fettnapf zu Fettnapf
lassen. Wird es eine Zeit geben, wo sie souverän durch die Welt spaziert, die
Dinge versteht, die sie sieht und einfach entspannt ihren Weg geht? Anpassung
ist weiterhin unmöglich. Lieber sterben als klein bei geben. Sie hat nichts
gegen diese Normalos, aber es kann nicht sein, dass das was andere denken
mögen, ihr Dasein bestimmt. Sie will auf jeden Fall weiterhin ihren Impulsen
folgen, sie könnte gar nicht argumentieren, warum das so einen Stellenwert bei
ihr hat, völlig egal, es bleibt dabei. Die Handbremse! Sie muss jetzt eine
Handbremse einrichten! Otto hat sie ins Mark getroffen, eigentlich versteht sie
da einiges nicht, aber doch: Handbremse. Wenn sie ordentlich angeschickert
ist…und in diese wunderbare Energie kommt…wo das Leben, der Zustand, die Party
einfach nur geil ist, sie sich selbst unfassbar inspirierend und lustig
findet…da muss es sein! Da muss die Handbremse angezogen werden. Sie kann sich
so gar nicht von außen sehen, aber doch, irgendwie ist sie sicher, dass Otto
das meint. Da muss die Bremse rein, wie Schade, auch ein Verlust
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