Sonntag, 29. November 2015

Der rote Mond Heidekraut am Bosporus

Oh mein Gott, diese fremde Welt…das ist alles so aufregend, es gibt so viel zu sehen… da sind so viele Menschen. Erika fühlt sich großartig und lässt sich so gerne von Fatma alles zeigen.
Sie wohnen bei Fatmas Großeltern, ein altes, griechisches Haus, das nach vielen Jahrzehnten Mottenkugeln und Käsefüßen riecht. Fatmas Leute reden natürlich nur türkisch, was kann Erika tun? Sie hat ständig die Augenbrauen ein bisschen angehoben, die Mundwinkel auch und nickt immerzu, obwohl sie nichts kapiert. Aber Fatma macht das gut: Wenn Erika angesprochen wird, macht sie den Dolmetscher, sonst spricht sie türkisch, manchmal sagt sie Erika kurz Bescheid, worüber gerade gesprochen wird. Erika ist sehr vertrauensvoll, dass sie nichts verpasst. Sie sitzt einfach dabei, versucht ihre freundliche Maske zu halten, schaut sich die anderen Dinge an, die Gesten, die Mimik, das Rundherum. Ihr ist dabei kein bisschen langweilig, es gibt genug zu sehen, nachzudenken, zu vergleichen mit ihrer Welt. Im Keller des Hauses ist das Badezimmer. Sie bekommen von der Großmutter einen Eimer heißes Wasser, stehen beide nackt auf dem zementierten Boden und benutzen die verschieden großen Zuber um sich mit Wasser zu übergießen und zu waschen. Erika findet das schön und anheimelnd, wenn sie sauber ist freut sie sich schon auf das nächste Bad. Am ersten Morgen sagte Fatma: „ Ich habe heute auf türkisch geträumt.“ Darüber muss Erika lange nachdenken, sie wusste gar nicht, dass sie in einer Sprache träumt. Wie tief ragt diese Spaltung in türkisch und deutsch in Fatma hinein. Wie sehr macht Sprache Identität aus. Wird sich Fatma jetzt von ihr entfernen, weil sie mehr türkisch ist?
Jeden Tag fahren sie in die Stadt, Fatma zeigt sich als hervorragende Fremdenführerin und in Istanbul gibt es ja mehr als genug zu sehen. Überall stehen diese gutaussehenden, jungen Männer in Uniformen. Manche schauen finster, viele andere lächeln Erika freundlich an. Fatma erzählt von dem Putsch letztes Jahr, erklärt damit die vielen Militärposten. Erika ist verblüfft, sie hält sich für informiert und weltpolitisch interessiert, aber sie hatte davon überhaupt nichts mitgekriegt. Tja, sie hatte offensichtlich nicht mal vorher gefragt, wie die politische Situation in der Türkei ist, ob man das überhaupt verantworten kann, dahin zu fahren. Naja, nun ist sie da, jetzt fragt sie sich, ob sie sich bedroht, oder unsicher fühlt, aber die meisten von den uniformierten Jungs sind  adrett und sehen  freundlich aus. Ja, das ist lustig, sie ist hier weit und breit die einzige Touristin, unterwegs mit der exklusiv- Fremdenführerin. Jeden Tag gibt es sehr leckeres Essen, oft folgt ihnen ein Pulk von Kindern oder Jugendlichen, das ist schon etwas lästig. Sonst so kompetent, schafft Fatma es leider nicht, diese Verfolger zu vertreiben.
Istanbul ist so schön, es gibt so viel zu sehen, aber Erika entscheidet sich bald: das Tollste ist die S-Bahn –Fahrt. Morgens und abends sitzen sie zwanzig Minuten in der Bahn, weil das Haus der Großeltern in einem ruhigen Vorort liegt. Die Bahn ist immer voll. Erika bestaunt die Menschen, ihre Fremdartigkeit. Fatma erklärt: die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, die Türken sind eigentlich Mongolen, da gibt es aber auch Kurden, Griechen, Armenier und viele andere. Ja, genau, das ist das Eine, was Erika bestaunt, dass die Menschen so extrem unterschiedlich aussehen. Aber auch mit welcher Gelassenheit sie sich so nah zusammen drängeln, sowas hat sie noch nie erlebt. Abends stehen die Leute Bauch an Po in der Bahn, ein Glück ist Erika hier recht groß, sodass sie meistens oben heraus ragt und Luft zum Atmen bekommt. Am liebsten positioniert sie sich in der Nähe der Eingangstüren, da gibt es manchmal Akrobatik zu bestaunen. Junge Kerle springen an die schon anfahrende Bahn, halten sich außerhalb an den Griffen und auf dem Trittbrett fest und fahren so eine Station. So also geht Trittbrettfahren, Erika prickelt es im ganzen Körper nur vom Zuschauen. Fatma ist nicht begeistert, als Erika meint, dass sie das auch mal ausprobieren will. Sie stellt klar, das ist verboten und extrem gefährlich. Schon klar, Erika wird hier keinen Ärger machen, sie hält sich exakt an alle Verhaltensregeln, die Fatma aufstellt. Aber sie liebäugelt, das Riskante hat seinen Reiz, die Gefahr, die Geschwindigkeit, den Wind im Gesicht spüren, was würden die Leute staunen, wenn sie das machen würde. Aber sie weiß gar nicht…es ist nur ein Gedankenspiel. Ein Gedankenspiel, ein Spiel mit dem Leben, sie hält sich ja nicht so sehr fest an ihrem Leben, wenn es am Schönsten ist, soll man gehen, dann wäre jetzt der richtige Moment… Aber nein, natürlich nicht! In Echt würde sie das Fatma natürlich nicht antun! Aber da gibt es so eine distanzierte Leichtigkeit. Das Leben festhalten, oder loslassen, ist alles nicht so wichtig. Jetzt ist es schön, mit Fatma, alles andere ist Nebensache.
Nach einer Woche nehmen sie die Fähre über das Marmara Meer. Es ist ein wunderbarer Tag, sie stehen an der Reling und genießen die glitzernde Weite. Das Ziel: die kleine, beschauliche Insel Avsa. Hier machen sie so richtig Badeurlaub, wie man es sich vorstellt. Touristen? Fehlanzeige, also außer Erika natürlich. Die Adresse kommt mal wieder von Eva, sie bekommen eine kleine Wohnung bei sehr freundlichen Leuten, es ist alles da, der Weg zum Strand ist kurz, Die Haus-Mutti bringt täglich kleine Kostproben ihrer Kochkunst. So vergehen sehr helle Tage, sie lümmeln am Strand, abends gehen sie ins Cafe und spielen Backgammon. Erika findet es sehr komisch, dass sie die einzigen Frauen in dem Cafe sind, aber Fatma spaziert immer wieder mit stoischem Gesicht hinein. Nach einigen Tagen werden sie nicht mehr so auffällig von den alten Männern beäugt. Bei einem abendlichen Spaziergang geraten sie in eine Hochzeitsgesellschaft, die sie sofort mitnimmt. Sie müssen die ganze Nacht feiern und tanzen, Erika wird gnadenlos vollgequatscht, es ist wohl allen egal, dass sie nichts versteht. Die ausgelassene Stimmung der Leute ist ansteckend und die vielen Leckereien, die aufgetragen werden, muss Erika alle probieren. Mitten in der Nacht tänzeln die Zwei zurück zu ihrem Haus, sie haben keinerlei Bedenken, die Insel wirkt so paradiesisch, Gewalt und Gefahr sind hier unvorstellbar.
 Alle Nachbarsfrauen haben sich angewöhnt kleine Teller mit Essen vorbeizubringen, die Zwei sind wohl die Resteesser der Insel geworden. Es gibt aber auch häufige Einladungen zum Abendessen, sie kaufen sich nur Frühstück und Obst, sonst werden sie vom Dorf versorgt. Fatma muss ja eine hervorragende Empfängerin sein. Im Zug und jetzt hier, überall fühlen sich die Leute animiert, sie zu beschenken. Vielleicht ist es, weil sie so dünn ist, vielleicht haben die Frauen Sorge, dass sie verhungert. Fatma ist ja überhaupt die einzige dünne Frau hier. Alle sind richtig dick. Erika wundert sich und ist mit ihrem Figurproblem hier dünn. Fatma erklärt, dass hier ein anderes Schönheitsideal gilt als in Westeuropa. Erika bestaunt die Grazie und das Selbstverständnis der dicken Frauen, die sich in Deutschland verstecken würden, hier aber wunderschön sind.
Erika kann sich allem einfach überlassen. Sie fühlt sich bei Fatma sehr gut aufgehoben, sie braucht sich um nichts zu kümmern, Fatma sagt ihr manchmal, was sie tun muss, sie hält sich daran, alles ist unproblematisch. Sie hat alle ihre Antennen eingefahren, passt auf nichts auf, das ist so entspannt und gelassen, nichts ist anstrengend, dank Fatma. So geht Urlaub. Erika ist still, schaut, macht sich Gedanken und spürt der Zeit nach wie sie vorbeitropft. Auch mit Fatma gibt es viel Stille. Manchmal lässt Erika sich was erklären, manchmal plaudern sie einfach, dann wieder Stille. Fast träge saugen sie wohlig das Leben wie ein sattes Baby an der Mutterbrust. Blau ist der Himmel, blau ist das Meer. Gelb ist die Sonne, gelb ist der Strand. Blau und Gelb brennen sich in Erikas Seele, das Leben, das Dasein, einfach nur da sein.
Sie müssen zurück. Erst noch mal zwei Tage Istanbul, dann der Zug. Diesmal steigen sie mit einer großen Fresstüte von der Großmutter ein. Die Tage im Zug sind natürlich auch wieder anstrengend, aber sie sind auch ein guter Korridor. Abschied nehmen vom Urlaub und sich der Zukunft zu wenden, das machen sie. Mit jedem Kilometer, den der Zug fährt, kommt ihr neues Leben näher. Sie haben keine Angst, aber Respekt. Jetzt sind sie erwachsen, sie müssen ihr Leben in die Hand nehmen, auf eigenen Füssen stehen. Wie wird das alles, in der neuen Stadt, so weit weg von den Eltern, der Familie. Nur sie Zwei, keine Freunde, keine Verwandten, wird das eine Feuerprobe für ihre Freundschaft? Kindheit und Schulzeit sind vorbei, die neue Zeit- das ist ihr ganzes Leben, das da vor ihnen steht. Eine leere Straße, sonnig, schöne Landschaft, aber das Bild hat keine Tiefe. Da ist gleich ein Hügel, der den Blick auf die Zukunft verstellt. Es ist ein Weg ins Ungewisse. Aber sie gehen ihn zu Zweit und erstmal Hand in Hand. Das ist gut. Erika ist nicht beherzt, aber neugierig und mit Fatma an der Hand traut sie sich…


Liebe Leser. Die Geschichte ist hier zu Ende. Ich will was Neues schreiben, habe aber noch nicht angefangen. Es wird wohl dauern. Keine Ahnung, wie lange.

Vielen Dank fürs Lesen. Das war für mich ganz wichtig

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