Oh mein Gott, diese fremde Welt…das ist alles so aufregend,
es gibt so viel zu sehen… da sind so viele Menschen. Erika fühlt sich großartig
und lässt sich so gerne von Fatma alles zeigen.
Sie wohnen bei Fatmas Großeltern, ein altes, griechisches
Haus, das nach vielen Jahrzehnten Mottenkugeln und Käsefüßen riecht. Fatmas
Leute reden natürlich nur türkisch, was kann Erika tun? Sie hat ständig die
Augenbrauen ein bisschen angehoben, die Mundwinkel auch und nickt immerzu,
obwohl sie nichts kapiert. Aber Fatma macht das gut: Wenn Erika angesprochen
wird, macht sie den Dolmetscher, sonst spricht sie türkisch, manchmal sagt sie
Erika kurz Bescheid, worüber gerade gesprochen wird. Erika ist sehr
vertrauensvoll, dass sie nichts verpasst. Sie sitzt einfach dabei, versucht
ihre freundliche Maske zu halten, schaut sich die anderen Dinge an, die Gesten,
die Mimik, das Rundherum. Ihr ist dabei kein bisschen langweilig, es gibt genug
zu sehen, nachzudenken, zu vergleichen mit ihrer Welt. Im Keller des Hauses ist
das Badezimmer. Sie bekommen von der Großmutter einen Eimer heißes Wasser,
stehen beide nackt auf dem zementierten Boden und benutzen die verschieden
großen Zuber um sich mit Wasser zu übergießen und zu waschen. Erika findet das
schön und anheimelnd, wenn sie sauber ist freut sie sich schon auf das nächste Bad.
Am ersten Morgen sagte Fatma: „ Ich habe heute auf türkisch geträumt.“ Darüber
muss Erika lange nachdenken, sie wusste gar nicht, dass sie in einer Sprache
träumt. Wie tief ragt diese Spaltung in türkisch und deutsch in Fatma hinein.
Wie sehr macht Sprache Identität aus. Wird sich Fatma jetzt von ihr entfernen,
weil sie mehr türkisch ist?
Jeden Tag fahren sie in die Stadt, Fatma zeigt sich als
hervorragende Fremdenführerin und in Istanbul gibt es ja mehr als genug zu
sehen. Überall stehen diese gutaussehenden, jungen Männer in Uniformen. Manche
schauen finster, viele andere lächeln Erika freundlich an. Fatma erzählt von
dem Putsch letztes Jahr, erklärt damit die vielen Militärposten. Erika ist
verblüfft, sie hält sich für informiert und weltpolitisch interessiert, aber
sie hatte davon überhaupt nichts mitgekriegt. Tja, sie hatte offensichtlich
nicht mal vorher gefragt, wie die politische Situation in der Türkei ist, ob
man das überhaupt verantworten kann, dahin zu fahren. Naja, nun ist sie da,
jetzt fragt sie sich, ob sie sich bedroht, oder unsicher fühlt, aber die
meisten von den uniformierten Jungs sind
adrett und sehen freundlich aus.
Ja, das ist lustig, sie ist hier weit und breit die einzige Touristin, unterwegs
mit der exklusiv- Fremdenführerin. Jeden Tag gibt es sehr leckeres Essen, oft
folgt ihnen ein Pulk von Kindern oder Jugendlichen, das ist schon etwas lästig.
Sonst so kompetent, schafft Fatma es leider nicht, diese Verfolger zu
vertreiben.
Istanbul ist so schön, es gibt so viel zu sehen, aber Erika
entscheidet sich bald: das Tollste ist die S-Bahn –Fahrt. Morgens und abends
sitzen sie zwanzig Minuten in der Bahn, weil das Haus der Großeltern in einem
ruhigen Vorort liegt. Die Bahn ist immer voll. Erika bestaunt die Menschen,
ihre Fremdartigkeit. Fatma erklärt: die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, die
Türken sind eigentlich Mongolen, da gibt es aber auch Kurden, Griechen,
Armenier und viele andere. Ja, genau, das ist das Eine, was Erika bestaunt,
dass die Menschen so extrem unterschiedlich aussehen. Aber auch mit welcher
Gelassenheit sie sich so nah zusammen drängeln, sowas hat sie noch nie erlebt.
Abends stehen die Leute Bauch an Po in der Bahn, ein Glück ist Erika hier recht
groß, sodass sie meistens oben heraus ragt und Luft zum Atmen bekommt. Am
liebsten positioniert sie sich in der Nähe der Eingangstüren, da gibt es
manchmal Akrobatik zu bestaunen. Junge Kerle springen an die schon anfahrende
Bahn, halten sich außerhalb an den Griffen und auf dem Trittbrett fest und
fahren so eine Station. So also geht Trittbrettfahren, Erika prickelt es im
ganzen Körper nur vom Zuschauen. Fatma ist nicht begeistert, als Erika meint,
dass sie das auch mal ausprobieren will. Sie stellt klar, das ist verboten und
extrem gefährlich. Schon klar, Erika wird hier keinen Ärger machen, sie hält
sich exakt an alle Verhaltensregeln, die Fatma aufstellt. Aber sie liebäugelt,
das Riskante hat seinen Reiz, die Gefahr, die Geschwindigkeit, den Wind im
Gesicht spüren, was würden die Leute staunen, wenn sie das machen würde. Aber
sie weiß gar nicht…es ist nur ein Gedankenspiel. Ein Gedankenspiel, ein Spiel
mit dem Leben, sie hält sich ja nicht so sehr fest an ihrem Leben, wenn es am
Schönsten ist, soll man gehen, dann wäre jetzt der richtige Moment… Aber nein,
natürlich nicht! In Echt würde sie das Fatma natürlich nicht antun! Aber da
gibt es so eine distanzierte Leichtigkeit. Das Leben festhalten, oder
loslassen, ist alles nicht so wichtig. Jetzt ist es schön, mit Fatma, alles
andere ist Nebensache.
Nach einer Woche nehmen sie die Fähre über das Marmara Meer.
Es ist ein wunderbarer Tag, sie stehen an der Reling und genießen die
glitzernde Weite. Das Ziel: die kleine, beschauliche Insel Avsa. Hier machen
sie so richtig Badeurlaub, wie man es sich vorstellt. Touristen? Fehlanzeige,
also außer Erika natürlich. Die Adresse kommt mal wieder von Eva, sie bekommen
eine kleine Wohnung bei sehr freundlichen Leuten, es ist alles da, der Weg zum
Strand ist kurz, Die Haus-Mutti bringt täglich kleine Kostproben ihrer
Kochkunst. So vergehen sehr helle Tage, sie lümmeln am Strand, abends gehen sie
ins Cafe und spielen Backgammon. Erika findet es sehr komisch, dass sie die
einzigen Frauen in dem Cafe sind, aber Fatma spaziert immer wieder mit
stoischem Gesicht hinein. Nach einigen Tagen werden sie nicht mehr so auffällig
von den alten Männern beäugt. Bei einem abendlichen Spaziergang geraten sie in
eine Hochzeitsgesellschaft, die sie sofort mitnimmt. Sie müssen die ganze Nacht
feiern und tanzen, Erika wird gnadenlos vollgequatscht, es ist wohl allen egal,
dass sie nichts versteht. Die ausgelassene Stimmung der Leute ist ansteckend
und die vielen Leckereien, die aufgetragen werden, muss Erika alle probieren.
Mitten in der Nacht tänzeln die Zwei zurück zu ihrem Haus, sie haben keinerlei
Bedenken, die Insel wirkt so paradiesisch, Gewalt und Gefahr sind hier
unvorstellbar.
Alle Nachbarsfrauen
haben sich angewöhnt kleine Teller mit Essen vorbeizubringen, die Zwei sind
wohl die Resteesser der Insel geworden. Es gibt aber auch häufige Einladungen
zum Abendessen, sie kaufen sich nur Frühstück und Obst, sonst werden sie vom
Dorf versorgt. Fatma muss ja eine hervorragende Empfängerin sein. Im Zug und
jetzt hier, überall fühlen sich die Leute animiert, sie zu beschenken.
Vielleicht ist es, weil sie so dünn ist, vielleicht haben die Frauen Sorge,
dass sie verhungert. Fatma ist ja überhaupt die einzige dünne Frau hier. Alle
sind richtig dick. Erika wundert sich und ist mit ihrem Figurproblem hier dünn.
Fatma erklärt, dass hier ein anderes Schönheitsideal gilt als in Westeuropa.
Erika bestaunt die Grazie und das Selbstverständnis der dicken Frauen, die sich
in Deutschland verstecken würden, hier aber wunderschön sind.
Erika kann sich allem einfach überlassen. Sie fühlt sich bei
Fatma sehr gut aufgehoben, sie braucht sich um nichts zu kümmern, Fatma sagt
ihr manchmal, was sie tun muss, sie hält sich daran, alles ist unproblematisch.
Sie hat alle ihre Antennen eingefahren, passt auf nichts auf, das ist so
entspannt und gelassen, nichts ist anstrengend, dank Fatma. So geht Urlaub.
Erika ist still, schaut, macht sich Gedanken und spürt der Zeit nach wie sie
vorbeitropft. Auch mit Fatma gibt es viel Stille. Manchmal lässt Erika sich was
erklären, manchmal plaudern sie einfach, dann wieder Stille. Fast träge saugen
sie wohlig das Leben wie ein sattes Baby an der Mutterbrust. Blau ist der
Himmel, blau ist das Meer. Gelb ist die Sonne, gelb ist der Strand. Blau und
Gelb brennen sich in Erikas Seele, das Leben, das Dasein, einfach nur da sein.
Sie müssen zurück. Erst noch mal zwei Tage Istanbul, dann
der Zug. Diesmal steigen sie mit einer großen Fresstüte von der Großmutter ein.
Die Tage im Zug sind natürlich auch wieder anstrengend, aber sie sind auch ein
guter Korridor. Abschied nehmen vom Urlaub und sich der Zukunft zu wenden, das
machen sie. Mit jedem Kilometer, den der Zug fährt, kommt ihr neues Leben
näher. Sie haben keine Angst, aber Respekt. Jetzt sind sie erwachsen, sie
müssen ihr Leben in die Hand nehmen, auf eigenen Füssen stehen. Wie wird das
alles, in der neuen Stadt, so weit weg von den Eltern, der Familie. Nur sie
Zwei, keine Freunde, keine Verwandten, wird das eine Feuerprobe für ihre
Freundschaft? Kindheit und Schulzeit sind vorbei, die neue Zeit- das ist ihr
ganzes Leben, das da vor ihnen steht. Eine leere Straße, sonnig, schöne
Landschaft, aber das Bild hat keine Tiefe. Da ist gleich ein Hügel, der den
Blick auf die Zukunft verstellt. Es ist ein Weg ins Ungewisse. Aber sie gehen
ihn zu Zweit und erstmal Hand in Hand. Das ist gut. Erika ist nicht beherzt,
aber neugierig und mit Fatma an der Hand traut sie sich…
Liebe Leser. Die Geschichte ist hier zu Ende. Ich will was
Neues schreiben, habe aber noch nicht angefangen. Es wird wohl dauern. Keine
Ahnung, wie lange.
Vielen Dank fürs Lesen. Das war für mich ganz wichtig
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen