Ich muss gerade dran denken, wie meinem Kind damals fast
etwas zugestoßen wäre. Oh, Mann, das war knapp. Wenn ich daran denke wird mir
ganz komisch, Herzklopfen, Druck im Hals, da will was in mir platzen… Naja. Es
war ja nichts, die Anderen hatten gut auf sie aufgepasst… ich muss dankbar
sein. Die Vorstellung, dass ihr etwas zustößt, ist viel schlimmer, als was
immer mir zustoßen kann. Ich möchte ihre Seele einbalsamieren, auch für alles,
was ich ihr angetan habe. Unwillentlich, unaufmerksam, getrieben von unguten,
unreflektierten Gefühlen. Die eigene Mutter ist der größte Feind des Kindes.
Nicht Feind, Antuer. Wenn ich diese These in meinem Freundeskreis aufstelle,
besonders bei Müttern, ernte ich keine Anerkennung. Ich werde niedergemacht.
Alle gegen Einen. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit mein Statement
angemessen auszubreiten, die Empörung ist zu groß.
Und doch, die meisten Narben, die sie hat, werden wohl von
mir sein. Wenn sie mal älter ist, stelle ich mir das vor wie bei der „Herbstsonate“,
dem Film von Ingmar Bergmann. Ich kann mich gar nicht so genau an den Film
erinnern, aber vielleicht wird es auch mal so eine richtige Auseinandersetzung geben.
Wohlmöglich bekomme ich dann irgendwas vorgehalten, an das ich mich überhaupt
nicht mehr erinnern kann, das sich ihr aber tief eingegraben hat. Ich sollte
mir den Film mal wieder anschauen, ich
habe das Equipment nicht, sonst würde ich ihn direkt jetzt einschalten.
Vielleicht fände ich ihn strunz langweilig. Wie das so ist, mit alten Filmen,
manchmal. Ich erinnere mich jedenfalls, dass meine Mutter den Film damals furchtbar fand:
„hach…schrecklich!“ Das allein macht
mich ganz neugierig. Ist der Film wohl nah an der Wirklichkeit? Meine Mutter
hatte es ja nicht so mit der Wirklichkeit, sie liebte die Illusion, fand immer
jemanden, der sie ihr bestätigte. Ja, kann sein, der Film war
desillusionierend: eine Mutter, die ihr Bestes gibt, alles versucht, und das
dann von der Tochter um die Ohren gehauen bekommt. Und warum bin ich da so
eifrig neugierig? Ich bilde mir wohl mal wieder ein gut abzuschneiden. „Ach,
Mama, du bist doch die Beste!“ Jede Mama, egal was sie macht, ist zeitweilig
die beste Mama der Welt. Kinder werden kritiklos geboren, distanzlos auch und
eben auch schutzlos. Sie sind ungeschützt ihrer Mutter ausgeliefert. Ich weiß,
ich erzähle keine Neuigkeiten, vor Jahrzehnten hat Alice Miller das schon alles
geklärt. „Am Anfang war Erziehung“ , ein toller Titel. Jetzt amüsiert es mich,
in der Erinnerung, wie sehr sie sich über das vierte Gebot ausgekotzt hat.
Danach, viel später, kam dann Hellinger: ohne Wurzeln keine Flügel. Beides
finde ich wahr, zusammen ist es wahr. Ich stehe in der Mitte. Ich habe eine
Mutter und eine Tochter. Beide Beziehungen versuche ich klar zu sehen. Mit der
Mutter scheint es schon ordentlich abgearbeitet. Ich fühlte mich so lange so
liebevoll angebunden. Ich war schon einiges über 20 und brauchte auch noch
Hilfe von Freundinnen um mal genauer hinzuschauen. Ein Prozess, von dem ich
immer noch nicht das Gefühl habe, dass er abgeschlossen ist. Klarheit, über
das, was sie mir angetan hat, im besten Gewissen; und gleichzeitig die Drehung
zur liebevollen Zuwendung. Ich sehe eine verknorzte Wurzel, das ist eine
Turnübung für Schlangenmenschen! Oder ein eineinhalbfacher Rittberger von 10
Meter Turm. Klarheit beim Absprung, dann die Wurzelübung, Eintauchen in der
liebevollen Zuwendung. Das unfassbar Traurige ist, meine Mutter lebt zwar noch,
ist aber nicht mehr erreichbar, jedenfalls nicht für solche Gespräche. Ich
bleibe mit all dem für mich. Ich kann sie auch mit meiner Liebe nicht mehr
finden, oder ich kann meine Liebe kaum noch finden. Vor einigen Tagen hatte ich
einen Traum: Wir saßen hoch über dem Meer, schauten auf das sonnige Blau, ich
war erbost über meinen Bruder. Meine Mutter machte mitfühlende Grunzlaute, an
denen ich erkennen konnte, dass sie meine Gefühlslage versteht. Gleichzeitig
wusste ich, dass sie sehr alt ist und bald sterben wird. Von meinem verzweifelten
Schluchzen wachte ich auf. Ich musste noch ein bisschen in meinem Bett weinen.
Dann verblasste das Bild. Meine Mutter ist sehr alt und wird hoffentlich bald
sterben. Sie wünscht sich das, ich wünsche ihr das. Ihr Leben strengt sie an
und bereitet ihr keine Freude mehr. „Es ist einfach ekkelhaft…“, sagt sie. Ihre
Demenz kommt unauffällig aus allen Ecken, macht sie klein, sie kämpft um
Kontrolle. Komplexe Gedanken kann sie schon lange nicht mehr denken, oder
verstehen. Wie lange, weiß ich nicht, aber ich habe den Moment verpasst. Nach
Vaters Tod hatte ich mir geschworen, dass mir das nicht wieder passiert: dass
mir ein Mensch wegstirbt, ohne dass die wichtigen Dinge ausgesprochen wurden.
Schon vor einiger Zeit musste ich mir eingestehen, dass es wieder passieren
wird: sie wird sterben, ohne dass wir über die wichtigen Dinge gesprochen
haben.
Eifrige Neugierde habe ich das vorhin genannt. Falsch.
Dieses Gespräch habe ich mit meiner Mutter verpasst. Mit meiner Tochter soll es
stattfinden. Das wünsche ich mir. Eifer wird mir da nicht helfen, ich denke,
den Zeitpunkt legt sie fest. Und neugierig bin ich auch nicht. Ich wünsche es
mir einfach
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