Montag, 7. September 2015

Herbstsonate

Ich muss gerade dran denken, wie meinem Kind damals fast etwas zugestoßen wäre. Oh, Mann, das war knapp. Wenn ich daran denke wird mir ganz komisch, Herzklopfen, Druck im Hals, da will was in mir platzen… Naja. Es war ja nichts, die Anderen hatten gut auf sie aufgepasst… ich muss dankbar sein. Die Vorstellung, dass ihr etwas zustößt, ist viel schlimmer, als was immer mir zustoßen kann. Ich möchte ihre Seele einbalsamieren, auch für alles, was ich ihr angetan habe. Unwillentlich, unaufmerksam, getrieben von unguten, unreflektierten Gefühlen. Die eigene Mutter ist der größte Feind des Kindes. Nicht Feind, Antuer. Wenn ich diese These in meinem Freundeskreis aufstelle, besonders bei Müttern, ernte ich keine Anerkennung. Ich werde niedergemacht. Alle gegen Einen. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit mein Statement angemessen auszubreiten, die Empörung ist zu groß.
Und doch, die meisten Narben, die sie hat, werden wohl von mir sein. Wenn sie mal älter ist, stelle ich mir das vor wie bei der „Herbstsonate“, dem Film von Ingmar Bergmann. Ich kann mich gar nicht so genau an den Film erinnern, aber vielleicht wird es auch mal so eine richtige Auseinandersetzung geben. Wohlmöglich bekomme ich dann irgendwas vorgehalten, an das ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann, das sich ihr aber tief eingegraben hat. Ich sollte mir den Film mal wieder anschauen,  ich habe das Equipment nicht, sonst würde ich ihn direkt jetzt einschalten. Vielleicht fände ich ihn strunz langweilig. Wie das so ist, mit alten Filmen, manchmal. Ich erinnere mich jedenfalls, dass meine  Mutter den Film damals furchtbar fand: „hach…schrecklich!“ Das  allein macht mich ganz neugierig. Ist der Film wohl nah an der Wirklichkeit? Meine Mutter hatte es ja nicht so mit der Wirklichkeit, sie liebte die Illusion, fand immer jemanden, der sie ihr bestätigte. Ja, kann sein, der Film war desillusionierend: eine Mutter, die ihr Bestes gibt, alles versucht, und das dann von der Tochter um die Ohren gehauen bekommt. Und warum bin ich da so eifrig neugierig? Ich bilde mir wohl mal wieder ein gut abzuschneiden. „Ach, Mama, du bist doch die Beste!“ Jede Mama, egal was sie macht, ist zeitweilig die beste Mama der Welt. Kinder werden kritiklos geboren, distanzlos auch und eben auch schutzlos. Sie sind ungeschützt ihrer Mutter ausgeliefert. Ich weiß, ich erzähle keine Neuigkeiten, vor Jahrzehnten hat Alice Miller das schon alles geklärt. „Am Anfang war Erziehung“ , ein toller Titel. Jetzt amüsiert es mich, in der Erinnerung, wie sehr sie sich über das vierte Gebot ausgekotzt hat. Danach, viel später, kam dann Hellinger: ohne Wurzeln keine Flügel. Beides finde ich wahr, zusammen ist es wahr. Ich stehe in der Mitte. Ich habe eine Mutter und eine Tochter. Beide Beziehungen versuche ich klar zu sehen. Mit der Mutter scheint es schon ordentlich abgearbeitet. Ich fühlte mich so lange so liebevoll angebunden. Ich war schon einiges über 20 und brauchte auch noch Hilfe von Freundinnen um mal genauer hinzuschauen. Ein Prozess, von dem ich immer noch nicht das Gefühl habe, dass er abgeschlossen ist. Klarheit, über das, was sie mir angetan hat, im besten Gewissen; und gleichzeitig die Drehung zur liebevollen Zuwendung. Ich sehe eine verknorzte Wurzel, das ist eine Turnübung für Schlangenmenschen! Oder ein eineinhalbfacher Rittberger von 10 Meter Turm. Klarheit beim Absprung, dann die Wurzelübung, Eintauchen in der liebevollen Zuwendung. Das unfassbar Traurige ist, meine Mutter lebt zwar noch, ist aber nicht mehr erreichbar, jedenfalls nicht für solche Gespräche. Ich bleibe mit all dem für mich. Ich kann sie auch mit meiner Liebe nicht mehr finden, oder ich kann meine Liebe kaum noch finden. Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum: Wir saßen hoch über dem Meer, schauten auf das sonnige Blau, ich war erbost über meinen Bruder. Meine Mutter machte mitfühlende Grunzlaute, an denen ich erkennen konnte, dass sie meine Gefühlslage versteht. Gleichzeitig wusste ich, dass sie sehr alt ist und bald sterben wird. Von meinem verzweifelten Schluchzen wachte ich auf. Ich musste noch ein bisschen in meinem Bett weinen. Dann verblasste das Bild. Meine Mutter ist sehr alt und wird hoffentlich bald sterben. Sie wünscht sich das, ich wünsche ihr das. Ihr Leben strengt sie an und bereitet ihr keine Freude mehr. „Es ist einfach ekkelhaft…“, sagt sie. Ihre Demenz kommt unauffällig aus allen Ecken, macht sie klein, sie kämpft um Kontrolle. Komplexe Gedanken kann sie schon lange nicht mehr denken, oder verstehen. Wie lange, weiß ich nicht, aber ich habe den Moment verpasst. Nach Vaters Tod hatte ich mir geschworen, dass mir das nicht wieder passiert: dass mir ein Mensch wegstirbt, ohne dass die wichtigen Dinge ausgesprochen wurden. Schon vor einiger Zeit musste ich mir eingestehen, dass es wieder passieren wird: sie wird sterben, ohne dass wir über die wichtigen Dinge gesprochen haben.

Eifrige Neugierde habe ich das vorhin genannt. Falsch. Dieses Gespräch habe ich mit meiner Mutter verpasst. Mit meiner Tochter soll es stattfinden. Das wünsche ich mir. Eifer wird mir da nicht helfen, ich denke, den Zeitpunkt legt sie fest. Und neugierig bin ich auch nicht. Ich wünsche es mir einfach

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen