Fatma steht in der Haustür, sie ist ganz schön fertig:
„Erika, Mama ist mit dem Staubsauger auf mich losgegangen, mir reichts, ich
will da weg!“ Erika ist mitfühlend, aber auch euphorisch, endlich zieht Fatma
Konsequenzen, endlich kann Erika was für sie tun. Erika ist gut vernetzt und
durch Otto hat sie einige Freunde, die schon eine eigene Wohnung haben. Sie
reißt sich am Riemen, sie kann ja schlecht freudig erregt sein, wenn Fatma so
kaputt ist. Sie legt das ich-checke-alles-Gesicht auf und geht schon mal im
Kopf die Wohnmöglichkeiten durch, noch bevor die weinende Fatma auf ihrem Bett Platz
genommen hat. Hier zu Hause ist ja wirklich Platz genug und das wäre für Erika
auch das Allerschönste, Fatma hier zu haben, wie eine Schwester. Aber ihr
Vater…, dann auch die Mutter, die ja zu Fatma kein herzliches Verhältnis hat,
das Wichtigste ist allerdings, sie sind zu nah dran. Erika lässt Fatma erstmal
Zeit sich zu beruhigen, Zeit…Zeit gibt es jetzt ja genug, wenn ihre Eltern
Fatma nicht mehr drangsalieren, dann haben sie alle Zeit der Welt. Sie
entscheiden sich Harald zu fragen, Erika wird das machen, das muss schnell
gehen.
Schon am gleichen Abend steht Fatmas Vater vor der Tür.
Erika lügt ihm scheinbar entspannt ins Gesicht, sie weiß nichts von Fatma. Er
kann ja schlecht das Haus durchsuchen, er muss unverrichteter Dinge wieder
gehen, Erika fühlt nichts, es geht ausschließlich darum Fatma zu schützen. Am
nächsten Vormittag schwänzen die Beiden die Schule, suchen in Fatmas Wohnung
die wichtigen Dinge zusammen und ab geht’s zu Harald, den Wohnungsschlüssel hat
Erika schon organisiert. Erika fühlt sich großartig, sie ist wichtig, sie ist
die Helferin, sie ist der Checker. Sie verbringt viel Zeit bei Fatma, in ihrem
neuen Domizil. Fatma hat kein eigenes Zimmer, sie muss im Wohnzimmer schlafen,
kein Rückzugsraum, keine Privatsphäre, in dieser Umgebung muss sie ihr Abi
machen. Erika weiß, dass das schwierige Umstände sind, sie versucht was sie
kann, um es Fatma leichter zu machen. Gleichzeitig genießt sie Fatmas neue Freiheit,
Fatma kommt jetzt nicht mehr zu ihr, das ist zu nah an ihren Eltern, aber sie
wohnt jetzt mitten in der Stadt, Erika geht gerne hin. Sie hören Haralds Musik
durch. Da ist lustigerweise viel deutsches Zeug, aber gar nicht schlecht. Georg
Danzer gefällt beiden, Fatma geht auf Billy Joel ab, es gibt auch viele
Klassikplatten. Sie hören Strawinsky, Fatma findet den Feuervogel toll, Erika
die Psalmenmusik.
Der Edeka ist
gegenüber der Schule, dort kaufen sie ein bevor sie zu Fatma gehen. Sie haben
gerade bezahlt, als Acar den Laden betritt. Alle Drei sind überrascht. Fatma
ist wie paralysiert, Erika kann das in
ihrem Gesicht sehen. Auch der Körper, die Bewegungen sind völlig verlangsamt,
das Gesicht bewegungslos, scheinbar schielt sie. Fatma schafft jetzt gar
nichts, das erkennt Erika sofort. Der Vater stürzt nach dem Schreck-Moment auf
Fatma zu, Erika stellt sich vor sie und baut so Abstand zwischen den Beiden
auf. Acar versucht an Erika vorbeizukommen, Erika lässt das nicht zu, Fatma schafft
es hinter Erika zu bleiben. Die Drei machen eine Art Tanz in der Eingangszone
des Edekas. Erika ist mit voller Kraft auf Fatmas Vater konzentriert. Sie sagt
kein Wort, aber innerlich schreit sie: du-kommst-hier-nicht-vorbei-! Der Vater
verlegt sich aufs Schimpfen, auf Türkisch, Erika versteht kein Wort, aber sie
wird schon entspannter, der Vater hat aufgegeben. Fatma hat sich noch nicht
gefangen, Erika schirmt sie weiter ab und schickt sie jetzt raus, sie soll
gehen. Sie weiß jetzt, Acar wird hier keine Gewalt anwenden. Als Fatma draußen
ist, wendet Acar sich dem Drehkreuz zu, Erika wartet noch einen Moment, dann
geht sie auch. Sie treffen sich in Haralds Wohnung. Beide verlieren kein Wort
über das Erlebte.
Erika ist mitfühlend und fühlt sich so wohl in ihrer Rolle. Sie
ist so wunderbar wichtig, Fatmas Dasein hängt an Erika. Das Geld für Fatmas
Leben kommt aus der kleinen Vase in Erikas Zimmer, also von ihrem Vater. Erika
fühlt sich groß, großartig, es ist so symbiotisch, der Mond ist rund und voll.
So soll es eigentlich für immer bleiben. Sie will gar keine Dankbarkeit, sie
tut alles, damit Fatma sich nicht abhängig fühlt, aber sie weiß nicht, wie
erfolgreich sie dabei ist, sie sprechen nicht darüber. Fatma hält alles einfach
aus, wie es ihr dabei geht, sagt sie nicht. Wann immer Zeit ist, fahren die
Zwei weg. Fatma hat immer Lust dazu, das ist wohl auch ein Weg der Situation in
Haralds Wohnzimmer zu entrinnen. Sie fahren übers Wochenende zu Freunden von
Erika, nach Göttingen zum Beispiel, in den Ferien fahren sie weiter weg, alles
finanziert der Vater über die Vase. In den Pfingstferien, vor ihrem mündlichen
Abitur, fahren sie nach Südtirol. Sie bekommen Unterkunft in dem Gasthaus von
Peters Eltern. Was für eine unfassbare Situation. Mit Fatma an der Seite
schafft Erika es, nochmal an diese schreckliche Geschichte heranzugehen. Sie
freunden sich mit der ganzen Familie an, außer Peter, sie helfen in der Küche,
brauchen die Unterkunft nicht zu bezahlen. Mit einem älteren Bruder von Peter
verstehen sie sich richtig gut, gehen abends mit ihm aus. Dann fahren sie
schnell mal nach Hause und machen ihr Abitur fertig. Fatma kriegt das ganz gut
hin, Erika ist beeindruckt, wie zielstrebig Fatma immer noch sein konnte,
Erikas Abi ist die schlimmste Hängepartie aller Zeiten, aber sie hat den Wisch,
Scheiß drauf. Bis zur offiziellen Abi-Feier fahren sie wieder nach Südtirol.
Sie werden in diesem Jahr insgesamt vier Mal in Südtirol sein, sie werden sich
so eng mit der Familie anfreunden, dass sie auch abends im Wohnzimmer sitzen
werden. Sie werden im November dort sein, wenn die Gegend für Touristen schon
geschlossen ist, wenn der Landstrich Winterschlaf hält, so ruhig und
ausgestorben, wie man es sich niemals hätte vorstellen können. Dann wird das
Wohnzimmer wohlig warm vom Kachelofen beheizt sein und alle werden ganz viel
Zeit haben. Erika wird mit Fatmas Unterstützung in dieser Zeit zu dieser immer noch offenen
Wunde zurückkehren können. Obwohl Peter kaum anzutreffen ist, kann sie daran
arbeiten, Fatma hält ihr dabei die Hand. Naja, arbeiten ist wohl ein bisschen
hochgegriffen, aber sie ist konfrontiert, sie sieht ihn manchmal, kann ein paar
Worte mit ihm wechseln und so. Sie fühlt sich immer noch ganz stark zu ihm
hingezogen, aber sie hält das unterm Deckel. Später wird sie mal ein Bild von
ihrem jungen Vater sehen und feststellen, dass Peter wie er aussieht. Diese
Familie zu erleben ist auch interessant. Die Leute sind herzlich und nett zu
Fatma und Erika, aber sie sind auch so gut miteinander. Die meisten der sieben
Kinder sind schon erwachsen und ausgezogen, aber alle sind sehr präsent. Der
Vater ist Alkoholiker, hat schon einen großen Gasthof versoffen und ist auf dem
besten Weg den restlichen Besitz auch noch auszutrinken. Erika spürt aber keine
Wut, oder Verzweiflung, eher so ein „es ist wie es ist“ und alle versuchen das
Beste daraus zu machen. Sie sind einfach in Liebe verbunden. Erika würde sich
gerne für immer in diesem Nest einrichten und die Wärme dieser großen Mutter
genießen.
Zurück in ihrem Kaff planen Fatma und Erika ihre Zukunft.
Die Vielzahl an Möglichkeiten ist fast lähmend. Mit dem Studienführer in der
Hand versuchen sie eine engere Auswahl zu finden. Fatma will Geschichte
studieren, Erika weiß eigentlich gar nichts, naja, sie will mit Fatma zusammen
ihre Zukunft planen und sie will ganz weit weg. Ihr Vater soll nicht mehr nach
ihr greifen können und ihre Mutter soll großes Heiopei um sie machen, wenn sie
doch mal nach Hause kommt. Sie entscheiden sich für eine Stadt in einer Ecke
Deutschlands, dort fahren sie hin, um sich das mal anzuschauen. Sie sehen eine
lebensgroße Puppenstube, alles ist so nett, adrett und aufgeräumt, sehr
niedlich. Sie schreiben sich ein, damit wäre das entschieden und sie können
sich wieder der Freizeit zuwenden. Fatma will arbeiten und Geld verdienen,
nachvollziehbar, also macht Erika das auch. Sie kriegt einen Job als
Zimmermädchen in einem renommierten Hotel in Hannover. Erika ist schockiert,
Lohnarbeit, sie spürt das Joch so schwer. Ihre Freizeit könnte sie mit Heulen
zubringen, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit muss, diese
Fremdbestimmung, das ist wie Knast. Mit Hängen und Würgen schafft sie sechs
Wochen, das Geld ist viel zu wenig für den Stress, den sie hatte. Den Betrag
könnte sie in einer Woche aus des Vaters Geldbörse hervorzaubern.
Die restliche Zeit, bis sie in der neuen Stadt ihr neues
Leben beginnen wollen, fahren sie in die Türkei. In München steigen sie in den
Zug, das ist für einige Tage ihr neues Zuhause. Glücklicherweise wird Erika mit
Fatma eigentlich nie langweilig. Sie sind ja so schlecht auf diese Fahrt
vorbereitet, sie haben gar keinen Proviant dabei, schon in Österreich stehen
sie auf dem Schlauch, Erika fragt sich was wohl in Jugoslawien und Bulgarien sein
wird, ihr Wasserfläschchen ist auch schon leer. Erika würde gerne ihre
Turnschuhe ausziehen, aber wegen ihrer Käsefüße traut sie sich das nicht. In
ihrem Abteil sitzen noch einige komische Kerle aus Köln, die lachen sich
andauernd über Witze kaputt, die nicht witzig sind und trinken Bier. Draußen
ist es schon dunkel, es gibt nichts mehr zu sehen, Fatma hat das Abteil
verlassen, Erika fühlt sich verlassen. Das muss sie jetzt so aushalten,
tagelang muss sie aushalten, auf ihrem Arsch sitzen und warten, dass sie
irgendwann in Istanbul ankommt, bis dahin: aushalten. Fatma holt Erika ab und
führt sie einige Abteile weiter. Dort sitzt eine türkische Familie, sie werden
herzlich empfangen. Ein Picknick ist ausgebreitet: kalte Buletten, Gemüse,
Brot, Joghurt, Wasser und Saft. Fatma übersetzt kurz: „wir sollen uns reichlich
bedienen, es ist genug da!“ Dann unterhält sie sich wieder angeregt mit der
Frau. Erika lässt sich das nicht zweimal sagen, alles schmeckt wunderbar. Beim
Essen hört sie der fremden Sprache zu, versucht ein freundliches Gesicht zu
machen, lächelt, wenn sie angelächelt wird. So fühlt sich die Zugfahrt schon
besser an und so bleibt es auch. Fatma organisiert alle Mahlzeiten, sie werden
rund und satt in Istanbul aus dem Zug steigen. Oft stehen sie auf dem Flur und
unterhalten sich, in ihr Abteil kehren sie eigentlich nur zum Schlafen zurück.
Das geht dann wie die Ölsardinen, so nah an fremden Männern, schwer zu
ertragen. Mitten in der Nacht wacht Erika von schrecklichen Schmerzen auf, ein
bulgarischer Zollbeamter hat ihr mit dem Griff seiner Pistole auf den Knöchel
geschlagen. Sie versteht. Sie soll ihre Schuhe ausziehen. Der Bulgare schützt
die Polster des deutschen Zuges, vielen Dank. An der türkischen Grenze bleibt
der Zug lange stehen. Zollbeamte laufen hin und her, Fatma und Erika werden
herausgebeten. Sie sitzen im Bahnhofsgebäude bei einem Herren zum Tee. Erika
versteht wieder gar nichts, trinkt ihren Tee und fragt sich, was wohl jetzt
wieder abgeht. Fatma unterhält sich mit dem Mann, es gibt noch mehr Tee, völlig
unklar ist, wann dieser Zug wohl weiterfahren wird. Erika macht sich Sorgen,
dass der Zug ohne sie abfahren könnte, aber Fatma beruhigt sie schnell, ihr
Gesprächspartner entscheidet hier alles, sie werden schon rechtzeitig ihren Tee
austrinken. Erika spürt bei Fatma, dass die Situation nicht entspannt ist, so
sitzt sie ruhig da, hat alle Antennen ausgefahren, beobachtet unauffällig den
Mann, der eigentlich ganz freundlich wirkt. Erika ist erleichtert, als sie
wieder zum Zug geführt werden, der sich bald in Bewegung setzt. Fatma erläutert
die Situation: der Mann wollte sie aushorchen, aber Fatma hat das gut
gemeistert. Erika sagt dazu nichts, aber sie fragt sich mal wieder, ob Fatma
vielleicht manchmal ein bisschen paranoid ist. Möglicherweise hatte der Mann
Lust sich mitten in der Nacht mit einer gutaussehenden jungen Türkin zu
unterhalten.
Am hellen Vormittag
fahren in diese fremde Stadt hinein, Fatma ist ganz schön aufgedreht und zeigt
ständig auf Sehenswertes aus dem Fenster.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen