Montag, 23. November 2015

roter Mond II

Fatma steht in der Haustür, sie ist ganz schön fertig: „Erika, Mama ist mit dem Staubsauger auf mich losgegangen, mir reichts, ich will da weg!“ Erika ist mitfühlend, aber auch euphorisch, endlich zieht Fatma Konsequenzen, endlich kann Erika was für sie tun. Erika ist gut vernetzt und durch Otto hat sie einige Freunde, die schon eine eigene Wohnung haben. Sie reißt sich am Riemen, sie kann ja schlecht freudig erregt sein, wenn Fatma so kaputt ist. Sie legt das ich-checke-alles-Gesicht auf und geht schon mal im Kopf die Wohnmöglichkeiten durch, noch bevor die weinende Fatma auf ihrem Bett Platz genommen hat. Hier zu Hause ist ja wirklich Platz genug und das wäre für Erika auch das Allerschönste, Fatma hier zu haben, wie eine Schwester. Aber ihr Vater…, dann auch die Mutter, die ja zu Fatma kein herzliches Verhältnis hat, das Wichtigste ist allerdings, sie sind zu nah dran. Erika lässt Fatma erstmal Zeit sich zu beruhigen, Zeit…Zeit gibt es jetzt ja genug, wenn ihre Eltern Fatma nicht mehr drangsalieren, dann haben sie alle Zeit der Welt. Sie entscheiden sich Harald zu fragen, Erika wird das machen, das muss schnell gehen.
Schon am gleichen Abend steht Fatmas Vater vor der Tür. Erika lügt ihm scheinbar entspannt ins Gesicht, sie weiß nichts von Fatma. Er kann ja schlecht das Haus durchsuchen, er muss unverrichteter Dinge wieder gehen, Erika fühlt nichts, es geht ausschließlich darum Fatma zu schützen. Am nächsten Vormittag schwänzen die Beiden die Schule, suchen in Fatmas Wohnung die wichtigen Dinge zusammen und ab geht’s zu Harald, den Wohnungsschlüssel hat Erika schon organisiert. Erika fühlt sich großartig, sie ist wichtig, sie ist die Helferin, sie ist der Checker. Sie verbringt viel Zeit bei Fatma, in ihrem neuen Domizil. Fatma hat kein eigenes Zimmer, sie muss im Wohnzimmer schlafen, kein Rückzugsraum, keine Privatsphäre, in dieser Umgebung muss sie ihr Abi machen. Erika weiß, dass das schwierige Umstände sind, sie versucht was sie kann, um es Fatma leichter zu machen. Gleichzeitig genießt sie Fatmas neue Freiheit, Fatma kommt jetzt nicht mehr zu ihr, das ist zu nah an ihren Eltern, aber sie wohnt jetzt mitten in der Stadt, Erika geht gerne hin. Sie hören Haralds Musik durch. Da ist lustigerweise viel deutsches Zeug, aber gar nicht schlecht. Georg Danzer gefällt beiden, Fatma geht auf Billy Joel ab, es gibt auch viele Klassikplatten. Sie hören Strawinsky, Fatma findet den Feuervogel toll, Erika die Psalmenmusik.
 Der Edeka ist gegenüber der Schule, dort kaufen sie ein bevor sie zu Fatma gehen. Sie haben gerade bezahlt, als Acar den Laden betritt. Alle Drei sind überrascht. Fatma ist wie paralysiert, Erika kann das  in ihrem Gesicht sehen. Auch der Körper, die Bewegungen sind völlig verlangsamt, das Gesicht bewegungslos, scheinbar schielt sie. Fatma schafft jetzt gar nichts, das erkennt Erika sofort. Der Vater stürzt nach dem Schreck-Moment auf Fatma zu, Erika stellt sich vor sie und baut so Abstand zwischen den Beiden auf. Acar versucht an Erika vorbeizukommen, Erika lässt das nicht zu, Fatma schafft es hinter Erika zu bleiben. Die Drei machen eine Art Tanz in der Eingangszone des Edekas. Erika ist mit voller Kraft auf Fatmas Vater konzentriert. Sie sagt kein Wort, aber innerlich schreit sie: du-kommst-hier-nicht-vorbei-! Der Vater verlegt sich aufs Schimpfen, auf Türkisch, Erika versteht kein Wort, aber sie wird schon entspannter, der Vater hat aufgegeben. Fatma hat sich noch nicht gefangen, Erika schirmt sie weiter ab und schickt sie jetzt raus, sie soll gehen. Sie weiß jetzt, Acar wird hier keine Gewalt anwenden. Als Fatma draußen ist, wendet Acar sich dem Drehkreuz zu, Erika wartet noch einen Moment, dann geht sie auch. Sie treffen sich in Haralds Wohnung. Beide verlieren kein Wort über das Erlebte.
Erika ist mitfühlend und fühlt sich so wohl in ihrer Rolle. Sie ist so wunderbar wichtig, Fatmas Dasein hängt an Erika. Das Geld für Fatmas Leben kommt aus der kleinen Vase in Erikas Zimmer, also von ihrem Vater. Erika fühlt sich groß, großartig, es ist so symbiotisch, der Mond ist rund und voll. So soll es eigentlich für immer bleiben. Sie will gar keine Dankbarkeit, sie tut alles, damit Fatma sich nicht abhängig fühlt, aber sie weiß nicht, wie erfolgreich sie dabei ist, sie sprechen nicht darüber. Fatma hält alles einfach aus, wie es ihr dabei geht, sagt sie nicht. Wann immer Zeit ist, fahren die Zwei weg. Fatma hat immer Lust dazu, das ist wohl auch ein Weg der Situation in Haralds Wohnzimmer zu entrinnen. Sie fahren übers Wochenende zu Freunden von Erika, nach Göttingen zum Beispiel, in den Ferien fahren sie weiter weg, alles finanziert der Vater über die Vase. In den Pfingstferien, vor ihrem mündlichen Abitur, fahren sie nach Südtirol. Sie bekommen Unterkunft in dem Gasthaus von Peters Eltern. Was für eine unfassbare Situation. Mit Fatma an der Seite schafft Erika es, nochmal an diese schreckliche Geschichte heranzugehen. Sie freunden sich mit der ganzen Familie an, außer Peter, sie helfen in der Küche, brauchen die Unterkunft nicht zu bezahlen. Mit einem älteren Bruder von Peter verstehen sie sich richtig gut, gehen abends mit ihm aus. Dann fahren sie schnell mal nach Hause und machen ihr Abitur fertig. Fatma kriegt das ganz gut hin, Erika ist beeindruckt, wie zielstrebig Fatma immer noch sein konnte, Erikas Abi ist die schlimmste Hängepartie aller Zeiten, aber sie hat den Wisch, Scheiß drauf. Bis zur offiziellen Abi-Feier fahren sie wieder nach Südtirol. Sie werden in diesem Jahr insgesamt vier Mal in Südtirol sein, sie werden sich so eng mit der Familie anfreunden, dass sie auch abends im Wohnzimmer sitzen werden. Sie werden im November dort sein, wenn die Gegend für Touristen schon geschlossen ist, wenn der Landstrich Winterschlaf hält, so ruhig und ausgestorben, wie man es sich niemals hätte vorstellen können. Dann wird das Wohnzimmer wohlig warm vom Kachelofen beheizt sein und alle werden ganz viel Zeit haben. Erika wird mit Fatmas Unterstützung  in dieser Zeit zu dieser immer noch offenen Wunde zurückkehren können. Obwohl Peter kaum anzutreffen ist, kann sie daran arbeiten, Fatma hält ihr dabei die Hand. Naja, arbeiten ist wohl ein bisschen hochgegriffen, aber sie ist konfrontiert, sie sieht ihn manchmal, kann ein paar Worte mit ihm wechseln und so. Sie fühlt sich immer noch ganz stark zu ihm hingezogen, aber sie hält das unterm Deckel. Später wird sie mal ein Bild von ihrem jungen Vater sehen und feststellen, dass Peter wie er aussieht. Diese Familie zu erleben ist auch interessant. Die Leute sind herzlich und nett zu Fatma und Erika, aber sie sind auch so gut miteinander. Die meisten der sieben Kinder sind schon erwachsen und ausgezogen, aber alle sind sehr präsent. Der Vater ist Alkoholiker, hat schon einen großen Gasthof versoffen und ist auf dem besten Weg den restlichen Besitz auch noch auszutrinken. Erika spürt aber keine Wut, oder Verzweiflung, eher so ein „es ist wie es ist“ und alle versuchen das Beste daraus zu machen. Sie sind einfach in Liebe verbunden. Erika würde sich gerne für immer in diesem Nest einrichten und die Wärme dieser großen Mutter genießen.
Zurück in ihrem Kaff planen Fatma und Erika ihre Zukunft. Die Vielzahl an Möglichkeiten ist fast lähmend. Mit dem Studienführer in der Hand versuchen sie eine engere Auswahl zu finden. Fatma will Geschichte studieren, Erika weiß eigentlich gar nichts, naja, sie will mit Fatma zusammen ihre Zukunft planen und sie will ganz weit weg. Ihr Vater soll nicht mehr nach ihr greifen können und ihre Mutter soll großes Heiopei um sie machen, wenn sie doch mal nach Hause kommt. Sie entscheiden sich für eine Stadt in einer Ecke Deutschlands, dort fahren sie hin, um sich das mal anzuschauen. Sie sehen eine lebensgroße Puppenstube, alles ist so nett, adrett und aufgeräumt, sehr niedlich. Sie schreiben sich ein, damit wäre das entschieden und sie können sich wieder der Freizeit zuwenden. Fatma will arbeiten und Geld verdienen, nachvollziehbar, also macht Erika das auch. Sie kriegt einen Job als Zimmermädchen in einem renommierten Hotel in Hannover. Erika ist schockiert, Lohnarbeit, sie spürt das Joch so schwer. Ihre Freizeit könnte sie mit Heulen zubringen, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit muss, diese Fremdbestimmung, das ist wie Knast. Mit Hängen und Würgen schafft sie sechs Wochen, das Geld ist viel zu wenig für den Stress, den sie hatte. Den Betrag könnte sie in einer Woche aus des Vaters Geldbörse hervorzaubern.
Die restliche Zeit, bis sie in der neuen Stadt ihr neues Leben beginnen wollen, fahren sie in die Türkei. In München steigen sie in den Zug, das ist für einige Tage ihr neues Zuhause. Glücklicherweise wird Erika mit Fatma eigentlich nie langweilig. Sie sind ja so schlecht auf diese Fahrt vorbereitet, sie haben gar keinen Proviant dabei, schon in Österreich stehen sie auf dem Schlauch, Erika fragt sich was wohl in Jugoslawien und Bulgarien sein wird, ihr Wasserfläschchen ist auch schon leer. Erika würde gerne ihre Turnschuhe ausziehen, aber wegen ihrer Käsefüße traut sie sich das nicht. In ihrem Abteil sitzen noch einige komische Kerle aus Köln, die lachen sich andauernd über Witze kaputt, die nicht witzig sind und trinken Bier. Draußen ist es schon dunkel, es gibt nichts mehr zu sehen, Fatma hat das Abteil verlassen, Erika fühlt sich verlassen. Das muss sie jetzt so aushalten, tagelang muss sie aushalten, auf ihrem Arsch sitzen und warten, dass sie irgendwann in Istanbul ankommt, bis dahin: aushalten. Fatma holt Erika ab und führt sie einige Abteile weiter. Dort sitzt eine türkische Familie, sie werden herzlich empfangen. Ein Picknick ist ausgebreitet: kalte Buletten, Gemüse, Brot, Joghurt, Wasser und Saft. Fatma übersetzt kurz: „wir sollen uns reichlich bedienen, es ist genug da!“ Dann unterhält sie sich wieder angeregt mit der Frau. Erika lässt sich das nicht zweimal sagen, alles schmeckt wunderbar. Beim Essen hört sie der fremden Sprache zu, versucht ein freundliches Gesicht zu machen, lächelt, wenn sie angelächelt wird. So fühlt sich die Zugfahrt schon besser an und so bleibt es auch. Fatma organisiert alle Mahlzeiten, sie werden rund und satt in Istanbul aus dem Zug steigen. Oft stehen sie auf dem Flur und unterhalten sich, in ihr Abteil kehren sie eigentlich nur zum Schlafen zurück. Das geht dann wie die Ölsardinen, so nah an fremden Männern, schwer zu ertragen. Mitten in der Nacht wacht Erika von schrecklichen Schmerzen auf, ein bulgarischer Zollbeamter hat ihr mit dem Griff seiner Pistole auf den Knöchel geschlagen. Sie versteht. Sie soll ihre Schuhe ausziehen. Der Bulgare schützt die Polster des deutschen Zuges, vielen Dank. An der türkischen Grenze bleibt der Zug lange stehen. Zollbeamte laufen hin und her, Fatma und Erika werden herausgebeten. Sie sitzen im Bahnhofsgebäude bei einem Herren zum Tee. Erika versteht wieder gar nichts, trinkt ihren Tee und fragt sich, was wohl jetzt wieder abgeht. Fatma unterhält sich mit dem Mann, es gibt noch mehr Tee, völlig unklar ist, wann dieser Zug wohl weiterfahren wird. Erika macht sich Sorgen, dass der Zug ohne sie abfahren könnte, aber Fatma beruhigt sie schnell, ihr Gesprächspartner entscheidet hier alles, sie werden schon rechtzeitig ihren Tee austrinken. Erika spürt bei Fatma, dass die Situation nicht entspannt ist, so sitzt sie ruhig da, hat alle Antennen ausgefahren, beobachtet unauffällig den Mann, der eigentlich ganz freundlich wirkt. Erika ist erleichtert, als sie wieder zum Zug geführt werden, der sich bald in Bewegung setzt. Fatma erläutert die Situation: der Mann wollte sie aushorchen, aber Fatma hat das gut gemeistert. Erika sagt dazu nichts, aber sie fragt sich mal wieder, ob Fatma vielleicht manchmal ein bisschen paranoid ist. Möglicherweise hatte der Mann Lust sich mitten in der Nacht mit einer gutaussehenden jungen Türkin zu unterhalten.

 Am hellen Vormittag fahren in diese fremde Stadt hinein, Fatma ist ganz schön aufgedreht und zeigt ständig auf Sehenswertes aus dem Fenster.

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