Der Platz am Schreibtisch, sie guckt aus dem Fenster. Der
Blick über die Rasenfläche zur Straße. Wie immer passiert da gar nichts. Sie
guckt weiter und streicht gedankenverloren über die Oberfläche ihres
Schreibtischs. Innerlich ist sie mit ihrem Absturz ins Bodenlose beschäftigt.
Nicht liebenswert, nichts Besonderes, Erika, das unförmige, leere Fass. Doch heute ist etwas anders. Sie fühlt den
Lack auf dem Holz des Schreibtischs. Den Schreibtisch hat Otto ihr zu
Weihnachten geschenkt. Es ist ein kleiner, alter Zeichentisch, den der Vater
schon vor langer Zeit aus seinem Büro aussortiert hatte. Eigentlich ist es nur
eine Holzplatte, die auf einem soliden Bock liegt. Otto hat die Platte lackiert.
Erika findet ihren Schreibtisch wunderschön, und wie sie über die Platte
streicht, sieht sie Otto beim Herrichten. Sie sieht Otto lackieren und lächeln.
Sie sieht, wie er sich drauf freut, ihr eine Freude zu bereiten. Sie kann sein
großes Herz sehen. Sie spürt seine Liebe und ihre eigene. In ihrem bodenlosen
Absturz ist da plötzlich eine Liane, an der sie sich halten kann. Sie kann kurz
verschnaufen und sich orientieren. Fatma! Erika liebt Fatma und sie hofft, dass
sie für Fatma wichtig ist. Schwups, da ist die nächste Liane. Aus zwei Lianen
kann sie sich eine Schaukel basteln. Sie war schon immer eine Akrobatin. Sie
schaukelt über dem gefährlichen Abgrund. Otto und Fatma! Es ist doch alles gut!
Auch wenn sie sich in sich selbst verliert, die Beiden, die sie liebt, finden
in ihr was, was sie nicht sehen kann. Aber sie kann doch vertrauensvoll sein.
Es ist eine Konstruktion, das ist ihr klar. Aber das ist
völlig egal, Hauptsache sie findet Halt in ihrem Absturz. Da muss was sein,
auch wenn sie es nicht weiß, wenn die Beiden sie mögen…das reicht doch. Da kann
sie entspannt schaukeln.
Otto macht schon wieder eine Party. Heute können sie es
ordentlich krachen lassen, die Eltern sind über Nacht außer Haus. Ein lauer
Frühlingsabend, die Party steigt nicht im Keller, wie sonst meistens, sondern
im Garten. Obwohl es keinen besonderen Anlass gibt, sind wieder alle Freunde
und Bekannte anwesend. Es gibt Bier und endlos Wein aus des Vaters Weinkeller,
auch über seine Schnapsbar hat der Vater keinen Überblick mehr, die Freunde
können sich bedienen. Die Küche ist so voll mit Leuten, dass man kaum noch
durchkommt, aber das kennt man ja, alle stehen am Trog. Michael ist mal wieder
frühzeitig voll und kotzt ins Waschbecken. Tja, nicht schön, der Abfluss ist
verstopft. Ekki rührt mit dem Finger das Erbrochene in den Ausguss, er lächelt
und sagt jedem, dass ihm das nichts ausmacht. Glaubwürdig, er will Medizin
studieren, da muss er mit Körperflüssigkeiten und sowas auskommen. Erika
beteiligt sich ausnahmsweise nicht an der allgemeinen Aufregung. Sie schlendert
mit Fatma durch den Garten. Fatma ist bei diesen Gartenfeiern zurückhaltend,
ihre Eltern könnten hinter der Gardine stehen und alles beobachten. Erika passt
das gut, sie will Fatma sowieso für sich haben, außerdem hat sie heute ein
besonderes Anliegen: „du hör mal, Fatma, ich muss dich was fragen! Ich muss
jetzt mal genau wissen, wie das ist, mit unserer Freundschaft!“ „Was soll sein, wir sind
Freundinnen.“ „Ja, ja. Ist schon
klar. Aber Freundin und Freundin ist nicht das Gleiche. Ich will wissen, welche
Bedeutung ich für dich habe. Du bist mir wichtig. Ich weiß, dass ich mich auf
dich verlassen kann, das bedeutet mir viel.“ Erika muss unauffällig dreimal
tief atmen, um ihre Aufregung zu kontrollieren. So stellt sie sich einen
Heiratsantrag vor. Sie hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt hat sie
Angst vor der Antwort. Fatma überlegt nicht lange: „weißt du, Erika, für mich
ist unsere Freundschaft was Besonderes, ich kann das aber nicht in Worte
fassen.“ Erika pustet. Glück kribbelt
durch ihren Körper, aber jetzt ist sie schon dabei, jetzt macht sie das noch zu
Ende: „Okay, das ist gut. Jetzt will ich noch wissen, wie das mit Otto ist. Mal
kommst du zu mir, mal zu Otto. Wer ist dir wichtiger?“ „Ja, der Otto. Mit Otto, das macht Spaß.
Otto ist lustig und das Gekuschel mit ihm ist nett und prickelt angenehm. Aber
Otto ist beliebig in seiner Anmache. Er probiert nur so ein bisschen herum, ich
fühle mich nicht wirklich gemeint. Dein Bruder ist toll, klar, aber er ist
nicht der Typ Mann, auf den ich abfahre. Wir probieren ein bisschen herum mit
Körperlichkeit und Nähe, und da ist auch was Eigenes, Otto und Fatma. Aber das
steht in keinem Vergleich, zu der Bedeutung, die unsere Freundschaft hat. Du
und ich.“ Erika ist still. Sie
überlässt sich dem Kribbeln. Fatmas Sätze schwingen angenehm durch ihr
Gehirn…du und ich…..kein Vergleich….Das tut gut. Erika schwebt über den Rasen.
Das ist auch sowas schönes an Fatma: sie muss nicht quatschen. Sie kann Stille
aushalten, oft redet sie nur, wenn sie wirklich was zu sagen hat. Erika kann sinnloses
Gequatsche nicht ausstehen. Davon wird ihr manchmal ganz flau im Magen. Erika
gibt sich ganz dem Wohlgefühl hin, immer noch lässt sie die süßen Sätze durch
ihr Hirn wabern. 16.05.79, vielleicht der Beginn einer wunderbaren
Freundschaft.
Beide gehen zurück auf die Terrasse und überlassen sich dem
Partygewusel. Da sind genügend interessante Jungs. Erika amüsiert sich
großartig, ein wunderbarer Abend. Fatmas Worte haben sich wie Schlagsahne auf
ihre Seele geschmiegt.
Als Erika am nächsten Morgen in die Küche kommt, ist Otto
schon da und hat schon mit dem Aufräumen begonnen. Wortlos gesellt sich Erika
dazu. Sie würde zwar viel lieber ihren Kater pflegen und erstmal in Ruhe
frühstücken, aber sie weiß genau, was Otto jetzt von ihr erwartet. Sie setzt
Kaffee auf und sammelt leere Flaschen ein. Dabei verschafft sie sich einen
Überblick über das Chaos. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schnarcht Michael, sonst
sind keine weiteren Schnapsleichen auffindbar. Auf dem grünen Teppich ist ein
großer Rotweinfleck, da muss eine Flasche umgefallen sein. Erika holt als
erstes Wasser und Salz um dem schon angetrockneten Fleck beizukommen. Alles
muss relativ schnell gehen. Gegen Mittag wird Tante Erna hier aufschlagen. Sie
kommt immer am Sonntagmittag, sie ist die Schwester vom Vater und liebt es ihn
mit Informationen zu versorgen. Wenn bis dahin nicht alles fertig ist, wird sie
wortlos den Lappen nehmen und helfen. Das macht einen netten Eindruck, sie ist
ja auch nett, aber Otto und Erika wollen unbedingt alle Spuren beseitigen bevor
sie kommt. Also Konzentration und Eifer! Mit dem Schädel ist das gar nicht so
einfach. Die gröbsten Spuren zuerst, dann die Kreise immer feiner ziehen,
kleine Unregelmäßigkeiten können ja schon mal sein. Nach zwei Stunden sieht
alles schon ganz gut aus, Erika weiß, dass sie Ottos Anforderungen entsprochen
hat, jetzt kann sie sich ganz entspannt der Zweisamkeit mit ihm beim Frühstück
hingeben. Was für ein wundervolles Wochenende
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