Samstag, 12. September 2015

Der rote Mond 16.05.79

Der Platz am Schreibtisch, sie guckt aus dem Fenster. Der Blick über die Rasenfläche zur Straße. Wie immer passiert da gar nichts. Sie guckt weiter und streicht gedankenverloren über die Oberfläche ihres Schreibtischs. Innerlich ist sie mit ihrem Absturz ins Bodenlose beschäftigt. Nicht liebenswert, nichts Besonderes, Erika, das unförmige, leere Fass.  Doch heute ist etwas anders. Sie fühlt den Lack auf dem Holz des Schreibtischs. Den Schreibtisch hat Otto ihr zu Weihnachten geschenkt. Es ist ein kleiner, alter Zeichentisch, den der Vater schon vor langer Zeit aus seinem Büro aussortiert hatte. Eigentlich ist es nur eine Holzplatte, die auf einem soliden Bock liegt. Otto hat die Platte lackiert. Erika findet ihren Schreibtisch wunderschön, und wie sie über die Platte streicht, sieht sie Otto beim Herrichten. Sie sieht Otto lackieren und lächeln. Sie sieht, wie er sich drauf freut, ihr eine Freude zu bereiten. Sie kann sein großes Herz sehen. Sie spürt seine Liebe und ihre eigene. In ihrem bodenlosen Absturz ist da plötzlich eine Liane, an der sie sich halten kann. Sie kann kurz verschnaufen und sich orientieren. Fatma! Erika liebt Fatma und sie hofft, dass sie für Fatma wichtig ist. Schwups, da ist die nächste Liane. Aus zwei Lianen kann sie sich eine Schaukel basteln. Sie war schon immer eine Akrobatin. Sie schaukelt über dem gefährlichen Abgrund. Otto und Fatma! Es ist doch alles gut! Auch wenn sie sich in sich selbst verliert, die Beiden, die sie liebt, finden in ihr was, was sie nicht sehen kann. Aber sie kann doch vertrauensvoll sein.
Es ist eine Konstruktion, das ist ihr klar. Aber das ist völlig egal, Hauptsache sie findet Halt in ihrem Absturz. Da muss was sein, auch wenn sie es nicht weiß, wenn die Beiden sie mögen…das reicht doch. Da kann sie entspannt schaukeln.
Otto macht schon wieder eine Party. Heute können sie es ordentlich krachen lassen, die Eltern sind über Nacht außer Haus. Ein lauer Frühlingsabend, die Party steigt nicht im Keller, wie sonst meistens, sondern im Garten. Obwohl es keinen besonderen Anlass gibt, sind wieder alle Freunde und Bekannte anwesend. Es gibt Bier und endlos Wein aus des Vaters Weinkeller, auch über seine Schnapsbar hat der Vater keinen Überblick mehr, die Freunde können sich bedienen. Die Küche ist so voll mit Leuten, dass man kaum noch durchkommt, aber das kennt man ja, alle stehen am Trog. Michael ist mal wieder frühzeitig voll und kotzt ins Waschbecken. Tja, nicht schön, der Abfluss ist verstopft. Ekki rührt mit dem Finger das Erbrochene in den Ausguss, er lächelt und sagt jedem, dass ihm das nichts ausmacht. Glaubwürdig, er will Medizin studieren, da muss er mit Körperflüssigkeiten und sowas auskommen. Erika beteiligt sich ausnahmsweise nicht an der allgemeinen Aufregung. Sie schlendert mit Fatma durch den Garten. Fatma ist bei diesen Gartenfeiern zurückhaltend, ihre Eltern könnten hinter der Gardine stehen und alles beobachten. Erika passt das gut, sie will Fatma sowieso für sich haben, außerdem hat sie heute ein besonderes Anliegen: „du hör mal, Fatma, ich muss dich was fragen! Ich muss jetzt mal genau wissen, wie das ist, mit unserer Freundschaft!“      „Was soll sein, wir sind Freundinnen.“     „Ja, ja. Ist schon klar. Aber Freundin und Freundin ist nicht das Gleiche. Ich will wissen, welche Bedeutung ich für dich habe. Du bist mir wichtig. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, das bedeutet mir viel.“ Erika muss unauffällig dreimal tief atmen, um ihre Aufregung zu kontrollieren. So stellt sie sich einen Heiratsantrag vor. Sie hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt hat sie Angst vor der Antwort. Fatma überlegt nicht lange: „weißt du, Erika, für mich ist unsere Freundschaft was Besonderes, ich kann das aber nicht in Worte fassen.“  Erika pustet. Glück kribbelt durch ihren Körper, aber jetzt ist sie schon dabei, jetzt macht sie das noch zu Ende: „Okay, das ist gut. Jetzt will ich noch wissen, wie das mit Otto ist. Mal kommst du zu mir, mal zu Otto. Wer ist dir wichtiger?“   „Ja, der Otto. Mit Otto, das macht Spaß. Otto ist lustig und das Gekuschel mit ihm ist nett und prickelt angenehm. Aber Otto ist beliebig in seiner Anmache. Er probiert nur so ein bisschen herum, ich fühle mich nicht wirklich gemeint. Dein Bruder ist toll, klar, aber er ist nicht der Typ Mann, auf den ich abfahre. Wir probieren ein bisschen herum mit Körperlichkeit und Nähe, und da ist auch was Eigenes, Otto und Fatma. Aber das steht in keinem Vergleich, zu der Bedeutung, die unsere Freundschaft hat. Du und ich.“   Erika ist still. Sie überlässt sich dem Kribbeln. Fatmas Sätze schwingen angenehm durch ihr Gehirn…du und ich…..kein Vergleich….Das tut gut. Erika schwebt über den Rasen. Das ist auch sowas schönes an Fatma: sie muss nicht quatschen. Sie kann Stille aushalten, oft redet sie nur, wenn sie wirklich was zu sagen hat. Erika kann sinnloses Gequatsche nicht ausstehen. Davon wird ihr manchmal ganz flau im Magen. Erika gibt sich ganz dem Wohlgefühl hin, immer noch lässt sie die süßen Sätze durch ihr Hirn wabern. 16.05.79, vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.               
Beide gehen zurück auf die Terrasse und überlassen sich dem Partygewusel. Da sind genügend interessante Jungs. Erika amüsiert sich großartig, ein wunderbarer Abend. Fatmas Worte haben sich wie Schlagsahne auf ihre Seele geschmiegt.

Als Erika am nächsten Morgen in die Küche kommt, ist Otto schon da und hat schon mit dem Aufräumen begonnen. Wortlos gesellt sich Erika dazu. Sie würde zwar viel lieber ihren Kater pflegen und erstmal in Ruhe frühstücken, aber sie weiß genau, was Otto jetzt von ihr erwartet. Sie setzt Kaffee auf und sammelt leere Flaschen ein. Dabei verschafft sie sich einen Überblick über das Chaos. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schnarcht Michael, sonst sind keine weiteren Schnapsleichen auffindbar. Auf dem grünen Teppich ist ein großer Rotweinfleck, da muss eine Flasche umgefallen sein. Erika holt als erstes Wasser und Salz um dem schon angetrockneten Fleck beizukommen. Alles muss relativ schnell gehen. Gegen Mittag wird Tante Erna hier aufschlagen. Sie kommt immer am Sonntagmittag, sie ist die Schwester vom Vater und liebt es ihn mit Informationen zu versorgen. Wenn bis dahin nicht alles fertig ist, wird sie wortlos den Lappen nehmen und helfen. Das macht einen netten Eindruck, sie ist ja auch nett, aber Otto und Erika wollen unbedingt alle Spuren beseitigen bevor sie kommt. Also Konzentration und Eifer! Mit dem Schädel ist das gar nicht so einfach. Die gröbsten Spuren zuerst, dann die Kreise immer feiner ziehen, kleine Unregelmäßigkeiten können ja schon mal sein. Nach zwei Stunden sieht alles schon ganz gut aus, Erika weiß, dass sie Ottos Anforderungen entsprochen hat, jetzt kann sie sich ganz entspannt der Zweisamkeit mit ihm beim Frühstück hingeben. Was für ein wundervolles Wochenende                                                                                                                                                                                     

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