Gehen Sie zurück zum Anfang, gehen Sie nicht über los. Also
wieder die Tauchübung. Erika taucht, sie hat keine Schwimmbrille auf, sie sieht
wenig, kennt den Weg nicht, hört nichts. Sie bekommt keine Luft.
Sie merkt nichts, oder wenig. Sie kann das alles nicht
realisieren, sie kann nur den Schmerz unter dem Deckel halten. Das Leben geht
weiter. Ihr kaltes Herz modert in ihrem Bauch, da spürt sie keinesfalls hin.
Erika lebt nur noch eine flache Scheibe von sich, so wie ihre Mutter. Aber die
hat richtige Schicksalsschläge hinnehmen müssen.
Erikas Mutter war sieben Jahre alt, als ihre eigene Mutter
starb. Als Kind konnte Erika das Mitgefühl kaum aushalten, wenn ihre Mutter
davon erzählte. Erika fühlt sich ganz
stark an ihre Mutter gebunden. Die Mutter war erst 19, als dann auch ihr Vater starb.
Das war ein anderer Vater als Erikas. Die Mutter spricht mit liebevoller
Ehrfurcht von ihrem Vater. Erika stellt sich immer vor, wie allein gelassen und
voller Trauer ihre Mutter damals in der chaotischen Welt stand. Das war ja
Chaos pur: Nazizeit, Krieg, Vertreibung, Besetzung. In all dem Durcheinander
fand ihre Mutter den Mann ihres Lebens. Horst. Der heilige Horst. Erika hat
sich viel von Horst erzählen lassen. Der absolute Gutmensch. Die Zwei haben
geheiratet, die Mutter war zweimal Schwanger, beide verloren, und bald danach
hat Krebs den Horst dahingesiecht. Erika sieht nur Trauer und Verlust, wenn sie
sich die Jugend ihrer Mutter anschaut. Als Kind konnte sie das gar nicht
aushalten, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt. Die Cognacflasche steht schon
immer in der Küche über der Spüle, das macht Erika ihrer Mutter auch nach. Aber
Cognac mag sie nicht, sie trinkt Martini oder Apfelkorn, Hauptsache es knallt.
Ihre Mutter ist flach, Erika kann das verstehen, nimmt es ihrer Mutter nicht
übel. Ihre Mutter hat sich abgeschnitten, von ihren eigentlichen Gefühlen. Man
muss wohl zu Horsts Grab gehen, um den Rest von ihrer Mutter zu finden.
Vordergründig kann man keinen Mangel erkennen. Ihre Mutter ist liebevoll und
empathisch. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man den Rückzug vom Leben,
die tiefe Trauer, die sie umflort und eben, dass sie ganz flach ist, abgeschnitten
von ihren Gefühlen, die sie ausmachen.
Nein nein, Erika vergleicht sich nicht mit ihrer Mutter, das
ist unmöglich. Und doch hat Erikas kleine
Geschichte sie zerrissen und nun macht sie es ihrer Mutter nach, trinkt,
taucht und schneidet sich ab. Das kleine Fitzelchen Selbstbewusstsein, das in
letzter Zeit gewachsen war, ist mit zersplittert. Erika sitzt wieder in ihrem
Zimmer und macht den Köpper in den Abgrund, bodenlos. Sie hätte Peter fragen
können, warum es so gekommen ist. Aber sowas macht sie nicht. Wenn sie sich
verletzt fühlt, zieht sie sich sofort ganz zurück. Das ist wie ein Reflex, geht
ganz schnell, da hat sie keinen Einfluss. Also kann sie nur raten, aber sie rät
nicht mal, sie bezieht es einfach voll und ganz auf ihre Person. Sie ist nicht
liebenswert. Das ist die einzige Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen kann,
aber sie hat den Deckel drauf und zieht ihn mit Apfelkorn fest.
Das Leben geht weiter. Otto macht weiter seine tollen
kleinen Zusammenkünfte, es kommen immer mehr Leute. Da ist Einer, Thomas,
braune Augen, lebendiger Typ, lustig. Diese schönen, braunen Augen schauen auf
Erika. Kann der was von Erika wollen? Dieser coole Typ? Sie verabreden sich für
den nächsten Tag. Erika geht ihn besuchen. Sie unterhalten sich, hören Musik,
ein paar Küsschen sind wohl auch dabei. Am Montag in der Schule ist es das
Erste, was Erika herausposaunt: „Ich habe einen Freund!“ Ihre
Klassenkameradinnen wollen alles ganz genau wissen, Erika verspricht, dass sie
ihn in der großen Pause sicherlich zu sehen bekommen, da er ja auch hier
Schüler ist.
Wie meistens steht sie mit ihren Klassenkameradinnen am Rand
der breiten Treppe, die vom Pausenhof in das Gebäude führt. Hier haben sie den
besten Überblick, sehen und gesehen werden. Am Ende der Pause läuft Thomas mit
seinen Freunden an ihr vorbei, er schaut ihr in die Augen, sonst keine
besondere Regung. „Hier, eben, der Dunkelhaarige, das war er!“ Silke H. faucht
sie direkt an: „ du erzählst wieder einen Scheiß! Wenn der
dein Freund wäre, dann wäre er jetzt hergekommen und hätte Hallo gesagt!“ Erika
weiß mal wieder keine Antwort. Sie fühlt sich getroffen und sie schämt sich.
Silke! Die kennt sich wohl aus, sie ist schon lange mit Heino zusammen. Erika
kennt sich gar nicht aus. Ist dann Thomas vielleicht doch eher ein freundlicher
Bekannter? Wahrscheinlich hat Erika die Situation völlig falsch eingeschätzt.
Es gibt ja auch überhaupt keinen Grund für ihn, auf sie abzufahren
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