Sie kommt zurück! Vier Monate war sie weg, vor einigen Tagen
hatten sie mal wieder telefoniert, da hat ihre Mutter ihr gesagt, dass sie
zurück kommt. Erika hat das überhaupt nicht verstanden. Sie hatte ihre Mutter
einige Male in Köln besucht. Schon beim ersten Besuch war auffällig, wie gut es
ihrer Mutter dort geht, sie sah so gut und zufrieden aus. Damals war Muttertag
und auf dem Tisch stand ein riesiger Strauß Baccara Rosen, vom Vater natürlich, Fleurop. Erika hat sich sehr
abfällig über ihren Vater und sein Bemühen geäußert, ihre Mutter hat nichts
dazu gesagt. Nach kurzer Zeit hatte ihre Mutter sogar Arbeit in ihrem alten
Beruf. Erika war ganz schön stolz auf sie und obwohl sie ihr zu Hause so sehr
fehlte, hat sie sich über ihre Entwicklung gefreut.
„Warum willst wiederkommen, es geht dir doch gut dort?“
Erika war fassungslos über die Entscheidung ihrer Mutter. „Vater hat
versprochen, dass er sich ändert.“ Erika hat noch nie erlebt, dass er irgendwas
ändert, so gesehen ist er verlässlich, immer die gleiche Scheisse. „Und du
glaubst ihm das?“ Erika wundert sich sehr über ihre Mutter, die weiß doch
eigentlich noch mehr über ihn. „Ja, ich glaube ihm!“ Na dann mach mal, denkt
Erika. „Tja, Mutter, dann komm nach Hause, ich freue mich.“ Wenige Tage später ist
die Mutter wieder da. Erika freut sich sehr, ihre Mutter hat ihr schmerzlich
gefehlt. Das Abiturjahr fängt bald an und es ist schon gut, wenn alles wieder
beim Alten ist. Die Mutter ist nachmittags angekommen, abends, der Vater ist
schon schlafen gegangen, dreht Erika in ihrem Zimmer die Musik auf und macht
sich fertig zum Ausgehen. Die Mutter kommt rein: „Mach die Musik leise, Vater
schläft. Wo willst du denn jetzt noch hin?“ Fragt sie, als sie sieht, dass
Erika sich die Schuhe anzieht. „Mutter! Misch dich nicht ein! Was willst du
jetzt? Wir sind hier gut klargekommen und ich gehe jetzt in die Kneipe.“ Erst
jetzt merkt Erika, was in den letzten Monaten alles passiert ist. Sie hat sich
abgenabelt von ihrer Mutter, vielleicht nicht vollständig, aber doch soweit,
dass sie ihrer Mutter jetzt diese Antwort hinschmiert, sie zur Seite schiebt
und einfach aus dem Haus geht.
Auf dem Weg in die Kneipe wundert sie sich. Da scheint
soviel passiert zu sein, in ihr… und sie hat das nicht gemerkt. In der Kneipe
holt sie sich ein Bier und ist zum ersten Mal froh, dass sie alleine sitzt. Sie
muss nachdenken, sie muss diese Veränderung nachvollziehen. Sie war von der
Unabhängigkeit der Reaktion ihrer Mutter gegenüber völlig überrascht. Sie war
doch immer so liebevoll, so harmoniebedacht. Ja, Erika hat sich an ihrer Mutter
immer so festgehalten und damit ihrer Mutter auch Halt gegeben. Anscheinend
kann Erika jetzt besser alleine stehen. Aber eigentlich ist es doch unnötig
ihre Mutter gleich am ersten Abend so zurückzuweisen…sind da doch auch
Rachegefühle, weil sie sie so alleine gelassen hat? Und mit diesem
Suizidversuch wollte ihre Mutter sie ja auch allein lassen… das fällt ihr
gerade zum ersten Mal auf… das ist doch eigentlich ganz schön egoistisch.
Ihr Thomas kommt zur Tür rein, noch einige Freunde im
Schlepptau. Sie holen an der Theke einen Stiefel Altbier und kommen zu Erika an
den Tisch. Eigentlich ist das so sehr nach Erikas Geschmack, Thomas weiß schon
genau, was Erika sich von ihm wünscht. Sie fühlt sich zugehörig, alle kommen zu
ihr, die ganze Kneipe sieht das, dass fünf gutaussehende Jungs zu IHR an den
Tisch gehen. Stiefel trinken ist darauf ausgelegt ganz schnell betrunken zu
werden. Wer den vorletzten Schluck trinkt, muss den nächsten Stiefel bezahlen.
Außerdem ist es ziemlich lustig, weil man sich gerne mal dabei mit Bier
besudelt. Normalerweise wäre diese Situation also ein Fest für Erika. Die
Zugehörigkeit zu diesen coolen Typen, die alle schon studieren. Als einziges
Mädchen mit am Tisch sitzen, keine weibliche Konkurrenz, sie kann sich
probieren und auch mal ein bisschen mit den Augen plinkern, was sie sich sonst
selten traut. Alle saufen wie die Löcher, das macht sie ja auch gerne. Aber sie
muss ihre Gedanken verstauen, an einer Stelle wo sie sie bald wiederfinden
kann. Sie mag sich davon im Moment nicht lösen. Das erschien ihr gerade so
wichtig, so erhellend, sie war mittendrin, jetzt muss sie umschalten auf
sinnloses Gequatsche, Gejohle und Gekicher. Am liebsten würde sie sagen: „setzt
euch woanders hin, ich muss noch ein bisschen allein sein und nachdenken, ich
komme gleich zu euch.“ Aber das macht sie nicht, sie meint, sie müsse Thomas`
Offerte mit offenen Armen empfangen, sonst würde sie ihm nicht gerecht. Sowas
in der Art. Sie hat keine Zeit das jetzt genau auseinander zu klamüsern. Wenn
Thomas so sehr ihre Sehnsüchte erfüllt, dann muss sie da sofort und unbedingt
drauf einsteigen.
Aber diese Gedanken waren so ungewohnt und spannend. Rache
war noch nie Thema, ihrer Mutter gegenüber und egoistisch…? Ihre Mutter ist
doch Altruismus pur. Das muss in eine Schublade, die jederzeit wieder aufgeht,
aber schnell jetzt, sie hat ja schon den Stiefel in der Hand, seeliges
Vergessen ist angesagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen