Mit dem Fahrrad in Berlin unterwegs zu sein, ist immer
schön, außer bei Regen, aber in Berlin regnet es ja selten. Ich fahre und lasse
die Stadt dabei auf mich wirken. Die ganz alltäglichen Wege sind inzwischen
natürlich etwas langweilig, aber auch da entdecke ich manchmal was Neues. Mein
Lieblingsweg ist von Zuhause zu einem Freund in Moabit. Ich mag den Freund,
aber den Weg mag ich so sehr, dass ich den Freund am liebsten alle drei Tage
besuchen würde. Zuerst fahre ich über das Feld, an der Stirnseite, östlich. Die
Seite ist kurz, trotzdem habe ich genügend Zeit über das Feld zum
Flughafengebäude zu schauen, im Süden den Ullsteinturm auszumachen. Hier kann
man im Winter die schönsten Sonnenuntergänge sehen. Diese Weite, mitten in der
Stadt, das ist berauschend. Im Dezember geht die Sonne hinter den Schloten
eines Kraftwerks unter, das könnte Lankwitz sein, ich weiß es aber nicht genau.
Der freie Blick über das Feld, dann die rauchenden Schlote, dahinter die
orangene Sonne: soviele Assoziationen auf einmal. Freiheit, Vergänglichkeit,
Stadtleben mit verseuchter Lunge und gleichzeitig der kühle, scheinbar frische
Wind um die Nase. Die Weite genießen, sehen, wie die vielen Leute den Raum
nutzen. Die Neuköllner, eine mir vertraute berliner Volksgruppe. Um den
Fernsehturm zu sehen, muss ich hier ein Stück auf das Feld rauf fahren. Ich mag
das, immer wieder, oft plötzlich, unerwartet, irgendwo zwischen Häuserschluchten,
zeigt sich der Fernsehturm. Wie ein Pflock um den sich Berlin anordnet. Wie ein
Zeigefinger ragt er in den Himmel, „ hier bin ich, orientier dich!“ Es heißt
ja: alle Wege führen nach Rom, bedeutungslos, alle Wege führen zum Alex. Das
Buch, Berlin, Alexanderplatz, will ich schon lange lesen, jetzt wird es
dringender. Ich muss wissen, wie Döblin den Flair eingefangen hat. Allerdings
habe ich Sorge, dass ich mit der Sprache nicht klarkomme. Thomas Mann wirkt auf
mich immer wie ein Schlafmittel, ich muss mich regelrecht durchkämpfen, ob das
bei Döblin anders ist?
Vom Feld komme ich durch die Hasenheide. Schon wieder
entspanntes Radeln durch einen Park. Wieder viele junge Menschen, Rasenflächen,
alte Bäume. Ich schaue auf die vielen Grüntöne und spüre gleich, wie gut mir
das tut. Hier sind schon mehr Kinderwagen, hier sind Decken auf dem Rasen
ausgebreitet, Leute mit Getränken und Gitarre, Freizeitakrobaten. Das
Neuköllner Durcheinander wechselt zu Kreuzberger Aufgeräumtheit. In der
Bergmannstraße bestaune ich, wie sich Kreuzberg verkauft. Eingeborene und
Touristen lassen sich leicht unterscheiden. Ich bin froh, wenn ich über die
Ampel in die Kreuzbergstraße komme und die gierige Geschäftigkeit langsam
abebbt. Ich passe den richtigen Moment ab, Augen links: Kreuzberg, mit Denkmal
und Wasserfall. Über Katzmann- und Yorckstraße komme ich schon in den nächsten
Park: Gleisdreieck. Hier steht kein einziger großer Baum. Der Raum wirkt viel
offener, gleißender, grauer. Wieder so viele junge Menschen, sportlich, oder mit
Kindern. Der Park scheint ein riesiger Spielplatz für groß und klein zu sein.
Erst versinken die Bahngleise im Tunnel. Dann alte Brücken, über die die S-Bahn
rumpelt, rechts alte Lagergebäude, links Neubauten. Die sehen richtig teuer
aus. Jetzt sehe ich auch, dass sich der Volksstamm schon wieder verändert hat.
Emsiges Streben liegt in der Luft, die Kinderwagen haben Allradantrieb, die
hippen Skater waschen sich brav die Hände, wenn sie in den Dreck gefallen sind.
Ich komme am Potsdamer Platz aus dem Park. Diese Gegend wirkt blutleer. Die
wenigen Leute, die ich sehe, sind auf dem Sprung. Einige Touristen sitzen in
stylischen Lounges. Ich freue mich in den Tiergarten einzutauchen, Potsdamer
Platz, da sind zu viele Anzüge mit teuren Schuhen. Im Tiergarten radeln auch
solche Anzüge an mir vorbei, aber ich bin wieder entspannter. Der Park, obwohl
er recht schmal ist, hat eine starke Aura, irgendwie erhaben, unberührbar. Bei
Bellevue fahre ich über die Spree und komme so nach Moabit. Von hier zur
Turmstraße verändert sich der Flair so schnell, das es überraschend ist. Eben
noch Regierungsviertel, machtvolle Weitläufigkeit, bin ich hier wieder in einem
lebendigen Durcheinander gelandet. Hier fühle ich mich wieder richtig wohl, ich
spüre weder Dünkel noch Gier. Die Leute machen einfach ihr Ding, ohne zu sehr
auf Außen zu achten, so wirkt das auf mich.
Von Berlin nach Tokio durchfliegt man 10 Zeitzonen, oder so.
Von Britz nach Moabit zähle ich 8 Berlinzonen. Acht unterschiedliche
Volksstämme. Achtmal verändert sich der Geschmack auf der Zunge, der Weg dauert
nur 40 Minuten, aber ich bekomme so viele Eindrücke, dass ich tagelang damit
beschäftigt sein kann.
Ich stelle mein Fahrrad ab und setze mich im kleinen
Tiergarten auf eine Bank. Der Autolärm stört gar nicht so sehr, ich kann ihn
gut ausblenden. Die Sonne scheint silbern, es ist Vormittag, noch etwas frisch.
Ich schaue der entspannten Geschäftigkeit zu, die mich hier umgibt. Das hört
sich an wie ein Paradox, ich kann es aber nicht besser ausdrücken. Alle scheinen
ein Ziel zu haben, es gibt auch keine Langsamkeit und doch ein Verharren im
Jetzt. Gegenüber hat ein Türke seine Auslagen in einer alten Garage aufgebaut.
Er quatscht mit einem Passanten, geistesabwesend sortiert er hin und wieder
eine vergammelte Nektarine aus. Ich würde gerne bei ihm einkaufen, aber es wäre
natürlich blödsinnig das Obst quer durch die Stadt zu tragen. Eine alte Frau
setzt sich neben mir auf die Bank, sie schmeißt Brotreste für Vögel vor sich
auf den Boden. Sofort kommen Spatzen und Tauben angeflogen. Ich mag das nicht
so sehr. Ich mag Vögel, keine Frage, aber nicht so nah. Ich mag nicht mehr
atmen, ich habe das Gefühl, die Luft ist von Keimen verseucht. Aber mein Platz
ist so schön, bis eben war ich so entspannt und offen für die Welt, dass ich
eigentlich nicht aufstehen will.
Dieses Moabit gefällt mir so richtig gut, es wirkt ganz
ähnlich unaufgeräumt wie Neukölln, wie ein Zwilling auf der anderen Seite der
Stadt. Hier würde ich auch gerne wohnen.
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