Das ist eine komische Zeit, danach. Erika ist hauptsächlich
damit beschäftigt aufrecht zu bleiben. Die Situation in der Schule, zum
Beispiel, ist schwierig. Erika verschläft ständig, ihre Mutter hatte eben immer
dafür gesorgt, dass sie aufsteht. Ihr Klassenlehrer ist großzügig und
mitfühlend, warum weiß er davon? Erika hat Nachwehen von ihrer Krankheit, sie
kann sich nicht konzentrieren, sie stottert ein bisschen.
Einmal will sie zu
einer Fete nach Göttingen, übers Wochenende. Sie fragt ihren Vater um
Erlaubnis, er sagt nein. Jetzt muss sie ja dableiben, danach fragt sie ihn nie
wieder. Sie macht einfach, was sie will, das ist das Übliche: manchmal
wegfahren, viel ausgehen und so. Manchmal kauft sie ein, oder macht Essen für
sich und ihren Vater. Das sind seltene Momente, wenn sie mit ihrem Vater
zusammen sitzt, sie sich unterhalten, richtig freundlich, eigentlich
zauberhaft. Da sind Chancen, aber Erika nimmt sie nicht auf. Ihr Vater ist
abhängig von ihr, er ist sich dessen bewusst, deswegen ist er freundlich, Erika
kapiert das nicht, sie weiß schon von seiner Abhängigkeit, fühlt ihre Macht,
aber die Chance, die das birgt, kann sie nicht sehen. Fürsorglich ist sie
nicht, das sind nur seltene Anfälle bei ihr. Sie lässt ihren Vater am langen Arm
verhungern. Otto kommt oft. Er kümmert sich, sonst hätte man den Vater wohl
irgendwann als vertrocknete Mumie in seinem Büro aufgefunden. Abends ist sie
selten zu Hause, der Vater geht früh schlafen, Erika aus Prinzip nicht. Ihr
Vater hat Albträume, er schläft im Zimmer neben ihr. Sie hört ihn laut
schreien: „Ich sehe dich, du Dieb! Raus aus meinem Haus, ich habe eine Waffe…“
Erika läuft zu ihrem Vater ins Zimmer. Er liegt zitternd im Bett, mit
geschlossenen Augen, heftig am ganzen Körper vor Angst schlotternd schreit er
immer noch den Dieb an. Jetzt ist Erika voller Mitgefühl, sie fasst seine Hand
und redet beruhigend auf ihn ein. Ihr Vater wird davon nicht wach, aber sein
Traum verändert sich offensichtlich, sein Schimpfen wird leiser, das Schlottern
weniger. Erika streichelt weiter seine Hand und redet beruhigenden Blödsinn.
Ihr Vater brummt noch einige Male, dann dreht er sich um, seufzt und schläft
ruhig weiter. Erika geht zurück in ihr Zimmer und wundert sich über ihre Macht.
Nein, es ist nicht die Macht, über die sie sich wundert, die Macht ist ihr
klar. Sie war so mitfühlend und sie konnte ihren Vater eben lieb haben, das ist
das Verwunderliche, aber sowas will sie nicht spüren, sie schließt das ein, in
eine kleine Schublade, den Schlüssel schmeißt sie ins Klo.
Bald sind Sommerferien. Erika und Fatma wollen zusammen nach
Frankreich. Einfach los, mit dem Daumen im Wind. Erika plant das, sie war im
letzten Sommer mit ihrem Cousin so unterwegs, das ging ganz gut, jetzt soll es
mit Fatma sein, das wird super. Sie fahren zusammen nach Hannover, Fatma
braucht einige Sachen für so eine Reise. Erika ist die richtige Spezialistin
dafür: sie kann gut klauen, macht es schon lange, ist noch nie erwischt worden
und fühlt sich großartig mit dieser Fähigkeit. Als erstes trägt Erika einen
großen Rucksack aus einem Geschäft. In den folgenden Läden steckt Erika
Isomatte, Schlafsack und andere nützliche Gegenstände ein. Vor dem Laden wird
alles in den Rucksack umgefüllt , den Fatma geschultert hat und ab geht es in
das nächste Kaufhaus. Fatma trägt den Rucksack wie ein Ackergaul durch
Hannovers Innenstadt, sie macht dazu die entsprechenden Geräusche, bläst die
Wangen auf und lässt ihre Lippen aufeinander flattern. Erika könnte sich
wegschmeißen. Fatma überrascht sie oft mit ihrem Witz, eigentlich meint Erika,
dass sie für alles Witzige zuständig ist. Aber das ist natürlich Unsinn. Hier
findet sich eine weitere Besonderheit ihrer Freundschaft: die Rollen sind nicht
so fest fixiert. Als letztes, die Kür sozusagen, kommen noch einige hübsche
Sommersachen in den Sack und dann fahren sie wieder nach Hause. Die beiden
sitzen aufgekratzt in dem Zug und reden über den bevorstehenden Urlaub. Sie
sind beide schon 18, wer soll ihnen noch was verbieten. Ein Meilenstein, Fatmas
Ausrüstung, ist abgearbeitet, sie haben kein Geld ausgegeben, abgesehen vom
Fahrpreis für den Bummelzug. Sie fühlen sich großartig und kichern die ganze
Fahrt über.
Wenige Tage später ist es soweit, sie wollen los. Fatma ist
nicht rechtzeitig da, das ist ärgerlich, aber typisch, Verabredungen mit Fatma
sind… sagen wir… flexibel! Erika wischt den aufkommenden Ärger beiseite und
geht eben rüber zu Fatma. Sie findet Fatma noch im Bett. Sie sieht schlecht
aus. „Papa hat gestern Abend auf mich
eingeschlagen, mit einem Schuh hat er mich verprügelt. Erika! Ich habe Blut
gespuckt!“ Jetzt sieht Erika die Blutflecken auf Fatmas Bettdecke. Ihr Ärger
über Fatmas Unpünktlichkeit weicht unbändigem Hass auf Fatmas Vater. Wie kann
ein Mann sowas seiner eigenen Tochter antun?! Eigentlich möchte Erika Fatma
überreden trotzdem mit ihr loszufahren. Erika hat sich sosehr auf die Fahrt
gefreut. Die Enttäuschung, die sie jetzt empfindet ist riesig und die
Vorstellung, die Ferien zu Hause zu verbringen, ist trostlos. Aber sie schiebt
ihre Gefühle beiseite, ihre Freundin braucht sie jetzt. Der Rest ist nicht
wichtig
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