Sonntag, 25. Oktober 2015

Der rote Mond Vater und Tochter


Das ist eine komische Zeit, danach. Erika ist hauptsächlich damit beschäftigt aufrecht zu bleiben. Die Situation in der Schule, zum Beispiel, ist schwierig. Erika verschläft ständig, ihre Mutter hatte eben immer dafür gesorgt, dass sie aufsteht. Ihr Klassenlehrer ist großzügig und mitfühlend, warum weiß er davon? Erika hat Nachwehen von ihrer Krankheit, sie kann sich nicht konzentrieren, sie stottert ein bisschen.
 Einmal will sie zu einer Fete nach Göttingen, übers Wochenende. Sie fragt ihren Vater um Erlaubnis, er sagt nein. Jetzt muss sie ja dableiben, danach fragt sie ihn nie wieder. Sie macht einfach, was sie will, das ist das Übliche: manchmal wegfahren, viel ausgehen und so. Manchmal kauft sie ein, oder macht Essen für sich und ihren Vater. Das sind seltene Momente, wenn sie mit ihrem Vater zusammen sitzt, sie sich unterhalten, richtig freundlich, eigentlich zauberhaft. Da sind Chancen, aber Erika nimmt sie nicht auf. Ihr Vater ist abhängig von ihr, er ist sich dessen bewusst, deswegen ist er freundlich, Erika kapiert das nicht, sie weiß schon von seiner Abhängigkeit, fühlt ihre Macht, aber die Chance, die das birgt, kann sie nicht sehen. Fürsorglich ist sie nicht, das sind nur seltene Anfälle bei ihr. Sie lässt ihren Vater am langen Arm verhungern. Otto kommt oft. Er kümmert sich, sonst hätte man den Vater wohl irgendwann als vertrocknete Mumie in seinem Büro aufgefunden. Abends ist sie selten zu Hause, der Vater geht früh schlafen, Erika aus Prinzip nicht. Ihr Vater hat Albträume, er schläft im Zimmer neben ihr. Sie hört ihn laut schreien: „Ich sehe dich, du Dieb! Raus aus meinem Haus, ich habe eine Waffe…“ Erika läuft zu ihrem Vater ins Zimmer. Er liegt zitternd im Bett, mit geschlossenen Augen, heftig am ganzen Körper vor Angst schlotternd schreit er immer noch den Dieb an. Jetzt ist Erika voller Mitgefühl, sie fasst seine Hand und redet beruhigend auf ihn ein. Ihr Vater wird davon nicht wach, aber sein Traum verändert sich offensichtlich, sein Schimpfen wird leiser, das Schlottern weniger. Erika streichelt weiter seine Hand und redet beruhigenden Blödsinn. Ihr Vater brummt noch einige Male, dann dreht er sich um, seufzt und schläft ruhig weiter. Erika geht zurück in ihr Zimmer und wundert sich über ihre Macht. Nein, es ist nicht die Macht, über die sie sich wundert, die Macht ist ihr klar. Sie war so mitfühlend und sie konnte ihren Vater eben lieb haben, das ist das Verwunderliche, aber sowas will sie nicht spüren, sie schließt das ein, in eine kleine Schublade, den Schlüssel schmeißt sie ins Klo.
Bald sind Sommerferien. Erika und Fatma wollen zusammen nach Frankreich. Einfach los, mit dem Daumen im Wind. Erika plant das, sie war im letzten Sommer mit ihrem Cousin so unterwegs, das ging ganz gut, jetzt soll es mit Fatma sein, das wird super. Sie fahren zusammen nach Hannover, Fatma braucht einige Sachen für so eine Reise. Erika ist die richtige Spezialistin dafür: sie kann gut klauen, macht es schon lange, ist noch nie erwischt worden und fühlt sich großartig mit dieser Fähigkeit. Als erstes trägt Erika einen großen Rucksack aus einem Geschäft. In den folgenden Läden steckt Erika Isomatte, Schlafsack und andere nützliche Gegenstände ein. Vor dem Laden wird alles in den Rucksack umgefüllt , den Fatma geschultert hat und ab geht es in das nächste Kaufhaus. Fatma trägt den Rucksack wie ein Ackergaul durch Hannovers Innenstadt, sie macht dazu die entsprechenden Geräusche, bläst die Wangen auf und lässt ihre Lippen aufeinander flattern. Erika könnte sich wegschmeißen. Fatma überrascht sie oft mit ihrem Witz, eigentlich meint Erika, dass sie für alles Witzige zuständig ist. Aber das ist natürlich Unsinn. Hier findet sich eine weitere Besonderheit ihrer Freundschaft: die Rollen sind nicht so fest fixiert. Als letztes, die Kür sozusagen, kommen noch einige hübsche Sommersachen in den Sack und dann fahren sie wieder nach Hause. Die beiden sitzen aufgekratzt in dem Zug und reden über den bevorstehenden Urlaub. Sie sind beide schon 18, wer soll ihnen noch was verbieten. Ein Meilenstein, Fatmas Ausrüstung, ist abgearbeitet, sie haben kein Geld ausgegeben, abgesehen vom Fahrpreis für den Bummelzug. Sie fühlen sich großartig und kichern die ganze Fahrt über.

Wenige Tage später ist es soweit, sie wollen los. Fatma ist nicht rechtzeitig da, das ist ärgerlich, aber typisch, Verabredungen mit Fatma sind… sagen wir… flexibel! Erika wischt den aufkommenden Ärger beiseite und geht eben rüber zu Fatma. Sie findet Fatma noch im Bett. Sie sieht schlecht aus. „Papa hat  gestern Abend auf mich eingeschlagen, mit einem Schuh hat er mich verprügelt. Erika! Ich habe Blut gespuckt!“ Jetzt sieht Erika die Blutflecken auf Fatmas Bettdecke. Ihr Ärger über Fatmas Unpünktlichkeit weicht unbändigem Hass auf Fatmas Vater. Wie kann ein Mann sowas seiner eigenen Tochter antun?! Eigentlich möchte Erika Fatma überreden trotzdem mit ihr loszufahren. Erika hat sich sosehr auf die Fahrt gefreut. Die Enttäuschung, die sie jetzt empfindet ist riesig und die Vorstellung, die Ferien zu Hause zu verbringen, ist trostlos. Aber sie schiebt ihre Gefühle beiseite, ihre Freundin braucht sie jetzt. Der Rest ist nicht wichtig

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