Samstag, 17. Oktober 2015

Der rote Mond Persistierende Einsamkeit


 Erika hatte doch so erfolgreich gebastelt: aus ihrer kleinen Schaukel über dem Abgrund ist ein gut geflochtenes Netz geworden. Es sieht so aus, als könne sie waghalsige Sprünge machen, so wie Artisten am Ende ihres Hochseilakts, wenn sie zum letzten Sprung in das Netz ausholen. Doch ab und an passiert noch das Andere. Wenn sie allein ist, mit sich nichts anfangen kann, Stille kommt erschwerend dazu: dann schmiert sie ab. Der alte, erschreckende Köpper ist immer noch da. Da scheint es kein Entrinnen zu geben. Ihr Leben ist so laut, sie hat Freunde, viele Freunde, sie hat Fatma, die ihr soviel Halt gibt, sie hat eine große Familie- naja, die sind doch meistens nicht da, auch wenn sie körperlich anwesend sind. Sie rennt in Kneipen, ist bei jeder Feier dabei, auch wenn sie nicht eingeladen ist und doch ist das immer noch möglich.
Sie kommt langsam ins Rutschen, dann tut sich der Abgrund auf: es ist eine glatte Fläche, steil bergab, keine Unebenheit, sie möchte um Hilfe schreien, aber sie hat einen trockenen Keks im Mund, an den Krümeln wird sie ersticken, wenn sie ruft. Sie gleitet ohnmächtig in den Abgrund. Sie kommt an in einem dunklen Raum. Sie steht da, gefangen und bewegungsunfähig, sie kann keine Wände oder Grenzen ausmachen, sie kann gar nichts machen. Da ist nur Schrecken. Sie würde gerne fliehen, aber sie kann sich nicht rühren, sie ist ohnmächtig vor Erschrecken, dass sie hier wieder gelandet ist.


In diesem Zustand kann sie keinen Kontakt aufnehmen. Am ehesten noch zur Welt. Wenn es ein verhangener Herbsttag ist, die Wolken so tief hängen, dass sie fast den Boden berühren, wenn die Feuchtigkeit steht, wie ein kalter Umhang, ruhig, als würde alles immer so bleiben, dann kann sie sich mit der Welt zusammen fühlen. Wenn es aber ein klarer Tag ist, wohlmöglich keine Wolke am Himmel, stahlblau, weit weg und endlos, dann fühlt sie sich so verloren. Sie geht verloren in der Weite. Überall geht sie verloren, auch in ihren Träumen, auch in den Märchen aus ihrer Kindheit. Der Held zieht aus ans Ende der Welt. Was ist am Ende der Welt? Sie kippt runter ins Nichts. Ist sie da nicht gerade? Ist das wirklich ein dunkler Raum, ohne Wände, oder ist sie in diesem undefinierten Nichts gelandet, ein blinder weißer Zustand. Kontakt ist unmöglich, das Telefon hat keine Funktion. Sie kann auch nicht zu Fatma rübergehen, das ist unvorstellbar in diesem Dasein, sie kann sich nicht vermitteln, sie ist bloß und nackt, so kann sie nicht aus dem Haus, das ihr keine Sicherheit gibt, sondern Teil des Abgrunds ist. Was geht ist fernsehen. Laute Ablenkung kann helfen. Aber wenn das Programm nichts hergibt und sie in ihrer Not „Robi, Tobi und das Fliwatüt“ schaut, dann wird nach 20 Minuten alles noch schlimmer. Wie auch immer, wenn sie den Fernseher ausstellt ist sie immer noch dort. Es ist nur entsetzlich, sie kann sich da nicht einrichten. Sie kann nicht erkennen, dass der Abgrund ein großer Teil von ihr ist. Sie fühlt sich zwar nicht fremd hier, aber es bleibt unwillkommen und Flucht ist der einzige Impuls, aber leider nicht möglich. Inzwischen ist ihr Denken ihrem Fühlen hier runter nachgefolgt. Damit sind Handlungsansätze verfügbar. Sie geht ins Bad und sucht sich eine Rasierklinge von ihrem Vater. Ängstlich und zögernd versenkt sie die Klinge in ihrer Haut am linken Handgelenk. Es brennt, das ist aber nicht das Einzige, was sie hindert weiter zu schneiden. Sie ist feige, sie ist ängstlich. Sie erinnert sich, wie sie als Kind zur Küchenschublade gegangen ist. In der offenen Lade betrachtete sie die großen Messer. Sie überlegte, welches Messer sie sich in das Herz rammen würde. Das Bild war ihre trauernde, reuige Familie rund um ihr Grab. Sie wollte ihre Liebe sehen. Sie wollte sehen, dass sie wichtig ist. Ist das jetzt anders? Sie würde ihrer Verlorenheit gerne Ausdruck geben. Aber sie ist gar nicht definitiv Lebensmüde, sie will immer noch eigentlich nur sehen, dass sie wichtig ist. Wenn sie jetzt richtig schneidet, was sie sich wahrscheinlich gar nicht traut, das ganze Gedöns, das könnte auch peinlich enden. Also bleibt es bei dem kleinen Schnittchen, zwei Tropfen Blut fallen ins Waschbecken, die bewundert sie eine Weile, dann sucht sie sich ein Pflaster. Musik könnte helfen. Das Gezupfe von Andreas Vollenweider, das legt sie jetzt auf. Die Musik passt und passt nicht. Da hört sie soviel Lebensfreude, soviel Anteil an der schönen Welt. Sie steht hier in dem vertrauten Wohnzimmer, jetzt kann sie ein paar Tränchen rausdrücken, aber das ist auch nicht das Richtige. Das Gefühl ist nicht zu beweinen und es gibt auch keinen Trost. Das Schlimme ist, dass alles sich ganz schlimm anfühlt, aber irgendwie so unklar ist. Deswegen kann ihr ihr Verstand auch so wenig helfen. Hach…schwierig. Was bleibt? Sie geht aus dem Haus, spazieren. Hoffentlich sind nicht allzu viele Menschen unterwegs, sie ist immer noch nicht bereit für Begegnungen. Aber wie so oft braucht sie ein bisschen Bewegung um ihr Gemüt zu beruhigen. Den Boden unter den Füssen bei jedem Schritt wahrnehmen, die Luft spüren, die Welt hören. Sie ist da, sie spürt ihre Fingernägel in ihren Handflächen, sie spürt die Frische der Welt, sie sieht wie die Wolken orange werden. Der Abend…, bis zu ihrem Lebensabend ist wohl noch lang. Sie geht jetzt einfach mal und bestaunt die so bekannte Welt und vielleicht sieht sie sogar was Neues und vielleicht kann sie nachher, wenn sie zurückkommt, noch bei Fatma reinschauen.

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