Freitag, 26. Dezember 2014

IG Farben. Bionda


Sie geht um die Ecke, sie ist spät dran, die Anderen sind schon vorausgegangen, nun kommt sie hinterher, sie wird schon nichts verpassen. Nach der Ecke sind es nur 200 Meter, dann nach rechts und da steht sie auch schon vor ihrem eigentlichen Wohnzimmer, der Szenekneipe. Es ist Samstagabend, also los, ab in das Getümmel. Die Tür geht auf, warmer Zigarettenqualm, Bierdunst und laute, aufgedrehte Gesprächsfetzen wabern ihr entgegen. Sie taucht ein, in den regelmäßigen Wahnsinn. Sie quetscht sich an den Leuten vorbei auf dem Weg zur Theke, sie will jetzt ein Bier. Derweil genießt  sie den Körperkontakt, das findet sie anregend. Die Typen fahren voll auf ihren Körper ab, dieses Wissen beeinflusst ihre Bewegungen sehr. Auf dem Weg bis zum Bier hat sie schon wieder mit drei, vier Kerlen anregende Miniintermezzi gehabt, von Becken zu Becken. In ihrem Gesicht sieht man davon gar nichts, höchstens ein ganz bisschen rosa auf den Wangen. Mit dem Bier in der Hand quetscht sie sich weiter auf dem Weg zu den Anderen. Bionda muss schon grinsen, wenn sie sich das Bild von ihren kichernden Freundinnen nur vorstellt. Jetzt hat sie sie ausgemacht, sie stehen um die Ecke, da geht die Theke weiter, man ist also immer noch am Trog. Dort führt ein schmaler Weg in das Hinterzimmer. Gut, sie stehen an Biondas Lieblingsplatz. Viele Leute drängeln sich dort vorbei, es bleibt also bei Körperkontakt und sie bekommt nach und nach einen guten Überblick, wer so alles da ist. Die drei anderen Mädels unterhalten sich über den gestrigen Abend. Das ist immer spaßig, denn nur in der Gemeinschaftsarbeit sind sie in der Lage das Erlebte zu rekonstruieren. Jede für sich hat nur mehr oder weniger schemenhafte Erinnerungsfetzen, erst wenn sie alle ihre Fetzen zusammentun, ergibt sich ein löchriges Gesamtbild, was sie wieder losgemacht, oder angestellt haben, je nach Blickwinkel. Als Bionda dazu kommt erzählen sie sich gerade gegenseitig, wie Roth an einem gutaussehenden Punk gebaggert hat. Es war schon spät am Abend, beziehungsweise schon bald Sonnenaufgang, Roth hatte, wie immer, ordentlich getankt und alle Scheu hinter sich gelassen. Die beiden anderen Mädels schildern Roth ihre aufdringlichen Versuche den Punk zu sich nach Hause zu zerren. Roth kriegt vor Lachen kaum noch Luft, sie ist rot, aber eher, weil sie im Mittelpunkt des Gespräches steht, als dass sie sich schämt. Ihre Scham hat sie in den letzten Jahren weitgehend mit Alkohol weggespült, außerdem sind die Anderen so erfrischend schamlos, da hat sie sich schnell und gern angepasst. Nun ist also Bionda dabei und gibt gleich noch ihren Beitrag zum Thema. Das kommt jetzt ganz auf ihre Laune an, der kann schneidend scharf und abkanzelnd sein oder auch liebevoll und unterstützend. Heute ist Bionda eher unterstützend, sie ist so angenehm angeregt von dem Gedrängel. „Jedenfalls hast Du nichts groß verpasst, Süße, der Typ ist Scheiße im Bett!“  Es ist so voll, dass alles von der Brust abwärts eigentlich unsichtbar ist. Was da passiert ist geheim. Bionda liebt diese Situation, sie kann jetzt scheinbar unbeabsichtigt mit ihrem Körper agieren. Sie ist da schon ambivalent, die Typen fahren höllisch auf ihren Körper ab, das ist natürlich gut so, aber manchmal macht es sie auch traurig, unglücklich. Dann hadert sie, dass sie sich gar nicht gemeint fühlt, sondern nur ihre schöne Hülle. Meistens kommt sie aber gut klar, diese Körperlichkeit macht sie an. Hier an diesem Platz kann sie quer über die Theke zurückschauen, zu den Männern, an denen sie sich vorhin vorbeigedrängelt hat. Schaut einer zu ihr? Hat sie da, beim harmlosen Vorbeigehen, wieder was aufreißen können? Ihr gefällt der Abend jetzt schon, sie bestellt sich noch ein Bier und tut so als wäre sie am Gespräch mit ihren Freundinnen interessiert. Einer ihrer Verehrer kommt angeschlappt. Den braucht sie jetzt gar nicht, der besetzt den Platz bei ihr, der lieber frei bleiben sollte, für potentiell Interessierte. Sie ist trotzdem freundlich, obwohl  der Junge absolut keine Schnitte bei ihr hat, bleibt er in ihrem Pool. Sie hat ein großes Sammelbecken für Verehrer, das wird von ihr lauwarm beheizt, man weiß ja nie, wofür man sie noch brauchen kann. Jetzt unterhält sie sich freundlich mit dem Schluffi. Ihre Freundinnen hören amüsiert zu, denn alles was sie sagt ist zweideutig, die Freundinnen hören etwas anderes als der Schluffi. Der Junge wird zusehends verunsicherter und verzieht sich bald. Er ist sauer auf die Mädels, nicht auf Bionda, die war ja nett, nur ihre Freundinnen haben die ganze Zeit so blöd gekichert. Bionda ist erleichtert, dass der Platz bei ihr wieder vakant ist, vielleicht kommt jetzt doch noch einer ihrer jüngsten Kontakte herüber. Mit einem Ohr hört sie dem Gespräch ihrer Freundinnen zu, Violet erzählt gerade, dass ihr Bett heute früh vollgepisst war, war sie das selbst, oder der Kerl, den sie abgeschleppt hat, das ist die Frage. Alle lachen, keine findet das Thema lustig, Filmriss ist noch ok, nächtliche Inkontinenz ist beängstigend, aber jetzt und hier wollen alle lustig und souverän sein, also wird das Thema mit viel Ironie auf Distanz gehalten. Bionda gibt gerade einen ihrer schlauen Sätze zum Besten, als endlich einer kommt und sie anspricht. Jetzt war aber gerade „letzte Bestellung“ angesagt, also muss sie erstmal klären wo der Abend weitergehen soll.
Keine Frau ist so charmant wie Bionda. Wenn sie entspannt ist, ist ihre Wirkung nicht so stark, aber wenn ihr Gesicht lebendig wird, dann wirkt sie sehr ansprechend. Dabei ist ein Schneidezahn viel länger als der andere, das sieht ja eigentlich hexig aus, aber bei ihr mehr liebenswert. Sie hat eine ganz eigene Schönheit, wenn sie lächelt. Ihr Lächeln kann so warmherzig sein, dass sie trotz ihrer Jugend mütterlich wirkt. Das ist keineswegs altbacken sondern ganz frisch. Bionda hat wunderbare Haut, sehr weiß, ein bisschen porzellanartig, an manchen Stellen schimmert ihr Gesicht bläulich. Morgens kann sie schon mal richtig fertig aussehen. Ehrlich gesagt auch mittags, oder nachmittags, aber bis abends, bis sie wieder loszieht, ist alles gut, dann sieht sie wieder großartig aus. Mütterlich ist auch ihre Stellung in der Mädelsclique. Sie ist die einzige, die eine vernünftige Wohnung hat, fast alles spielt sich bei ihr ab, also tagsüber, dadurch hat sie eine zentrale Rolle in der Gruppe. Es ist auch ihre Heimatstadt, die drei anderen sind zugezogen, Bionda kennt sich bestens aus. Aber wichtig ist auch ihr Charakter, sie ist trotz ihrer Jugend so lebensklug. Die anderen können das oft nicht so annehmen, aber Bionda weiß meistens wo es lang geht.
Auch die anderen werden aktiv, „letzte Bestellung!“ wirkt auf alle wie eine Warnung. Keine von ihnen will um diese Uhrzeit nach Hause. Der Abend hat ja gerade erst angefangen, sie wollen sich noch amüsieren, nicht nur das, das ganze Leben kann sich heute Nacht entscheiden. Also umschauen, horchen, was machen die anderen so, gibt es eine Party? Bis eben haben sie so beieinander gestanden, dass kaum Platz für andere war, jetzt orientieren sich alle nach außen, gehen auseinander, jede geht zu anderen Bekannten um zu hören, was in der Stadt, am Abend, so los ist. Wenn ein Außenstehender das beobachtet sieht das fast aus wie eine Ballettfigur, ist das eine Quadrille? Vier Mädchen stehen zusammen, schwärmen plötzlich nach außen und kommen, wie auf ein geheimes Zeichen, wieder zusammen. Ok, was geht? Es gibt eine Party in der Kantstraße, ein paar Jungs wollen weiter in die Weinstube, die noch bis um drei offen hat, irgendjemand hat gesagt, er geht noch in die Disco. Tja, Weinstube ist eigentlich eine Sackgasse, da gibt man sich noch den finalen Abschuss und dann ist der Abend rum. Disco ist auch nicht so toll, die ist für Studis, da ist unklar, ob die Mädels reinkommen, also Kantstraße. Wer wohnt eigentlich in der Kantstraße? Bionda ist mal wieder die Einzige, die dort jemanden kennt, aber auch nur entfernt, also am besten mitgehen, mit anderen, damit man dort nicht so komisch angeschaut wird. Das Ballett zeigt noch mal eine hübsche Figur, nochmal Leute ansprechen, austrinken, klarmachen und dann gehen die vier Mädels mit drei Jungs zur Tür hinaus in die kalte Nacht.


Donnerstag, 18. Dezember 2014

Befindlichkeiten: Heimat


Gestern bin ich mit dem Zug hier angekommen. Das war aufregend: schon lange vorher waren die Hügelketten vertraut. Der Zug fuhr, das Gefühl  des Vertrauten in mir wurde immer größer. Ich erkannte die Orte und Bahnhöfe entlang der Bahnlinie. Dann die Außenbezirke der Stadt, ich hatte das Gefühl, die einzelnen Häuser wieder zu erkennen. Der Zug fuhr über meine Straße, bevor er in den Bahnhof einfuhr. Das ist Heimat. Ich wohne hier aber gar nicht mehr. Ich wohne weit weg, vermisse diese Stadt scheinbar  nicht und gestern bin ich hier, nach langer Zeit, wieder mal angekommen. Ist es Heimat? Es ist so vertraut, jedes Blatt am Baum scheint mir bekannt vorzukommen. Da ist wenig, was ich vermisst habe, aber das Gefühl von Vertrautem ist sehr angenehm. Daheim ist das Bekannte, wenn jeder Winkel und jede Ecke hundertmal angeschaut wurde und ganz nah herangewachsen ist. Ich bin aus dem Zug ausgestiegen, durch den Bahnhof gelaufen und dann zurück zu meiner Straße. Die Gesichtszüge der Passanten schienen auch so vertraut, kenne ich die alle? Hat das Volk hier ein anderes Gesicht als in meiner neuen Stadt? Beschwingt lief ich durch die Straßen, es ist gut so, ich werde den Besuch in dieser Stadt in meiner ehemaligen Wohnung verbringen. Mein Nachmieter und ich sind befreundet, dadurch geht das, da ist noch meine alte Küche, da steht noch derselbe Küchentisch. Es ist auch der gewohnte Blick aus dem Fenster, das gleiche Licht, die bekannten Geräusche, alles sehr vertraut. Da ist nichts, was ich vermisst habe und doch ist alles ganz anheimelnd. Es sind mehrere Schichten übereinander, das Alte, Vertraute, aber eben keine Rückwendung, sondern alles ist jetzt und aktuell. Und es ist Heimat. Wie viele Heimaten kann ein Mensch haben? Ich fühle mich nämlich gar nicht mehr fremd in meiner neuen Stadt, dort ist auf jeden Fall mein zu Hause. Hier ist es ein Eintauchen in meine eigene Geschichte mit dem Zeigefinger am Herz. Ich konnte meine Ankunft hier krönen, indem ich meine beiden besten Freunde gestern noch getroffen habe. Das wirkt wie Völlerei, Gier, die Beiden, nacheinander, am Ankunftstag noch zu treffen. Aber es war richtig. Das war in Verbundenheit baden. Oh ja, die Zwei vermisse ich in meiner neuen Stadt. Später habe ich Musik gehört: Jupp Götz „Zeit, bleib stehen, ich will mal kurz nach hinten sehen…“ Der trifft es schon recht gut. Aber bei mir braucht die Zeit nicht stehen zu bleiben. Alles ist jetzt und aktuell und doch gibt es diesen anheimelnden Blick nach hinten, ohne sich umzudrehen, das Hinten ist hier vorne.

Viele Leute sagen: „Heimat ist da, wo meine Freunde sind.“ Das sehe ich jetzt auch so. Vielleicht sind es die Freunde, ich glaube, es ist das Gefühl von Verbundenheit, das Heimat ausmacht. Aber ja, die Verbundenheit kommt mit den tiefen, tragenden Freundschaften. In der neuen Stadt ist mein zu Hause, in der alten Stadt ist meine Heimat, denn dort fühle ich mich verbunden, in Freundschaft. 

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Das Muttertier: gelbgrün


Mich hat so eine unbestimmte Verzagtheit ergriffen. Ja, ich bin ergriffen, besonders durch das Unbestimmte hat sie, die Verzagtheit, mich fest im Griff. Und ich muss mich festhalten, sonst fange ich an zu weinen. Jetzt nicht, auch nicht bei der Arbeit, oder so, aber wenn ich nachspüre, bin ich traurig und weiß nicht warum. Gegen Trauer ist nichts zu sagen, aber ich bin so kausalgeil. Ich will den Grund wissen, also durchforste ich mein Hirn nach Vorfällen, die mich verzagen lassen könnten…was finde ich? Die Sache mit dem Kind. Tja, das kann´s sein. Die Sache ist noch nicht all zu lange her, ich spüre ja auch immer noch die Racheimpulse. In meinem Kopf heißt sie oft doofe Ziege, deutlicher Hinweis, dass ich noch nicht fertig damit bin. Und weiter geht’s mit der Diskrepanz zwischen Kopf und Bauch. Das kann ich gar nicht leiden. Mein Kopf denkt nach, oder schaut auf die Situation, das ist jetzt nicht zum Jubeln, aber alles ok: das Kind will seine eigenen Wege gehen, die Verstrickungen mit mir lösen, auch ich bin der Meinung, die Beziehung sollte klarer, sauberer werden. Also Keller aufräumen, Schuldgefühle anschauen und Leinen los. Ich bin ja auch der Ansicht, sie sollte ihre eigenen Wege gehen. Was wollte ich in dem Alter von meiner Mutter? Gar nichts!
Wenn ich jetzt so meine Verzagtheit begucke, dann habe ich den Eindruck, meine Tochter ist der Mittelpunkt meiner Welt und auch wenn ich da nicht hingucke, weiß ich, sie ist der Mittelpunkt meiner Welt. Klar will sie nicht der Mittelpunkt irgendwelcher Welten sein. Sowas mag ich auch nicht. Klar soweit. Also nehme ich mir eine andere Spielfigur und rücke sie ins Zentrum. Schön wärs, wie geht das? Ich hatte ihr schon gesagt, dass ich mich nicht, ihr zu gefallen, neu verlieben kann. Schon klar, das wäre die einfachste Lösung, Mama ist verliebt, das Kind ist raus aus dem Spiel. Als sie klein war, war es wohl gut und richtig, die Beziehung so eng zu gestalten, eine 2-Raum-Familie. Jetzt arbeiten wir einzeln an der Lösung der Situation, ich bin alt, langsam und behäbig und hinke entsprechend hinterher.
Genug vom Kopf, da ist doch sowieso alles klar, jetzt will endlich mal der Bauch gehört werden. Also, wenn ich erlaube, dass es einfach unzensiert hochschwappt, das Gefühl, dann ist da immer noch Rache. Das ist mir ja peinlich, dass ich so nachtragend bin. Und dann eben diese Verzagtheit, da ist mein Leben hinter einer grauen Gardine verschleiert. Ich weiß schon, das muss ich nur aushalten, irgendwann ist die Gardine wieder weg, so war es in den letzten Jahren meistens. Aber es ist komisch, wenn das gleiche Leben, das vor einem Monat noch schön war, jetzt nicht mehr schön ist. Meine Ziele sind die gleichen, ich muss genau schauen, um zu merken, dass sie immer noch den gleichen Stellenwert haben. Ja, klar, ich brauche einen Menschen, auf den ich meine Gefühle fokussieren kann, aber, der ist mal nicht eben aus dem Hut gezaubert. Ich weiß auch nicht so, wie man das macht, mit dem Verlieben, aber das ist jetzt nicht das Thema.

Mein Lebenszentrum ist erst mal leer, wenn ich es schaffe, das Kind da herauszurücken. Das ist nach 25 Jahren keine einfache Übung, aber ich will es versuchen. Schon wieder Kopf, der über den Bauch herrschen will. Mein Bauch lässt sich aber, glaube ich, nicht beherrschen. Er kotzt

Freitag, 5. Dezember 2014

Anna im Weltall mit dem Vater


Es soll bald losgehen. Sie fahren zusammen weg. Aufregend und schön. Ihre beste Freundin Corinna steht neben Anna im Hausflur, sie warten. Anna weiß, das kann lange dauern. Der Vater muss übers Wochenende mal wieder dienstlich nach Bayern, das kommt ganz häufig vor. Aber heute ist es ganz besonders, Anna fährt mit und eben Corinna. Sie hat noch nie mit Anna einen Ausflug gemacht, geschweige denn bei Anna übernachtet. Für Anna ist das alles ganz aufregend. Aber bisher ist nur Warten angesagt, der Vater räumt seine Sachen zusammen, das kann ewig dauern. Dann kommt er doch nach vorne und sagt: „so, es kann losgehen, setzt euch schon mal ins Auto!“ Ach, du Schreck, Corinna hat ja noch gar nicht ihr Zeug beisammen. Sie kennt den Despotismus von Anna´s Vater, also rennt sie ganz aufgescheucht mit Anna nach Hause, gegenüber, und macht bei ihrer Mutter Alarm. Ihre Mutter ist für Alarm nicht zu haben, aber gerne mal schnippisch: „Du bleibst zu Hause, fertig, aus.“ Für Anna bricht alles zusammen, da braucht man nicht betteln und greinen, es ist entschieden. Also geht sie über die Straße zurück nach Hause und lässt den Kopf hängen. Der Vater ist gar nicht traurig, dass Corinna nicht mitkommt, er räumt noch ewig seine Sachen zusammen, bis es dann wirklich losgeht. Anna würde jetzt am liebsten auch zu Hause bleiben, allein mit dem Vater, das ist beängstigend. Aber das geht nicht, sie muss nun mit, ganz ohne Vorfreude.

Sie und der Vater alleine. Niemand hinter den sie sich ducken kann. Da muss sie aufpassen, Worte und Taten müssen gut gewählt sein, damit kein Donnerwetter über sie hereinbricht. Doch der Ausflug verläuft ganz unspektakulär, eigentlich sogar harmonisch. Die Nähe zum Vater ist ungewohnt, er spricht mit ihr. In Bayern kann sie im Wald spielen, das bekannte Gelände erkunden. Der Ort ist vertraut und doch fremd genug, dass sie sich nicht zu sehr langweilt. Es gibt ja so Grundregeln im Umgang mit dem Vater: Klappe halten, in Rufnähe bleiben, nichts anfassen und so. Wenn man die einhält, dann geht es meistens. Er redet mit ihr, diese Aufmerksamkeit findet sie schön, auch wenn sie nicht so recht versteht, worüber er redet. Dann kommt schon die Rückfahrt. Noch mal vier Stunden neben dem Vater sitzen, die letzte Hürde, bis sie wieder in der Familie untertauchen kann. Es ist ja doch ganz schön kuschelig, hier vorne, neben dem Vater, die Welt gleitet mit gleichmäßigem Brummen an ihr vorbei, das Abendlicht ist seltsam schön und der Vater redet ganz freundlich mit ihr. So ist es schön! Sie genießt das, jetzt bloß nichts falsch machen. Sie macht nichts falsch, denn sie schläft ein. Der Vater weckt sie, als er den Motor auf dem heimischen Hof ausstellt. Er ist ganz freundlich zu ihr. Sie weiß, für den Moment hat sie alles richtig gemacht.

Freitag, 28. November 2014

Albert und Anna III


Sie sind wieder auf Reisen, in Locarno. Hier hatte der Vater große Schwierigkeiten eine günstige Unterkunft zu finden. Aber es hat geklappt, sie schlafen alle vier in einem Zimmer. Wie abgeranzt das Hotel ist, kann Anna gar nicht erkennen, aber als die Mutter ihr sagt, dass sie sich nicht auf den Klodeckel setzen soll, ahnt sie, dass es eine ganz schön heruntergekommene Bleibe ist. Nach dem Abendessen gibt es nichts mehr zu tun. Alle außer Albert liegen schon in ihren Betten, sind aber noch gar nicht müde. Albert tanzt nackt vor Anna´s Bett herum, singt dazu ein ausgedachtes Liedchen und reißt im Rhythmus seine Pobacken auseinander. So kann sie seinen Tanz bewundern und seine rhythmische Rosette sehen. Ein schöner Spaß, dem der Vater ein jähes Ende setzt.

Oftmals langweilen sie sich außerordentlich in engen Hotelzimmern. Der Vater ist bei Besprechungen, der Ort unergiebig oder so. Sie müssen immer parat sein, dürfen nicht ihre eigenen Wege gehen, undenkbar auf die Kinder warten zu müssen. Also lungern sie im Bett herum, was soll man tun. Irgendwann haben sie sich das Massage-Spiel ausgedacht. Die Regeln sind einfach: einer massiert den anderen, nicht nur nach Lust, sondern nach Zeit. Wenn Anna Albert siebzehn Minuten lang massiert hat, dann muss er das auch. Die Uhr sorgt für Gerechtigkeit, denkt Anna. Aber wenn er keine Lust mehr hat, wird die Massage schlecht, negativ, er fängt an sie zu trietzen, naja, das Übliche eben. Es gibt aber keine Alternative, sie müssen in diesem Zimmer bleiben, sie bleiben bei Albert´s Spielchen. Irgendwann kommt der Vater herein, um zu sagen, dass die Reise weitergeht. Er sieht Albert auf Anna sitzen, im Bett, beide mit nacktem Oberkörper. Seine Phantasie geht mit ihm durch. Inzest. Inzest. Er regt sich höllisch auf, die Anderen sind von der Unterstellung eigentlich nur genervt. Anna weiß gar nicht wovon er redet, aber an der Reaktion der Mutter und von Albert merkt sie, dass der Vater mal wieder auf dem völlig falschen Dampfer ist. 

 Der Vater kommt lauthals in Anna´s Zimmer gesprungen: „Anna, steh auf, es ist Weihnachten!“ Ja, mein Gott, es ist noch den ganzen Tag Weihnachten, denkt sie, steht aber auf. Der Vater freut sich immer sehr an Weihnachten, aber aufgepasst, die Stimmung kann schnell umschlagen. Abends sitzt er in seinem Sessel und würde am liebsten alle Päckchen selbst öffnen. Behutsam  fummelt er an jedem einzelnen Knoten, um den Spaß lange auszukosten. Anna hat ja auch noch alle Freude an Weihnachten. Sie hat vormittags die Weihnachtsgeschichte auswendig gelernt und abends nach dem Essen aufgesagt. Dabei kam sie sich dann doch ein bisschen komisch vor. Ja ok, ein Kind sagt ein Gedicht auf, aber die Weihnachtsgeschichte kennen nun mal alle Anwesenden. Anna fühlt sich ertappt bei ihrem  Aufmerksamkeitsdefizit. Die Inszenierung war ein Weg in den Mittelpunkt, für kurz. Die Kerzen am Weihnachtsbaum dürfen nicht lange an sein, der Vater braucht den Sauerstoff für sein Herz. Jetzt legt er alte Platten auf und will tanzen. Er bittet Anna zum Tanz. Warum sie? Er ahnt, dass seine Frau ihm einen Korb gibt. Anna kann sich nicht wehren. Sie genießt die Aufmerksamkeit des Vaters, ist aber auch ängstlich etwas falsch zu machen. „Ich kann aber doch gar nicht tanzen“, wendet sie ein. Der Vater erklärt ihr, dass er ein guter Tänzer ist und sie einfach führt. Das klappt auch, aber Anna ist mächtig unter Druck: sie muss sich führen lassen können und auch noch aufpassen sonst nichts falsch zu machen, damit der Vater fröhlich bleibt. Sie spürt  Verantwortung für die gesamte Familiensituation. So kann sie die seltene Aufmerksamkeit des Vaters gar nicht genießen.

Anna ist Bettnässerin. Das geht so: Sie träumt, dass sie sich irgendwo zum Pinkeln hinhockt und es laufen lässt. Dann wacht sie in einem nasskalten Bett auf. Sie sucht sich einen trockeneren Bereich und schläft weiter. So geht das oft. Weiß die Mutter davon? Keine Ahnung. Mal wieder unterwegs, diesmal in der Schweiz, wird es spät und der Vater hat immer noch keine Unterkunft gefunden. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein teures Hotel zu wählen. Das ist nur für den Vater ein Drama, alle wissen, dass in seiner Brieftasche genug Geld ist. Die restliche Familie genießt das, abgesehen von seiner schlechten Laune, die sowas beschert. Anna freut sich an dem schönen Zimmer, in dem sie schlafen wird. Das Bett ist wie im Märchen mit der Erbse: eine riesige, weiche Matratze. Als Anna sich ins Bett kuscheln will, fällt ihr siedend heiß ein, dass sie ja immer ins Bett macht. Diese Peinlichkeit darf ihr heute nicht passieren, eine furchtbare Vorstellung, diese große Matratze mit Pippi zu nässen. Verkrampft legt sie sich hin, will am liebsten gar nicht einschlafen. Sie träumt wieder, dass sie sich zum Pinkeln hinhockt. Da klingelt ein Alarm in ihrem Kopf, der sie aufweckt. Im Bett ist nur ein kleiner Fleck, damit kann sie Leben. Sie rennt zum Klo. Der Alarm ist jetzt fest installiert. So wurde sie von einem teuren Hotel geheilt.

Anna und Albert zanken mal wieder. Albert verändert die Auseinandersetzung zur Prügelei. Die Bedrohung, die von ihm ausgeht ist zu viel für Anna. Sie flüchtet schnell in ihr Zimmer, stemmt die Klinke mit aller Kraft hoch, damit Albert nicht herein kann. Wohin nun mit seiner Wut? Er greift sich den Stuhl am Klavier und rammt ihn in die Tür. Er ist selbst baff, wie sehr er die Tür lädiert hat. Die kaputte Stelle wird mit Gips aufgefüllt und weiß übermalt. Wer hat diese Ausbesserung denn gemacht? Es war zu viel weiße Farbe, ein Tropfen hat sich gelöst und ist einige Zentimeter herunter gelaufen. So ist alles angetrocknet und geblieben. Immer wenn Anna in ihr Zimmer geht, sieht sie die Stelle. Ein ewiger Hinweis auf ihren Albert, seine Unbeherrschtheit, den Charakter der Beziehung der Beiden. Aber so denkt sie nicht darüber nach. Sie denkt: jaja, der Albert.


Donnerstag, 20. November 2014

Das Muttertier: rotbraun


Rache ist jüdisch, Auge um Auge und so weiter. Jesus hat immer alles verziehen. Mein Bauch ist jüdisch. Mein Kopf wohl eher christlich. Kann mein Körper mit so einem  Konflikt leben?

Und dann auch noch Rache an der eigenen, geliebten Tochter. Außerdem, was hat sie mir schon getan? Sie wollte mit mir reden, über ihre Schuldgefühle mir gegenüber, die ich angeblich befördere, durch mein Verhalten. Ok, so weit, so gut, sie darf mit mir reden, über alles, sagt mein Kopf. Mein Bauch erinnert sich gar nicht so genau an das Gespräch, aber er fühlt sich verletzt und zurückgewiesen. Jetzt will er sich rächen. Ich (mein Kopf) kann gar nicht in Ruhe über das Gespräch nachdenken, mir Verhaltensweisen überlegen, wie ich darauf reagieren will, weil sofort mein Bauch angeschwappt kommt und sich massiv einmischt. Rache, Rache, Rache, sie soll betteln, dass alles wieder so ist wie früher, aber Clint Eastwood ist eisenhart. So ungefähr kommt mein Bauch daher. Ich möchte aber eine adäquate Reaktion auf das Gespräch, mein Kind darf mich verletzen und auch zurückweisen, wenn es sich freistrampeln muss. Wichtig sind ihre Freiheit und ihr Seelenheil, unsere Verstrickungen müssen gelöst werden, wenn sie das braucht. Ich will mich etwas zurückziehen, ich will ihr mehr Positives von mir erzählen und sie nicht mehr so unmittelbar wissen lassen wo ich hadere. Ich will mich nicht mehr in dieser totalen Verfügbarkeit präsentieren. Ich will  ein bisschen Distanz und Zensur im Kopf, nicht mehr reden ohne vorher zu denken. So. Ja. Das kann in Rache umschlagen, weil, es ist eigentlich ein Entzug. So empfinde ich das zumindest, ich ziehe mich da schon zurück, aber ich glaube, das ist das, was sie will. Ich bin dann nicht mehr ganz und gar da, Nora, absolut, 100%. Das erscheint mir wie ein großes Geschenk, Du bekommst die ganze Nora. Aber nein, es ist eher ein Geschenk an mich, die ganze, ganze Nora gibt es nämlich nicht woanders. Bei Nacije nicht, da bin ich immer etwas vorsichtig. Bei Kurt auch nicht mehr, seitdem er mit Angelika ist, außerdem konnte er damit immer gar nichts anfangen. Herbert  vielleicht, am ehesten, vielleicht jetzt noch mal probieren, wenn wir zusammen Urlaub machen. Jedenfalls ist das eigene Kind auch nicht die richtige Adresse für Zweifel, Ängste, dunkle Seiten. Schon die  wahre Mutter und kein Schein, aber das Kind soll mein Gewicht nicht spüren. Genau das ist es. Meine Mutter hat mir immer so schwer auf dem Rücken gelastet, mache ich das jetzt nach? Trägt mich die Kleine, ungefragt?
Also, ich muss meine Rolle neu definieren. Das Vorbild, das einzige, was ich habe, ist meine eigene Mutter. Die war gut und nicht gut. Gut in der Unaufdringlichkeit. Das ist aber auch ihre größte Fahne. Trotzdem hat sie mir jahrzehntelang Rückenschmerzen beschert. Also, vordergründige Unaufdringlichkeit hilft nicht viel, wenn sie ungesehen der Reiter mit der Gerte ist. Aber es gibt hier nicht nur eine Seite. Was ist Tochter´s Anteil, gut, den habe ich ihr in der Prägung vielleicht schon eingepflanzt. Sie rutscht, genauso wie ich, in jede Verantwortungslücke, die sich auftut. Das ist mindestens ihr Anteil, auch wenn ich das verursacht haben sollte. Aber, wie jetzt da rauskommen?

Wir wollen das nicht mehr! Haha. Löst sich das so? Aber was kann dann der Weg sein? Mehr Distanz? Ohne Rache! Sobald ich in die Rache komme, binde ich sie ja wieder. Schuldgefühle! Das war ja der Ausgangspunkt und da bin ich auch gleich wieder. Ich kann gut sehen, dass meine Racheimpulse Schuldgefühle in ihr antriggern sollen. Gut. Die Rache ist übermäßig kontraproduktiv, das ist offensichtlich. Ich will in Verbindung mit ihr sein. Ich will leicht sein und dabei nicht getragen werden. Ich will mütterlich sein, wenn ich so gebraucht werde und dabei nur Mutter sein. Ich will keine Freundin sein. Nur Mutter. Was macht Mutter aus? Mutter ist da und im Hintergrund. Mutter wird geliebt, spielt aber keine Rolle im eigenen Leben. Mutter weiß viel, aber nur wenn sie gefragt wird. Mutter ist das Zentrum von Familie, Verbundenheit, Mutter ist die Herkunft. Das hat alles aber nur Stellenwert, wenn es gebraucht wird. Sonst ist Mutter nur im Hintergrund. Aus diesem Hintergrund kann Mutter viel Kraft geben.


Verstrickungen mit der Mutter rauben Kraft, auch gleichzeitig. Verstrickungen sollten gelöst werden, aber das ist wohl Aufgabe von Therapeuten. Ich würde schon gerne helfen die Verstrickungen zu lösen, aber ich bin involviert, wahrscheinlich kein guter Ratgeber. Ich kann ahnen, aber nicht wissen. Schuldgefühle, darüber haben wir kurz gesprochen, dass auch ich ganz viele Schuldgefühle ihr gegenüber habe. Da sitzen wir einander gegenüber, jeder ein großes Paket Schuldgefühle zum Anderen, wenn wir sie in die Mitte schmeißen könnten, würden sie sich dann amortisieren, oder Krieg der Sterne machen? Da gibt es sicher auch noch viele andere komische Gefühle, die wir zueinander herumtragen, die uns pflocken, binden, drücken. Was tun? Ich kriege Bauchschmerzen, wie immer, wenn ich nicht weiterweiß. Es ist viel, zu viel und kein Land in Sicht.

Sonntag, 16. November 2014

Albert und Anna II


Anna gruselt sich, nein sie hat panische Angst. Sie schreit um ihr Leben. Sie ist in ihrem Zimmer, im Dunkeln, hinter ihrem Fenster draußen ist etwas, das sie bedroht. Mit aller Kraft versucht sie die Tür zu öffnen, aber unmöglich, auf der anderen Seite steht Albert und hält die Tür zu. Es ist keine Frage von Kraft, das weiß sie, sie muss einfach aushalten, bis Albert nachgibt, sie freilässt.  Aber die Panik hat sie fest im Griff, da gibt es nur die Tür, die aufgehen muss, um sie aus der Bedrohung zu retten, zur Familie, ins Warme zu lassen. Bis dahin stemmt sie sich mit aller Kraft gegen die Zarge, es fällt ihr nicht ein das Licht anzumachen, sie kann auch nicht zum Fenster gehen, um zu schauen, was ihr da Angst macht, sie kann nichts machen, außer schreien. Albert hält nur die Tür zu. Es ist ihre Angst, die sie übermannt, lähmt, sie weiß gar nicht, warum sie so viel Angst hat. Aber diese Bedrohung, da draußen am Fenster stellt ihr die Nackenhaare auf, sie muss hier weg, der Moment ist schrecklich lang. Albert hört die Panik in ihrer Stimme und lässt sie frei.

Einmal waren sie in Emden zu Besuch bei Freunden. Eigentlich eine schöne Sache. Morgens wacht Anna auf, das Haus ist noch ruhig, sie weiß, dass sie noch nicht aufstehen darf, um im fremden Haus herumzugeistern. Neben ihr liegt Albert auf der Matratze, er liest. Anna möchte bespaßt werden und gängelt ihn. „Ich kann Dir aus meinem Buch vorlesen, wenn Du willst.“ Sie inspiziert den Buchdeckel. „Der Untergang des Hauses Usher“, sie weiß es, es sind gruselige Kurzgeschichten. „Lies mir eine vor, die nicht so gruselig ist, Du weißt, wie sehr ich mich ängstige!“ Er liest. So geht das, eigentlich ist es auch angenehm, so gemütlich auf der Matratze, Albert liest vor, ungefährlich. So, am lichten Morgen kann  sie die Geschichte auch gut aushalten. Aber  sie ahnt, dass sie sich nicht gut tut. Diese Geschichten sind Futter für ihre Ängste, irgendwann, wenn sie allein ist, vielleicht im Dunkeln, wird ihr das alles wieder einfallen und ihr Angst machen.

Alberts Freunde sind Zwillinge, sie wohnen direkt nebenan. Einmal ist es vorgekommen, dass deren Eltern über Nacht nicht zu Hause waren. Albert durfte dort übernachten, eine einmalige Gelegenheit. Keiner weiß wie Anna das hingekriegt hat, dass sie auch mit durfte. Jedenfalls hatten sie sie am Hacken. Albert und die Zwillinge schliefen im Ehebett, Anna sollte im Kinderzimmer, das direkt an das Elternschlafzimmer anschloss, übernachten. Nach einem Umbau war es nun so, dass das Kinderschlafzimmer kein Fenster mehr hatte. Die Zwillinge schliefen dort ja jede Nacht, aber Anna war fest der Ansicht, dass sie ersticken würde wenn die Tür zum Elternzimmer geschlossen wird. Die Jungs wollten natürlich ihre Ruhe haben, also warteten sie eine Weile, um dann die Tür zum Kinderzimmer zu schließen. Da hatten sie ihre Rechnung aber ohne Anna gemacht. Gespannt wie ein Flitzebogen lag sie hellwach in dem Bett und wartete darauf, dass die Tür leise geschlossen wurde. Dann stand sie auf, ging hin und erklärte, dass sie ersticken würde. Die Zwillinge, die meistens etwas langmütiger mit ihr waren als Albert, erklärten ihr, dass sie jede Nacht zu zweit nicht erstickten. Aber sie blieb eisenhart, das geht nicht! Sie nervte kolossal, das war ihr klar, aber sie konnte nicht anders. Die Episode hat einen unklaren Ausgang, ist sie dann doch eingeschlafen, oder haben die Jungs aufgegeben?

Sie zanken mal wieder, es ist eine rein verbale Auseinandersetzung, bisher. Aber natürlich ist Anna auch verbal unterlegen. Manchmal ist es so wie jetzt, sie knickt plötzlich ein. Sie kann nicht mehr wütend sein, sondern nur noch traurig, verletzt und ängstlich, also rennt sie davon. Albert verfolgt sie. Anna rennt zur Haustür, dem sicheren Hafen, zur Mutter. Als sie an der Tür ankommt passiert das, was sie eigentlich gar nicht will: sie fängt an zu weinen. Die Aussicht auf das wenige Mitgefühl, das sie von ihrer Mutter bekommt, lässt sie weinen. Albert gibt die Verfolgung auf, als sie die Türklinke in der Hand hat, sieht die Tränen und spuckt ihr das Wort „Petze“ hinterher. Sie will ja gar nicht petzen, das lohnt sich auch nicht. Ihre Mutter wird nur sagen: „ihr sollt nicht immer streiten!“  Und damit ist das Thema für sie erledigt.

Es ist Weihnachten. Anna ist beseelt von dem Fest und von dem Versuch Aller bei Harmonie zu bleiben. Außerdem ist sie gierig, wie jedesmal. Die Eltern, die großen Brüder, da kann man einiges erwarten. Diesmal gibt es ein großes Geschenk von Albert, Anna ist überrascht und packt es aus. Es ist ein Brettspiel, die Alpenreise, toll, sie will es am liebsten sofort spielen. Dann entdeckt sie es: er hat mit Kugelschreiber auf den Deckel geschrieben: „von Albert für Anna“ Sie ist empört, wie kann er ihr Spiel so verhunzen. Sie ist nicht empfänglich für die Zugewandtheit und Vorfreude, die er empfunden haben muss, als er das geschrieben hat. Ein Glück steht das da nach über 40 Jahren immer noch auf dem Deckel, in seiner damals schon typischen Handschrift. Seit vielen Jahrzehnten ist sie jedesmal empfänglich und freut sich, wenn sie es liest: „von Albert für Anna“


Sie sind unterwegs, wie so oft, mit den Eltern in Frankreich. Das ist kein wirklicher Urlaub. Der Vater arbeitet als Sachverständiger auf Fabrikdächern in irgendwelchen Provinzkäffern. Die Mutter hat den typischen Assistenz-Sekretärin-Ehefrauen-Job. Albert und Anna langweilen sich auf der Rückbank des Autos auf langen Landstraßen. Abends kehren sie ein, in Lastwagenfahrer Unterkünften an der route nationale. So kann der Vater seinen Spareifer ausleben, sie erleben die französische Hausmannskost, wenn Gott so in Frankreich lebt, dann ist er arm dran. Häufig geht es der Mutter nicht gut. Das ganze macht ihr wenig Freude, einmal leidet sie an Übelkeit. Es ist Hochsommer im Süden Frankreichs. Albert sitzt mit nacktem Oberkörper auf der Rückbank neben Anna, sie haben beide Fenster offen. Sie können hier nicht Zanken, wie gewohnt, der Vater ist streng, sie müssen sich ruhig verhalten. Um der Langeweile zu entrinnen denken sie sich viel Unsinn aus. Eigentlich ist Albert der Spaßvogel, der immer wieder Ideen hat. Anna genießt das. Jetzt ist Albert an seinen Titten zugange. An sich findet er das gar nicht so lustig, dass er mehr Busen hat als seine Schwester, aber zum Spaß vergleichen sie ihre Körbchengröße. Der Mutter ist schlecht, plötzlich dreht sie ihr Fenster herunter und kotzt aus dem Auto. Die Flugbahn des Erbrochenen war eigentlich vorhersehbar, aber Albert war unaufmerksam. So war er überrascht, als die Bröckchen zu seinem Fenster wieder hereinflogen und ihn besprenkelten. Der Vater hielt bei der nächsten Gelegenheit an, um sein Auto mit einem Tuch abzuwischen.  

Donnerstag, 13. November 2014

Befindlichkeiten: Herbstlaub


Ich finde das Herbstlaub wunderschön, so wie es jetzt ist. Schon ganz schön kahl, der Verfall ist überaus sichtbar. Der Himmel ist gleichmäßig grau und scheint direkt über den Bäumen zu beginnen. Der Himmel drückt, auf das Gemüt, wenn ich es zulasse, aber er ist also spürbar, er ist so nah und real, dass ich meine, ihn anfassen zu können, wenn ich die Arme nach oben strecke.

Das Laub ist so unfassbar bunt, alle Farben sind da, keine Bekleidungsindustrie kann solche Farben. Ich weiß aber auch nicht, ob ich mich trauen würde so leuchtend herumzulaufen. Also, diese leuchtenden Farben kommen mir durch den tiefen grauen Himmel noch schöner vor. Diese sterbende Intensität leuchtet ganz für sich, braucht die Sonne nicht. Das Leuchten vor dem Sterben, die Blätter verglühen bevor sie abfallen. Sie versprechen: Weihnachten. Das sind wohl kindliche Überreste, dass ich mich davon verzaubern lasse. Aber ich genieße es. Weihnachten teilt die dunkle Jahreszeit in zwei Hälften. Das ist gut, das macht es leichter diese Zeit zu überstehen. Der Zauber glimmt bei mir auch nur manchmal, seitlich. Da ist ein freundlich erleuchtetes Wohnzimmer,  rot blühende Blumen, heißer Tee, Zeit verschwenden, besinnlich sein, Gemütlichkeit. Falls ich versuchen sollte diese Idee einzufangen und für mich zu zelebrieren, zerrinnt mir alles. Aber als seitliches Wohlfühlbild ist es angenehm.

Der Rausch von gelb-orange-rot-braun zieht mich völlig in den Bann. Ich muss immer hinschauen. Mache mir Sorgen, dass ich nicht aufmerksam genug bin und etwas verpasse. Es wird bald vorbei sein, dann werde ich es vermissen, aber nicht lange. Dann kommt die nächste Jahreszeit mit ihrem Zauber. Ich habe einige Jahre am Äquator zugebracht. Vieles aus meiner Heimat hat mir damals gefehlt, aber was mir sicher sehr gefehlt hat waren die Jahreszeiten. Anfangs dachte ich, ich sei gut dran, so mit ewigem Sonnenschein. Aber das wurde mir doch schnell langweilig. Der Wandel der Jahreszeiten ist immer wieder aufregend. Völlig unaufregend ist jedoch Weihnachtsliedergedudel bei 35 Grad.

Donnerstag, 6. November 2014

Urlaub in Polen

Ich trenne mich! Genau das hat sie jetzt entschieden, wenn nichts besonderes dazwischen kommt, aber die letzten fünf Jahre ist ja auch nichts besonderes dazwischen gekommen. Jedenfalls will sie die Tür noch nicht ganz fest zuschlagen. Obwohl er neben ihr am Steuer sitzt, behält sie ihren Gedanken für sich. Es soll noch ein bisschen ihr ganz eigener Gedanke bleiben. Außerdem hat sie viele schlechte Erfahrungen mit dem gesprochenen Wort gemacht. Lieber erstmal lange, lange auf der Zunge zergehen lassen. Gestern hatten sie gestritten, dabei sind sie doch im Urlaub, hier in Polen an der Ostsee. Eigentlich ist alles wunderbar, das Licht, zum Beispiel: silbern und golden zugleich. Die Sonne steht tief, die Helligkeit hat immer etwas Zwielichtiges, das berauscht sie. Der Strand ist fast leer, die See so weit und trotzdem streiten sie. Gibt´s das? Ja, offensichtlich liegen ihre Konflikte jetzt bloß. Das viele Trennende ist unübersehbar. Erst sind sie lange spazieren gegangen, der Wind rauschte laut in den Ohren, wenn sie den Kopf zu ihm drehte um etwas zu sagen, zog der Wind lange Sabberfäden aus ihrem Mund, das war peinlich, also schwieg sie. Er sagte sowieso nichts. Sie setzten sich in die Dünen, zum Rauchen. Sie fing gleich an zu schreien, dass er sich auf sie zu bewegen muss, sonst geht gar nichts mehr. Er brüllte direkt zurück: „schrei mich nicht an!!“ Sie dann nochmal, wohl etwas leiser: „ du musst dich auf mich zubewegen, sonst geht nichts mehr.“ Das war schon alles, sie rauchten und schwiegen. Später, als sie sich wieder aufrafften, fragte sie ihn: „ und, was war jetzt wichtig an unserem Gespräch?“ „Dass du mich nicht anschreien sollst.“  Gut, nicht gut. Das war wohl der Auslöser für ihre Entscheidung, eben, hier im Auto. Aber das war natürlich keine spontane Entscheidung, hier war nur der finale cut. Schon auch den ganzen Urlaub über hatte sie daran gedacht. Sie sind hier im Urlaub, kein Alltag, keine Zwänge, außen rum alles gut und trotzdem redet er nicht mit ihr! Kein Wort. Sie verbringen Stunden schweigend, nichts gegen einvernehmliches Schweigen, oder Schweigen überhaupt. Aber er redet nicht mit ihr. Immer wieder hatte sie zu ihm gesagt: „sprich mit mir!“

Jetzt trennt sie sich. Sie tut es schon, hier im Auto, ohne dass er es weiß. Das fühlt sich gut an, das Leben leuchtet gleich heller. Ist da auch Häme, Schadenfreude? Sie behält das auf jeden Fall noch ein bisschen für sich, warum weiß sie nicht. Es hat was Genüssliches, alles hat plötzlich eine andere Bedeutung, jede Bemerkung klingt anders. Das exklusive Wissen bleibt erstmal ihres und was noch nicht ausgesprochen ist, ist noch nicht definitiv. Außerdem, merkt der eigentlich irgendetwas? Die ganze Welt hier im Auto verändert sich, hat sich verändert, sie hat sich getrennt! Sie kann warten, bis er fragt. Er soll fragen: was ist mit uns, was ist mit dir, oder so. Egal was, Hauptsache, er zeigt Interesse. Wenn er Interesse an ihr oder der Beziehung zeigen würde, dann könnte sie noch mal überlegen, dann wäre es gut, dass noch nichts ausgesprochen ist.

Es sind schon wieder Stunden vergangen. Die Wege hier in Polen sind viel weiter, als man aus der Karte erahnen kann. Wie festgebacken sitzen sie auf ihren Positionen: er Fahrer, sie daneben. Es gibt immer noch kein Gespräch, weil sie keines beginnt, aber in ihrem Kopf entwickeln sich lauter Geschichten gleichzeitig. Ihre Entscheidung hat sie befreit, sie hat Ballast abgeworfen, ihn. Beflügelt ergeben sich bunte Zukunftsmodelle: Norwegen, Norderney, Neustadt an der Aisch? Sie kann überall hin, alle Bilder im Sinn sind verheißungsvoll, alles gefällt ihr und so verliert sie sich in der Vielfalt. Wie ein riesiger roter Klotz taucht die Marienburg am Horizont auf. Ihr Tagesziel. Die luftigen Zukunftsträume einpacken, zurück in das Miteinander, auch wenn es nur um Alltagsentscheidungen wie Parkplatz und Essen geht.

Die Marienburg ist ja unfassbar beeindruckend. Diese vielen, riesigen, roten Wände drücken sie auf den Boden zurück. Das tut ihr gerade ganz gut. Wenn sie aus den Fenstern schaut, blickt sie auf die masurische Ebene. Diese Weite! So flach! So schön! Das tut ihr alles gut. Fast tausend Jahre alte Mauern umringen sie, über ihr der makellose, blaue Himmel, draußen die Ebene, der Blick verliert sich weit hinten im Dunst. Das tut ihr alles gut, das erdet sie. Abends kommen sie an die Weichsel. Auch so schön und hier wird europäische Geschichte so lebendig, dass Panzer und anderes Kriegsgerät vor ihrem geistigen Auge hin und her fahren, sie hört das Kriegsgebrüll und gleichzeitig die Stille. Dieser Fluss zieht sie völlig in den Bann. Ganz ruhig und doch ganz kraftvoll, sie meint ein Murmeln zu hören, das uralte Geschichten erzählt. Flüsse haben immer eine magische Wirkung auf sie, aber die Weichsel übertrifft alle. Am nächsten Tag setzen sie über mit der Fähre. Nochmal wunderschön auf dem Fluss zu sein, dann muss sie sich verabschieden, vom Fluss, sie fahren weiter nach Danzig. Das Außen ist aufregend und schön, die Beziehung liegt brach, das so gleichzeitig wahr zunehmen ist anstrengend. Auf dem Fahrrad fahren sie gemeinsam durch Danzig. Das ist gut, so können sie die Stadt gemütlich erobern, Wege wiederholt fahren, nochmal gucken, auch raus zu Hafen und Werft, wo sie wieder von Geschichte beeindruckt wird. Danzig wirkt so am Rand. Letzte Tankstelle vor Wladiwostok. Trotzdem ist es warm und ummäntelnd. Das viele Fachwerk, aber ganz besonders: das Licht. Die Sonne steht hell und hoch am Himmel und doch sind die Schatten unwirklich, als wäre das Licht eine Erinnerung. Sie sitzen an der Fußgängerzone unter einer Kastanie. Wenn sie an Stadt und Fluss vorbei zur Sonne schaut, ist es ein herrliches Erlebnis, schaut sie in sein zugeschlossenes Gesicht gegenüber, ist es furchtbar. Ein Spagat mit drei Beinen. Der Blick in die Welt, die sie gerade umgibt ist schön, der Blick in das Innere ist verheißungsvoll, der Blick auf die Beziehung ist eine abgebrannte Steppe.

Das Trennende ist immer unausweichlicher. Jeden Augenblick bestätigt sich ihre Entscheidung. Aber die Schuld, die Verantwortung. Sie behält es ja auch deswegen zurück. Sie hat Angst vor seiner Bestürzung. Die großen Versprechungen, die sie sich damals gemacht haben, als sie verliebt waren: zusammen alt werden, um die Liebe kämpfen, wenn es nötig wird. Davon gibt es schon lange nichts mehr. Verpufft, pulverisiert oder wohl begraben unter einer Betonschicht. Lange Zeit beschäftigte sie sich mit einem Kinderhämmerchen an dieser Betonschicht, nun hat sie aufgegeben. Aufgeben ist eigentlich was trauriges, aber seit der Aufgabe ist alles besser. Innen fühlt sie sich schon frei. So frei wie noch nie in ihrem Leben.

Diese Freiheit lässt sie innerlich jauchzen. Da spürt sie schon Übermut aufkommen vor lauter Verheißung. Dadurch wird alles in der Heimlichkeit spürbarer. Heimlichtuerei verabscheut sie an sich, sie kann das auch gar nicht, dafür trägt sie ihr Herz zu sehr auf der Zunge. Aber diese vier Worte: „ich habe mich getrennt“ will sie immer noch bei sich behalten.  Viele Empfindungen wirbeln in ihr durcheinander. Da scheint Trotz zu sein: wenn du nicht fragst, bist du eben selber Schuld! Kinderworte. Sie hört eine Achtjährige sowas sagen. Will sie ihn bestrafen? Das hast du davon, wenn du dich nie interessierst! Auch das ist kein erwachsenes Verhalten. Sie sind schon lange wieder auf dem Rückweg nach Hause, als sie sich endlich eingesteht, dass es die Angst vor Schuld und Verantwortung ist, die sie zurückhält. Sie übernimmt immer Verantwortung, gerne auch ungefragt, mit ihm hat sie das von Anfang an gemacht. Nun trägt sie schwer daran. Die Vorstellungen von seiner Reaktion auf die Nachricht sind furchtbar, sofort wird ihr heiß von Schuld, aber er fragt ja nicht, also braucht sie sich das auch nicht auszumalen. Es ist beschlossene Sache, wenn er fragt, kriegt er es gesagt.
 Der Alltag ist komisch und ungewohnt. Sie ist getrennt und verhält sich auch so. Er ist noch in Beziehung und verhält sich auch entsprechend. Der Unterschied fällt gar nicht auf. Sie ist in der Warteschleife, Pläne sind schon ausgereift, sie wird in eine neue Stadt ziehen. Noch mal ein neues Leben, das nicht neu sein wird, so einfältig ist sie nicht. Trotzdem, neues Spiel, neues Glück. Sie kratzt mit den Hufen, fängt an ihren Kram auszumisten, aber sagen tut sie nichts.

Einen Tag kommt er total kaputt nach Hause, sein Chef hat ihm gekündigt, er ist wieder arbeitslos. Da stellt er die Frage. „Was ist eigentlich mit uns?“ Sie möchte weinen. Er liegt schon am Boden und sie tritt ihm jetzt noch ins Kreuz. „Tja, ich habe mich schon in Polen von dir getrennt.“  Er nimmt es ganz gefasst auf. Sie fühlt sich schon recht schuldig, aber eher, weil der Zeitpunkt so schlecht ist. Eine saublöde Idee den Zeitpunkt ihm zu überlassen

Sonntag, 2. November 2014

Befindlichkeiten


Ich liebe den Blick in den Himmel. Einfach nur Himmel. Da bin ich weg und verliere mich nicht. Die Augen spüren die endlose Weite, die Seele spürt das auch. Der Himmel ist ein großes Versprechen. Es gibt noch mehr als meine kleine Existenz. Theoretisch habe ich alle Möglichkeiten: ich könnte alles, aber auch alles anders machen, verspricht der Himmel. Ich mache nichts anders, aber die Idee von lustvollem Leben schenkt er mir. Es ist Verheißung und mehr brauche ich nicht. Morgens und abends ist es natürlich am schönsten. Ich bestaune Licht und Schatten, beobachte, wie die Farben sich verändern, die Weite, der Westen. Es ist Stille in mir und doch spielt sie leise Musik auf und prickelt ein bisschen. Jetzt. Es ist das Jetzt. Alles andere verschwindet hinter dem Jetzt. Ich spüre nur meine Existenz in der Welt, die berauschend schön ist.

Von hier nehme ich den Blick wieder herunter in mein Leben. Und es ist einfach nur Leben. Das ist Arbeiten, Sport, Hobby, Freunde, Verwandte, Fernsehen. Daran hänge ich wie eine Klette. Das Leben macht mir mehr Freude als jemals zuvor. Früher war der Gedanke, dass das Leben endlich ist, akzeptabel, manchmal auch tröstlich, zumindest ein Weg Distanz zur Situation herzustellen. Jetzt ist er nur noch Schade. Besonders, wenn ich in den Himmel schaue. Diese wunderbare Welt, mit den schönen Farben, wird mir fehlen, wenn ich mal nicht mehr hier bin.

Freitag, 31. Oktober 2014

Albert und Anna I



Es ist ein ganz normaler Abend. Anna liegt auf dem Boden im Wohnzimmer. Die  Arme hat sie zur Seite ausgestreckt. Sie keucht. Sie fühlt sich ausgeliefert. Sie muss um Gnade wimmern. Das will sie keinesfalls, aber es ist mal wieder so weit.  Albert sitzt auf ihr, seine Knie quetschen ihre Oberarmmuskeln. Sie versucht ihn mit ihren Beinen zu erwischen, aber das klappt nicht. Die Arme tun weh, richtig weh.  Sie gibt auf, weint , er quält sie noch so lange, wie es ihm gefällt, dann lässt er von ihr ab. Albert ist älter, kräftiger, ein Junge eben. Er ist kein Böser, oder so, aber es gibt viel negative Energie in ihm, so wie bei wohl fast allen Familienmitgliedern. Anna ist die Einzige an die er sich mit diesen Impulsen wenden kann, zumindest ungestraft. Sie ist verbissen, eine Kämpfernatur, jedesmal von Neuem versucht sie ihm Paroli zu bieten, nicht verbal, da zeigen sich die über drei Jahre Altersunterschied zu deutlich, aber in den körperlichen Auseinandersetzungen kämpft sie zäh und mit allen Mitteln. Er gibt die Regeln vor, sie hält sich dran, wenn sie kann, aber im Zank kann sie machen, was sie will, als Unterlegene darf sie zu allen Mitteln greifen. Albert zügelt sich, spielt mit ihr wie die Katze mit der Maus, aber das bemerkt sie nicht, für sie geht es immer um alles.

Es gibt Abendbrot. Die Mutter hat Reste vom Mittagessen aufgewärmt, für Albert und Anna ein Fest. Die kleine Portion wird gerecht auf ihre zwei Teller aufgeteilt. Anna überlässt sich der Gier und spachtelt gleich los. Zu spät bemerkt sie, dass Albert wieder mit ihr spielt, er macht langsam, beobachtet, und als sie schon fast nichts mehr auf dem Teller hat, ist die Situation perfekt. Er zeigt ihr ihre Gier und dann ihren Neid. Genüsslich isst er langsam, sie muss zuschauen.  Albert ist immer überlegen, er legt fest, was gespielt wird, was Thema ist, einfach alles. Trotzdem geht sie immer wieder zu ihm. Sie geht ihm nicht aus dem Weg, im Gegenteil, sie geht ihm auf die Nerven. Er hat gute Freunde, sie spielen oft zusammen, auch da will sie immer dabei sein. Schon als Kleinkind ist sie immer hinterher gerannt, ihre ersten Worte waren angeblich „peng-peng“. Anna weiß, dass sie sich ausliefert, aber der Zug zu ihm ist so stark. Vielleicht will sie sich immer wieder ausprobieren, oder ist Macht und Ohnmacht einfach ihr Thema? Jedenfalls lernt sie hier was Zeit ist, was Prozess bedeutet. Anscheinend gibt es einen sich ständig wiederholenden Ablauf: Sie sucht ihn auf, „spiel mit mir“, er ist schon in irgendetwas vertieft, sie gängelt ihn, bis er sich auf sie einlässt. Aber er bestimmt das Spiel, die Regeln, sie hat keine Wahl, sie spielen ein bisschen. Irgendwann wird ihm langweilig, er fängt an das Spiel zu verändern, stichelt, treibt sie in die Enge, so macht das keinen Spaß mehr. Zu spät merkt sie, dass es schon um etwas anderes geht, ihre Ohnmacht lässt seinen Sadismus frei. Der Streit wird körperlich, bald muss sie aufgeben. So ist das und doch geht sie immer wieder zu ihm. Ist Anna so in Not, wenn sie sich langweilt, oder was lässt sie wieder und wieder hingehen, obwohl sie doch schon vorher weiß, dass das gefährlich ist.

Albert kommt von der Schule nach Hause, schmeißt seinen Ranzen in die Ecke und schmeißt sich selbst auf den hinteren roten Sessel im Wohnzimmer. Er schmeißt seinen Kopf auf dem roten Polster hin und her, der Rest des Körpers ist ganz still. So macht er das lange, dabei ist er unberührbar, sie kann zuschauen, stören kann sie ihn nicht. Der großegroße Bruder kommt nach Hause. Er stellt seine Schultasche behutsam zur Seite, setzt sich ans Klavier und spielt den fröhlichen Landmann. Wunderschön. Anna beginnt zu Tanzen, naja, Tanzen! Sie dreht sich, die Arme ausgestreckt. Wie ein Tanzkreisel, immer nur um die eigene Achse, schnell, aber sie brummt nicht. Sie spürt die Verwandtschaft zu Alberts Kopfwackeln. Es geht um Reinigung, Loslassen, Abschütteln. Manche Tante, die zu Besuch ist, meint die Mutter müsste mit ihm zum Arzt gehen. Pathologisch! Anna weiß, dass alles gut ist, dass er sich nur sauber macht. Anna weiß immer viel über Albert, aber es interessiert sich niemand für ihr Wissen. Sie ist und bleibt klein, die Kleinste. Sie nervt grundsätzlich, wenn sie sich zu Wort meldet, das  wissen alle. So lernt sie nichts über Sinn und Unsinn ihrer Gedanken.

Albert holt Anna unter den Forsythienbusch.  Eines ihrer besten Verstecke. Es sind eigentlich zwei Büsche. Sie stehen nah beieinander und sind in ein wunderschönes Rund gewachsen. Es gibt an den Wurzeln eine gemütliche, lichte Höhle. Dort teilt er mit ihr den Kartoffelsalat, den er beim Fischmann gekauft hat. Der Salat schmeckt herrlich nach Konservierungsstoffen. Anna versucht sich gut zu benehmen, nicht zu gierig zu sein. Sie will, dass er in der Großzügigkeit bleibt, die Stimmung soll nicht kippen. Anna ist immer auf der Hut, sie versucht frühe Anzeichen zu finden, wie sich Albert´s  Gemütszustand entwickelt. Sie versucht auch zu lernen, was ihr Anteil ist. Mit Albert Zeit zu verbringen ist wie Karussell fahren. Es kann ganz schnell gehen, alles verändert sich. Mit ihm ist es am schönsten, aber auch am gefährlichsten. Jetzt jedenfalls versucht sie ganz so zu sein, wie er sie mag, damit sie den heimlichen Kartoffelsalat mit ihm und seine großzügige Zugewandtheit in Ruhe genießen kann. Aber, sie weiß ja gar nicht, wie er sie mag. Sie weiß eigentlich auch gar nicht wie sie ist. Sie weiß genau wie Albert ist, sie weiß auch wie die Anderen sind. Aber Anna selbst? Das kann sie nicht sehen. Manchmal, selten, wird ihr was über sie gesagt, dass sie immer zankt, zum Beispiel. Das merkt sie nicht. Die großen Brüder sagen immer „erst denken, dann reden“, das schafft sie nicht. Sie will mitreden, dabei sein; sie lassen sie nicht.

Der Vater ist selten zu Hause, wenn er dann da ist neigen sich alle unter sein Joch. Sie sitzen mal wieder  beim Abendbrot. Der Vater hat sich in Rage geredet und orgelt endlos über Albert. Albert hat seinen Platz neben dem Vater, Anna sitzt einen Platz weiter. Albert ist der Puffer zwischen ihr und dem Vater. Also heute hat es Albert erwischt. Der Vater schimpft und schimpft, Albert sitzt wie eingefroren an seinem Platz, er schaut auf seinen Teller, der Kopf ist minimal eingezogen, Anna kann das an seinem Nacken erkennen. Albert ist erstarrt, körperlich, sie kennt das gut, sie erstarrt auch, wenn der Vater sie im Visier hat. Albert ist innerlich in der Erstarrung völlig aufgewühlt. Der Vater hat sich jetzt mal wieder dahin gesteigert, dass er Albert ins Internat schicken will. „Ich will ihn hier nicht mehr sehen…“ Da kommt der Vater meistens an, wenn er sich über Albert aufregt. Das ist Albert´s größte Angst: weg von zu Hause! Albert ist sehr an Haus und Garten gebunden, die Vorstellung, das zu verlieren, ist wohl die schlimmste. Anna hat so viele Ängste, aber bei Albert kennt sie nur diese eine. Sie selbst hat Angst vor Dunkelheit, leeren Räumen, Kellern, Gespenstern, der Nacht, dem Weltall, es gibt bestimmt noch viel mehr, aber das fällt ihr jetzt  nicht ein. Da sitzt er der arme Albert, mit eingezogenem Nacken, seine einzige Angst ist wach und angesprochen. Anna ist voller Mitgefühl. Sie kann nichts für ihn tun, sie versucht ihm telepathisch beizustehen. In solchen Situationen spürt sie ihre starke Verbundenheit mit Albert.