Sonntag, 16. November 2014

Albert und Anna II


Anna gruselt sich, nein sie hat panische Angst. Sie schreit um ihr Leben. Sie ist in ihrem Zimmer, im Dunkeln, hinter ihrem Fenster draußen ist etwas, das sie bedroht. Mit aller Kraft versucht sie die Tür zu öffnen, aber unmöglich, auf der anderen Seite steht Albert und hält die Tür zu. Es ist keine Frage von Kraft, das weiß sie, sie muss einfach aushalten, bis Albert nachgibt, sie freilässt.  Aber die Panik hat sie fest im Griff, da gibt es nur die Tür, die aufgehen muss, um sie aus der Bedrohung zu retten, zur Familie, ins Warme zu lassen. Bis dahin stemmt sie sich mit aller Kraft gegen die Zarge, es fällt ihr nicht ein das Licht anzumachen, sie kann auch nicht zum Fenster gehen, um zu schauen, was ihr da Angst macht, sie kann nichts machen, außer schreien. Albert hält nur die Tür zu. Es ist ihre Angst, die sie übermannt, lähmt, sie weiß gar nicht, warum sie so viel Angst hat. Aber diese Bedrohung, da draußen am Fenster stellt ihr die Nackenhaare auf, sie muss hier weg, der Moment ist schrecklich lang. Albert hört die Panik in ihrer Stimme und lässt sie frei.

Einmal waren sie in Emden zu Besuch bei Freunden. Eigentlich eine schöne Sache. Morgens wacht Anna auf, das Haus ist noch ruhig, sie weiß, dass sie noch nicht aufstehen darf, um im fremden Haus herumzugeistern. Neben ihr liegt Albert auf der Matratze, er liest. Anna möchte bespaßt werden und gängelt ihn. „Ich kann Dir aus meinem Buch vorlesen, wenn Du willst.“ Sie inspiziert den Buchdeckel. „Der Untergang des Hauses Usher“, sie weiß es, es sind gruselige Kurzgeschichten. „Lies mir eine vor, die nicht so gruselig ist, Du weißt, wie sehr ich mich ängstige!“ Er liest. So geht das, eigentlich ist es auch angenehm, so gemütlich auf der Matratze, Albert liest vor, ungefährlich. So, am lichten Morgen kann  sie die Geschichte auch gut aushalten. Aber  sie ahnt, dass sie sich nicht gut tut. Diese Geschichten sind Futter für ihre Ängste, irgendwann, wenn sie allein ist, vielleicht im Dunkeln, wird ihr das alles wieder einfallen und ihr Angst machen.

Alberts Freunde sind Zwillinge, sie wohnen direkt nebenan. Einmal ist es vorgekommen, dass deren Eltern über Nacht nicht zu Hause waren. Albert durfte dort übernachten, eine einmalige Gelegenheit. Keiner weiß wie Anna das hingekriegt hat, dass sie auch mit durfte. Jedenfalls hatten sie sie am Hacken. Albert und die Zwillinge schliefen im Ehebett, Anna sollte im Kinderzimmer, das direkt an das Elternschlafzimmer anschloss, übernachten. Nach einem Umbau war es nun so, dass das Kinderschlafzimmer kein Fenster mehr hatte. Die Zwillinge schliefen dort ja jede Nacht, aber Anna war fest der Ansicht, dass sie ersticken würde wenn die Tür zum Elternzimmer geschlossen wird. Die Jungs wollten natürlich ihre Ruhe haben, also warteten sie eine Weile, um dann die Tür zum Kinderzimmer zu schließen. Da hatten sie ihre Rechnung aber ohne Anna gemacht. Gespannt wie ein Flitzebogen lag sie hellwach in dem Bett und wartete darauf, dass die Tür leise geschlossen wurde. Dann stand sie auf, ging hin und erklärte, dass sie ersticken würde. Die Zwillinge, die meistens etwas langmütiger mit ihr waren als Albert, erklärten ihr, dass sie jede Nacht zu zweit nicht erstickten. Aber sie blieb eisenhart, das geht nicht! Sie nervte kolossal, das war ihr klar, aber sie konnte nicht anders. Die Episode hat einen unklaren Ausgang, ist sie dann doch eingeschlafen, oder haben die Jungs aufgegeben?

Sie zanken mal wieder, es ist eine rein verbale Auseinandersetzung, bisher. Aber natürlich ist Anna auch verbal unterlegen. Manchmal ist es so wie jetzt, sie knickt plötzlich ein. Sie kann nicht mehr wütend sein, sondern nur noch traurig, verletzt und ängstlich, also rennt sie davon. Albert verfolgt sie. Anna rennt zur Haustür, dem sicheren Hafen, zur Mutter. Als sie an der Tür ankommt passiert das, was sie eigentlich gar nicht will: sie fängt an zu weinen. Die Aussicht auf das wenige Mitgefühl, das sie von ihrer Mutter bekommt, lässt sie weinen. Albert gibt die Verfolgung auf, als sie die Türklinke in der Hand hat, sieht die Tränen und spuckt ihr das Wort „Petze“ hinterher. Sie will ja gar nicht petzen, das lohnt sich auch nicht. Ihre Mutter wird nur sagen: „ihr sollt nicht immer streiten!“  Und damit ist das Thema für sie erledigt.

Es ist Weihnachten. Anna ist beseelt von dem Fest und von dem Versuch Aller bei Harmonie zu bleiben. Außerdem ist sie gierig, wie jedesmal. Die Eltern, die großen Brüder, da kann man einiges erwarten. Diesmal gibt es ein großes Geschenk von Albert, Anna ist überrascht und packt es aus. Es ist ein Brettspiel, die Alpenreise, toll, sie will es am liebsten sofort spielen. Dann entdeckt sie es: er hat mit Kugelschreiber auf den Deckel geschrieben: „von Albert für Anna“ Sie ist empört, wie kann er ihr Spiel so verhunzen. Sie ist nicht empfänglich für die Zugewandtheit und Vorfreude, die er empfunden haben muss, als er das geschrieben hat. Ein Glück steht das da nach über 40 Jahren immer noch auf dem Deckel, in seiner damals schon typischen Handschrift. Seit vielen Jahrzehnten ist sie jedesmal empfänglich und freut sich, wenn sie es liest: „von Albert für Anna“


Sie sind unterwegs, wie so oft, mit den Eltern in Frankreich. Das ist kein wirklicher Urlaub. Der Vater arbeitet als Sachverständiger auf Fabrikdächern in irgendwelchen Provinzkäffern. Die Mutter hat den typischen Assistenz-Sekretärin-Ehefrauen-Job. Albert und Anna langweilen sich auf der Rückbank des Autos auf langen Landstraßen. Abends kehren sie ein, in Lastwagenfahrer Unterkünften an der route nationale. So kann der Vater seinen Spareifer ausleben, sie erleben die französische Hausmannskost, wenn Gott so in Frankreich lebt, dann ist er arm dran. Häufig geht es der Mutter nicht gut. Das ganze macht ihr wenig Freude, einmal leidet sie an Übelkeit. Es ist Hochsommer im Süden Frankreichs. Albert sitzt mit nacktem Oberkörper auf der Rückbank neben Anna, sie haben beide Fenster offen. Sie können hier nicht Zanken, wie gewohnt, der Vater ist streng, sie müssen sich ruhig verhalten. Um der Langeweile zu entrinnen denken sie sich viel Unsinn aus. Eigentlich ist Albert der Spaßvogel, der immer wieder Ideen hat. Anna genießt das. Jetzt ist Albert an seinen Titten zugange. An sich findet er das gar nicht so lustig, dass er mehr Busen hat als seine Schwester, aber zum Spaß vergleichen sie ihre Körbchengröße. Der Mutter ist schlecht, plötzlich dreht sie ihr Fenster herunter und kotzt aus dem Auto. Die Flugbahn des Erbrochenen war eigentlich vorhersehbar, aber Albert war unaufmerksam. So war er überrascht, als die Bröckchen zu seinem Fenster wieder hereinflogen und ihn besprenkelten. Der Vater hielt bei der nächsten Gelegenheit an, um sein Auto mit einem Tuch abzuwischen.  

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