Ich trenne mich! Genau das hat sie jetzt entschieden, wenn
nichts besonderes dazwischen kommt, aber die letzten fünf Jahre ist ja auch
nichts besonderes dazwischen gekommen. Jedenfalls will sie die Tür noch nicht
ganz fest zuschlagen. Obwohl er neben ihr am Steuer sitzt, behält sie ihren
Gedanken für sich. Es soll noch ein bisschen ihr ganz eigener Gedanke bleiben.
Außerdem hat sie viele schlechte Erfahrungen mit dem gesprochenen Wort gemacht.
Lieber erstmal lange, lange auf der Zunge zergehen lassen. Gestern hatten sie
gestritten, dabei sind sie doch im Urlaub, hier in Polen an der Ostsee.
Eigentlich ist alles wunderbar, das Licht, zum Beispiel: silbern und golden
zugleich. Die Sonne steht tief, die Helligkeit hat immer etwas Zwielichtiges,
das berauscht sie. Der Strand ist fast leer, die See so weit und trotzdem
streiten sie. Gibt´s das? Ja, offensichtlich liegen ihre Konflikte jetzt bloß.
Das viele Trennende ist unübersehbar. Erst sind sie lange spazieren gegangen,
der Wind rauschte laut in den Ohren, wenn sie den Kopf zu ihm drehte um etwas
zu sagen, zog der Wind lange Sabberfäden aus ihrem Mund, das war peinlich, also
schwieg sie. Er sagte sowieso nichts. Sie setzten sich in die Dünen, zum
Rauchen. Sie fing gleich an zu schreien, dass er sich auf sie zu bewegen muss,
sonst geht gar nichts mehr. Er brüllte direkt zurück: „schrei mich nicht an!!“
Sie dann nochmal, wohl etwas leiser: „ du musst dich auf mich zubewegen, sonst
geht nichts mehr.“ Das war schon alles, sie rauchten und schwiegen. Später, als
sie sich wieder aufrafften, fragte sie ihn: „ und, was war jetzt wichtig an
unserem Gespräch?“ „Dass du mich nicht anschreien sollst.“ Gut, nicht gut. Das war wohl der Auslöser für
ihre Entscheidung, eben, hier im Auto. Aber das war natürlich keine spontane
Entscheidung, hier war nur der finale cut. Schon auch den ganzen Urlaub über
hatte sie daran gedacht. Sie sind hier im Urlaub, kein Alltag, keine Zwänge,
außen rum alles gut und trotzdem redet er nicht mit ihr! Kein Wort. Sie
verbringen Stunden schweigend, nichts gegen einvernehmliches Schweigen, oder
Schweigen überhaupt. Aber er redet nicht mit ihr. Immer wieder hatte sie zu ihm
gesagt: „sprich mit mir!“
Jetzt trennt sie sich. Sie tut es schon, hier im Auto, ohne
dass er es weiß. Das fühlt sich gut an, das Leben leuchtet gleich heller. Ist
da auch Häme, Schadenfreude? Sie behält das auf jeden Fall noch ein bisschen
für sich, warum weiß sie nicht. Es hat was Genüssliches, alles hat plötzlich
eine andere Bedeutung, jede Bemerkung klingt anders. Das exklusive Wissen
bleibt erstmal ihres und was noch nicht ausgesprochen ist, ist noch nicht
definitiv. Außerdem, merkt der eigentlich irgendetwas? Die ganze Welt hier im
Auto verändert sich, hat sich verändert, sie hat sich getrennt! Sie kann warten,
bis er fragt. Er soll fragen: was ist mit uns, was ist mit dir, oder so. Egal
was, Hauptsache, er zeigt Interesse. Wenn er Interesse an ihr oder der
Beziehung zeigen würde, dann könnte sie noch mal überlegen, dann wäre es gut,
dass noch nichts ausgesprochen ist.
Es sind schon wieder Stunden vergangen. Die Wege hier in
Polen sind viel weiter, als man aus der Karte erahnen kann. Wie festgebacken
sitzen sie auf ihren Positionen: er Fahrer, sie daneben. Es gibt immer noch
kein Gespräch, weil sie keines beginnt, aber in ihrem Kopf entwickeln sich
lauter Geschichten gleichzeitig. Ihre Entscheidung hat sie befreit, sie hat
Ballast abgeworfen, ihn. Beflügelt ergeben sich bunte Zukunftsmodelle:
Norwegen, Norderney, Neustadt an der Aisch? Sie kann überall hin, alle Bilder
im Sinn sind verheißungsvoll, alles gefällt ihr und so verliert sie sich in der
Vielfalt. Wie ein riesiger roter Klotz taucht die Marienburg am Horizont auf.
Ihr Tagesziel. Die luftigen Zukunftsträume einpacken, zurück in das
Miteinander, auch wenn es nur um Alltagsentscheidungen wie Parkplatz und Essen
geht.
Die Marienburg ist ja unfassbar beeindruckend. Diese vielen,
riesigen, roten Wände drücken sie auf den Boden zurück. Das tut ihr gerade ganz
gut. Wenn sie aus den Fenstern schaut, blickt sie auf die masurische Ebene.
Diese Weite! So flach! So schön! Das tut ihr alles gut. Fast tausend Jahre alte
Mauern umringen sie, über ihr der makellose, blaue Himmel, draußen die Ebene,
der Blick verliert sich weit hinten im Dunst. Das tut ihr alles gut, das erdet
sie. Abends kommen sie an die Weichsel. Auch so schön und hier wird europäische
Geschichte so lebendig, dass Panzer und anderes Kriegsgerät vor ihrem geistigen
Auge hin und her fahren, sie hört das Kriegsgebrüll und gleichzeitig die
Stille. Dieser Fluss zieht sie völlig in den Bann. Ganz ruhig und doch ganz
kraftvoll, sie meint ein Murmeln zu hören, das uralte Geschichten erzählt.
Flüsse haben immer eine magische Wirkung auf sie, aber die Weichsel übertrifft
alle. Am nächsten Tag setzen sie über mit der Fähre. Nochmal wunderschön auf
dem Fluss zu sein, dann muss sie sich verabschieden, vom Fluss, sie fahren
weiter nach Danzig. Das Außen ist aufregend und schön, die Beziehung liegt
brach, das so gleichzeitig wahr zunehmen ist anstrengend. Auf dem Fahrrad
fahren sie gemeinsam durch Danzig. Das ist gut, so können sie die Stadt
gemütlich erobern, Wege wiederholt fahren, nochmal gucken, auch raus zu Hafen
und Werft, wo sie wieder von Geschichte beeindruckt wird. Danzig wirkt so am
Rand. Letzte Tankstelle vor Wladiwostok. Trotzdem ist es warm und ummäntelnd.
Das viele Fachwerk, aber ganz besonders: das Licht. Die Sonne steht hell und
hoch am Himmel und doch sind die Schatten unwirklich, als wäre das Licht eine
Erinnerung. Sie sitzen an der Fußgängerzone unter einer Kastanie. Wenn sie an
Stadt und Fluss vorbei zur Sonne schaut, ist es ein herrliches Erlebnis, schaut
sie in sein zugeschlossenes Gesicht gegenüber, ist es furchtbar. Ein Spagat mit
drei Beinen. Der Blick in die Welt, die sie gerade umgibt ist schön, der Blick
in das Innere ist verheißungsvoll, der Blick auf die Beziehung ist eine
abgebrannte Steppe.
Das Trennende ist immer unausweichlicher. Jeden Augenblick
bestätigt sich ihre Entscheidung. Aber die Schuld, die Verantwortung. Sie
behält es ja auch deswegen zurück. Sie hat Angst vor seiner Bestürzung. Die
großen Versprechungen, die sie sich damals gemacht haben, als sie verliebt
waren: zusammen alt werden, um die Liebe kämpfen, wenn es nötig wird. Davon
gibt es schon lange nichts mehr. Verpufft, pulverisiert oder wohl begraben
unter einer Betonschicht. Lange Zeit beschäftigte sie sich mit einem
Kinderhämmerchen an dieser Betonschicht, nun hat sie aufgegeben. Aufgeben ist
eigentlich was trauriges, aber seit der Aufgabe ist alles besser. Innen fühlt
sie sich schon frei. So frei wie noch nie in ihrem Leben.
Diese Freiheit lässt sie innerlich jauchzen. Da spürt sie
schon Übermut aufkommen vor lauter Verheißung. Dadurch wird alles in der
Heimlichkeit spürbarer. Heimlichtuerei verabscheut sie an sich, sie kann das
auch gar nicht, dafür trägt sie ihr Herz zu sehr auf der Zunge. Aber diese vier
Worte: „ich habe mich getrennt“ will sie immer noch bei sich behalten. Viele Empfindungen wirbeln in ihr
durcheinander. Da scheint Trotz zu sein: wenn du nicht fragst, bist du eben
selber Schuld! Kinderworte. Sie hört eine Achtjährige sowas sagen. Will sie ihn
bestrafen? Das hast du davon, wenn du dich nie interessierst! Auch das ist kein
erwachsenes Verhalten. Sie sind schon lange wieder auf dem Rückweg nach Hause,
als sie sich endlich eingesteht, dass es die Angst vor Schuld und Verantwortung
ist, die sie zurückhält. Sie übernimmt immer Verantwortung, gerne auch
ungefragt, mit ihm hat sie das von Anfang an gemacht. Nun trägt sie schwer
daran. Die Vorstellungen von seiner Reaktion auf die Nachricht sind furchtbar,
sofort wird ihr heiß von Schuld, aber er fragt ja nicht, also braucht sie sich
das auch nicht auszumalen. Es ist beschlossene Sache, wenn er fragt, kriegt er
es gesagt.
Der Alltag ist
komisch und ungewohnt. Sie ist getrennt und verhält sich auch so. Er ist noch
in Beziehung und verhält sich auch entsprechend. Der Unterschied fällt gar
nicht auf. Sie ist in der Warteschleife, Pläne sind schon ausgereift, sie wird
in eine neue Stadt ziehen. Noch mal ein neues Leben, das nicht neu sein wird,
so einfältig ist sie nicht. Trotzdem, neues Spiel, neues Glück. Sie kratzt mit
den Hufen, fängt an ihren Kram auszumisten, aber sagen tut sie nichts.
Einen Tag kommt er total kaputt nach Hause, sein Chef hat
ihm gekündigt, er ist wieder arbeitslos. Da stellt er die Frage. „Was ist
eigentlich mit uns?“ Sie möchte weinen. Er liegt schon am Boden und sie tritt
ihm jetzt noch ins Kreuz. „Tja, ich habe mich schon in Polen von dir
getrennt.“ Er nimmt es ganz gefasst auf.
Sie fühlt sich schon recht schuldig, aber eher, weil der Zeitpunkt so schlecht
ist. Eine saublöde Idee den Zeitpunkt ihm zu überlassen
Schön. Schön bedrückend, ungewiss. Schön frei, entspannt ... und ein Raum für Gefühle und Entscheidungen. H.
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