Montag, 6. Juli 2015

Der rote Mond Mädchenliferant

Wie so oft sitzt sie in ihrem Zimmer, tatenlos, beschäftigt mit ihrer Befindlichkeit. Die Hausaufgaben sind aufgeschlagen, sie hat sich kurz damit abgegeben, nun gibt sie sich der üblichen Verweigerung hin. Sie ist gelangweilt und überlegt zum Bäcker zu gehen, was Süßes könnte helfen. Vor ihrem inneren Auge tanzen Rumkugeln und Mandelhörnchen, in ihrem Ohr läuft die Platte vom großen Bruder: „du bist zu dick, du bist zu dick!“ Sowas nennt sich wohl Konflikt, sie kämpft ein bisschen, dann gewinnt die Gier. Zum Bäcker. Wieder in ihrem Zimmer stopft sie alles freudlos in sich rein. Sie hat verloren, Hunger hatte sie sowieso nicht. Jetzt ist sie wieder streng mit sich. Sie ist nicht liebenswert, sie bringt nichts auf die Reihe, sie sieht nicht gut aus. Das einzige, was sie wirklich kann, ist schwimmen, aber auch da ist sie nur gut, nicht spitze. Diese Muskelpakete aus der DDR sind auf 100 Metern gut 15 Sekunden schneller als sie. Bei Wettbewerben ist sie immer nur im Mittelfeld. Also Schwimmen ist keine Option für einen zukünftigen Beruf. Was könnte sie sich denn vorstellen? Der Vater sagte mal Goldschmiedin. Hmm. Komisch, ziemlich unvorstellbar, aber von ihrem Vater erwartet sie ja auch nichts Gutes. Die Mutter meint Erika heiratet mal einen netten Arzt. Oh mein Gott! Irgendwie kommt ihre Mutter auch aus einer anderen Zeit. Erika kann sich zwar keinen Beruf für sich vorstellen, aber die Idee, einfach einen Versorger zu heiraten, findet sie völlig abwegig. Abhängigkeit ist nicht vorstellbar. Hubschrauberpilotin! Ja! Das wär was! Aber wie geht das? Was muss man dafür alles können? Die wollen sie bestimmt nicht! Das ist bestimmt unerreichbar. Aber schön wär es gewesen.
Es klingelt an der Tür! Als Erika hinläuft hat Otto schon geöffnet. Es ist Fatma. Otto nimmt sie direkt in Beschlag, Fatma mag das. Die Zwei setzen sich im Wohnzimmer auf die Couch und lassen es prickeln. Erika weiß, dass sie erstmal abgesagt ist. Sie geht zurück in ihr Zimmer und überlegt, ob sie eifersüchtig sein soll. Das Problem ist ja nicht neu. Es ist auch nicht nur Fatma. Es klingelt in letzter Zeit häufiger an der Tür. Da stehen „Freundinnen“, Klassenkameradinnen, Bekannte aus Parallelklassen. Vordergründig wollen sie Erika besuchen. Aber Erika ist zu Recht misstrauisch. Die Mädels lauern auf Otto. Otto weiß das. Wenn er in Erikas Zimmer Stimmen hört, platzt er gerne mal rein und zieht seine Show ab. Er ist charmant, er sieht gut aus, Erikas Freundinnen, meistens drei Jahre jünger als er, sind genau sein Geschmack. Die kann er leicht beeindrucken, die himmeln ihn an, Erika findet das zum Kotzen. Naja, so ganz schlecht findet sie es auch nicht. Sie war ja oft dabei, wenn Otto sich mit seiner Clique trifft. Sie war gänzlich bedeutungslos und nur geduldet. Jetzt hat sie zumindest Bedeutung: sie ist „Mädchenlieferant“. Das gibt ihr Berechtigung ständig dabei zu sitzen. Aber sie ist ein Neutrum! Alle anderen Mädchen sind interessant, sie ist Ottos Schwester. Fatma ist das größte Thema. Sieht Fatma so gut aus? Das kann Erika nicht gut beurteilen. Aber sie merkt, die Jungs finden Fatma  unheimlich interessant. Fatma ist manchmal dabei, aber nicht ständig. Ihr Vater funkt immer mal wieder dazwischen, dann hat Fatma Hausarrest und kann nicht bei den abendlichen Treffen dabei sitzen. Wenn sie nicht dabei ist, wird über sie geredet. Frank, Ottos Busenfreund, hat die absurde Idee, ihr einen neuen Namen zu geben, Ökmül. Dann, so sagt er, können sie auch über sie reden, wenn sie anwesend ist. Erika findet das unglaublich. Ökmül, was für ein bekloppter Name, Erika assoziiert Müll, was will Frank damit ausdrücken? Überhaupt, wie doof über einen Anwesenden reden zu wollen, ohne dass er es merkt, spinnt doch! Aber eigentlich wünscht sich Erika, selbst diese Bedeutung zu haben. Sie möchte wichtig sein, aber sie ist immer nur dieses Schwester-Neutrum. Das Schwester-Neutrum-Dasein hat immerhin bewirkt, dass sie jetzt viele Kontakte hat. Alle möglichen Mädchen buhlen jetzt um ihre Freundschaft. Erika ist ja nicht blöd, einerseits genießt sie es jetzt so angesagt zu sein, andererseits ahnt sie, dass sie nicht gemeint ist. Sie öffnet ihr Herz nicht so schnell für die Mädchen, sie schaut erstmal, worum es geht. Sie verbringt Zeit mit ihrem Besuch in Haus und Garten und wartet auf Ottos Auftritt. Erst danach entscheidet sie, was sie weiter von dem jeweiligen Mädchen erwartet. Sie gewöhnt sich daran, dass die Mädchen ihre eigentlichen Motive verbergen, so übt Erika hinter die Kulisse zu schauen. Erika selbst ist so unglaublich gerade heraus. Das empfindet sie meistens als Nachteil. Sympathie und Antipathie kann sie überhaupt nicht verbergen. Ihre Empfindungen posaunt sie ungefiltert heraus. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge, wie man so sagt. Damit eckt sie ständig an, immer wieder wird sie zurechtgewiesen, ja, sie ist ja auch sehr wütend, sie ist oft verletzend und ihre Klassenkameraden haben schon Recht mit der Kritik.
Bei Fatma ist alles anders. Fatma ist ja auch so grade. Fatma macht das gradeheraus zum Thema: Ja, sie findet Otto interessant, mag die Spielchen mit ihm, das Prickeln und so weiter, aber sie will auch zu Erika. Das ist wichtig. Erika und Otto sind zwei verschiedene Beziehungen. So kommt Erika zu dem Schluss, dass sie nicht eifersüchtig ist. Sie liebt beide. Otto ist in letzter Zeit sehr zugewandt. Erika weiß, dass das nicht nur an der Mädchenconnection liegt. Zwischen Otto und Erika hat sich eine tiefe, tragende Beziehung entwickelt. Sie genießen es, das sie sich so gut kennen und aufeinander verlassen können. Mit Fatma ist das ganz ähnlich. Fatma meint was sie sagt, sie ist auch ganz verlässlich. Erika braucht das um zu vertrauen. Erika vermittelt dafür, ungefragt, dass sie immer für Fatma da sein wird
 So viele Jahre war Erika auf Zugehörigkeit in ihrem Klassenverbund aus. So lange hat sie gekämpft und gelitten und nun löst sich alles von alleine, eigentlich ohne ihr Zutun. Das ist komisch. Hier fühlt sich Erika als Kämpferin, sie will sich nach jeder Runde in die Ecke setzen und ihren Teilsieg begutachten. Freundschaften sind etwas woran man arbeitet: sich zeigen und gesehen werden, wieder zeigen und erkannt werden. Von dem Gegenüber etwas gezeigt bekommen, behutsam damit umgehen, Akzeptanz und Aufmerksamkeit. Das ist ihre Philosophie von Freundschaft. Nun hat sie das Gefühl in einem Stromkanal zu schwimmen. Das Wasser überholt sie, die Mädchen kommen zu ihr, alle wollen mit ihr zu tun haben, sie steht im Zentrum, wo sie immer hin wollte, aber es ist nicht ihr Verdienst, sie ist einfach nur die Schwester.

Sie antwortet darauf indem sie noch weiter ins Extrem geht. Sie fischt aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter komische alte Klamotten heraus, die sie nun austrägt. Ihren neuen Spitznamen, Schrottliese, trägt sie gerne. Auch in ihren Ansichten wird sie noch extremer. Sie äußert Sympathien für Baader-Meinhof, alles Normale findet sie Scheiße, gegen jede Position, die in ihrer Klasse eine Mehrheit findet, muss sie anreden.

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