Wie so oft sitzt sie in ihrem Zimmer, tatenlos, beschäftigt
mit ihrer Befindlichkeit. Die Hausaufgaben sind aufgeschlagen, sie hat sich
kurz damit abgegeben, nun gibt sie sich der üblichen Verweigerung hin. Sie ist
gelangweilt und überlegt zum Bäcker zu gehen, was Süßes könnte helfen. Vor
ihrem inneren Auge tanzen Rumkugeln und Mandelhörnchen, in ihrem Ohr läuft die
Platte vom großen Bruder: „du bist zu dick, du bist zu dick!“ Sowas nennt sich
wohl Konflikt, sie kämpft ein bisschen, dann gewinnt die Gier. Zum Bäcker.
Wieder in ihrem Zimmer stopft sie alles freudlos in sich rein. Sie hat verloren,
Hunger hatte sie sowieso nicht. Jetzt ist sie wieder streng mit sich. Sie ist
nicht liebenswert, sie bringt nichts auf die Reihe, sie sieht nicht gut aus.
Das einzige, was sie wirklich kann, ist schwimmen, aber auch da ist sie nur
gut, nicht spitze. Diese Muskelpakete aus der DDR sind auf 100 Metern gut 15
Sekunden schneller als sie. Bei Wettbewerben ist sie immer nur im Mittelfeld.
Also Schwimmen ist keine Option für einen zukünftigen Beruf. Was könnte sie
sich denn vorstellen? Der Vater sagte mal Goldschmiedin. Hmm. Komisch, ziemlich
unvorstellbar, aber von ihrem Vater erwartet sie ja auch nichts Gutes. Die
Mutter meint Erika heiratet mal einen netten Arzt. Oh mein Gott! Irgendwie
kommt ihre Mutter auch aus einer anderen Zeit. Erika kann sich zwar keinen
Beruf für sich vorstellen, aber die Idee, einfach einen Versorger zu heiraten,
findet sie völlig abwegig. Abhängigkeit ist nicht vorstellbar.
Hubschrauberpilotin! Ja! Das wär was! Aber wie geht das? Was muss man dafür
alles können? Die wollen sie bestimmt nicht! Das ist bestimmt unerreichbar.
Aber schön wär es gewesen.
Es klingelt an der Tür! Als Erika hinläuft hat Otto schon
geöffnet. Es ist Fatma. Otto nimmt sie direkt in Beschlag, Fatma mag das. Die
Zwei setzen sich im Wohnzimmer auf die Couch und lassen es prickeln. Erika
weiß, dass sie erstmal abgesagt ist. Sie geht zurück in ihr Zimmer und
überlegt, ob sie eifersüchtig sein soll. Das Problem ist ja nicht neu. Es ist
auch nicht nur Fatma. Es klingelt in letzter Zeit häufiger an der Tür. Da
stehen „Freundinnen“, Klassenkameradinnen, Bekannte aus Parallelklassen.
Vordergründig wollen sie Erika besuchen. Aber Erika ist zu Recht misstrauisch.
Die Mädels lauern auf Otto. Otto weiß das. Wenn er in Erikas Zimmer Stimmen
hört, platzt er gerne mal rein und zieht seine Show ab. Er ist charmant, er
sieht gut aus, Erikas Freundinnen, meistens drei Jahre jünger als er, sind
genau sein Geschmack. Die kann er leicht beeindrucken, die himmeln ihn an,
Erika findet das zum Kotzen. Naja, so ganz schlecht findet sie es auch nicht.
Sie war ja oft dabei, wenn Otto sich mit seiner Clique trifft. Sie war gänzlich
bedeutungslos und nur geduldet. Jetzt hat sie zumindest Bedeutung: sie ist „Mädchenlieferant“.
Das gibt ihr Berechtigung ständig dabei zu sitzen. Aber sie ist ein Neutrum!
Alle anderen Mädchen sind interessant, sie ist Ottos Schwester. Fatma ist das
größte Thema. Sieht Fatma so gut aus? Das kann Erika nicht gut beurteilen. Aber
sie merkt, die Jungs finden Fatma unheimlich interessant. Fatma ist manchmal
dabei, aber nicht ständig. Ihr Vater funkt immer mal wieder dazwischen, dann
hat Fatma Hausarrest und kann nicht bei den abendlichen Treffen dabei sitzen.
Wenn sie nicht dabei ist, wird über sie geredet. Frank, Ottos Busenfreund, hat
die absurde Idee, ihr einen neuen Namen zu geben, Ökmül. Dann, so sagt er,
können sie auch über sie reden, wenn sie anwesend ist. Erika findet das
unglaublich. Ökmül, was für ein bekloppter Name, Erika assoziiert Müll, was
will Frank damit ausdrücken? Überhaupt, wie doof über einen Anwesenden reden zu
wollen, ohne dass er es merkt, spinnt doch! Aber eigentlich wünscht sich Erika,
selbst diese Bedeutung zu haben. Sie möchte wichtig sein, aber sie ist immer
nur dieses Schwester-Neutrum. Das Schwester-Neutrum-Dasein hat immerhin
bewirkt, dass sie jetzt viele Kontakte hat. Alle möglichen Mädchen buhlen jetzt
um ihre Freundschaft. Erika ist ja nicht blöd, einerseits genießt sie es jetzt
so angesagt zu sein, andererseits ahnt sie, dass sie nicht gemeint ist. Sie
öffnet ihr Herz nicht so schnell für die Mädchen, sie schaut erstmal, worum es
geht. Sie verbringt Zeit mit ihrem Besuch in Haus und Garten und wartet auf
Ottos Auftritt. Erst danach entscheidet sie, was sie weiter von dem jeweiligen
Mädchen erwartet. Sie gewöhnt sich daran, dass die Mädchen ihre eigentlichen
Motive verbergen, so übt Erika hinter die Kulisse zu schauen. Erika selbst ist
so unglaublich gerade heraus. Das empfindet sie meistens als Nachteil.
Sympathie und Antipathie kann sie überhaupt nicht verbergen. Ihre Empfindungen
posaunt sie ungefiltert heraus. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge, wie man so
sagt. Damit eckt sie ständig an, immer wieder wird sie zurechtgewiesen, ja, sie
ist ja auch sehr wütend, sie ist oft verletzend und ihre Klassenkameraden haben
schon Recht mit der Kritik.
Bei Fatma ist alles anders. Fatma ist ja auch so grade.
Fatma macht das gradeheraus zum Thema: Ja, sie findet Otto interessant, mag die
Spielchen mit ihm, das Prickeln und so weiter, aber sie will auch zu Erika. Das
ist wichtig. Erika und Otto sind zwei verschiedene Beziehungen. So kommt Erika
zu dem Schluss, dass sie nicht eifersüchtig ist. Sie liebt beide. Otto ist in
letzter Zeit sehr zugewandt. Erika weiß, dass das nicht nur an der
Mädchenconnection liegt. Zwischen Otto und Erika hat sich eine tiefe, tragende
Beziehung entwickelt. Sie genießen es, das sie sich so gut kennen und
aufeinander verlassen können. Mit Fatma ist das ganz ähnlich. Fatma meint was
sie sagt, sie ist auch ganz verlässlich. Erika braucht das um zu vertrauen.
Erika vermittelt dafür, ungefragt, dass sie immer für Fatma da sein wird
So viele Jahre war
Erika auf Zugehörigkeit in ihrem Klassenverbund aus. So lange hat sie gekämpft
und gelitten und nun löst sich alles von alleine, eigentlich ohne ihr Zutun.
Das ist komisch. Hier fühlt sich Erika als Kämpferin, sie will sich nach jeder
Runde in die Ecke setzen und ihren Teilsieg begutachten. Freundschaften sind
etwas woran man arbeitet: sich zeigen und gesehen werden, wieder zeigen und
erkannt werden. Von dem Gegenüber etwas gezeigt bekommen, behutsam damit
umgehen, Akzeptanz und Aufmerksamkeit. Das ist ihre Philosophie von
Freundschaft. Nun hat sie das Gefühl in einem Stromkanal zu schwimmen. Das
Wasser überholt sie, die Mädchen kommen zu ihr, alle wollen mit ihr zu tun
haben, sie steht im Zentrum, wo sie immer hin wollte, aber es ist nicht ihr
Verdienst, sie ist einfach nur die Schwester.
Sie antwortet darauf indem sie noch weiter ins Extrem geht.
Sie fischt aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter komische alte Klamotten heraus,
die sie nun austrägt. Ihren neuen Spitznamen, Schrottliese, trägt sie gerne.
Auch in ihren Ansichten wird sie noch extremer. Sie äußert Sympathien für
Baader-Meinhof, alles Normale findet sie Scheiße, gegen jede Position, die in
ihrer Klasse eine Mehrheit findet, muss sie anreden.
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