Sie fahren nach
Südtirol! Das Hochgefühl, die Vorfreude sind unbeschreiblich. Erika ist selig.
Nur Vater, Mutter Kind sind unterwegs. Erika hat viel Platz sich auf der
Rückbank des Autos einzurichten. Es sind einige Umwege abzuarbeiten. Der Vater
hat geschäftliche Ziele und danach wollen sie für 2 oder 3 Tage nach Südtirol.
Zuerst fahren sie nach Basel. Erika verläuft die Wartezeit auf Basels Strassen.
So am lichten Vormittag im Herbst ist in Basel nicht viel los. Aber Erika geht
es gut. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in den Schaufenstern und findet zum
ersten Mal, dass sie gut aussieht. Tja, sie sieht ja auch nur sich selbst, da
stehen nicht noch Freundinnen, oder Klassenkameradinnen, die schlanker sind,
oder gefälliger. Sie braucht sich nicht zu vergleichen. Nachmittags fahren sie
weiter nach Grenoble, die nächste Etappe des Vaters. Wie immer entscheidet sich
der Vater für ein billiges Hotel in einer kleinen Vorstadt. Der Nachmittag ist
unfassbar heiß und drückend. Erika läuft wieder durch fremde Strassen, aber
hier gibt es so gar nichts zu sehen. Es wirkt fast wie eine ausgestorbene
Westernstadt. Erika schläft in einem erstaunlichen Zimmer. Es ist in einem
kleinen Turm, deswegen sechseckig. Es ist ein recht großer Raum, aber darin
stehen nur ein großes, altes französisches Bett, ein Nachtschrank und ein
Stuhl. Alles ist ziemlich ranzig. Nachts wird Erika wach, es stürmt und
gewittert. Im Zimmer knackst und rumpelt es ordentlich, die vielen Ecken sind
bedrohlich und ihre alten Kindheitsängste schwappen wieder ins Großhirn. Erika
versucht eine Weile auszuhalten, dann gibt sie auf und tapst die Treppe runter
zum Zimmer ihrer Eltern. Sie darf ins Bett, dort liegt sie, der Sturm hat sich
gelegt, die Eltern atmen ruhig und sie sieht wie der Himmel aufklart und der
Mond rund und silbern hervorkommt. Die Welt wirkt gereinigt.
Am nächsten Tag fahren sie durch die Seealpen nach Nizza.
Der Vater nutzt im Ausland ja nur im Notfall die Autobahn, die Maut ist ihm zu
teuer. Also juckeln sie die Nationalstrasse runter und Erika hat viel Zeit die
Landschaft anzuschauen. Sie lungert auf ihrer Rückbank, es ist fast wie in
einem Taxi. Sie ist weitgehend abgeschottet von ihren Eltern vorne, beschäftigt
mit ihrer Befindlichkeit und der Landschaft. Die vielen Felsformationen sind
aufregend und abwechslungsreich. Erika ist beeindruckt von der rauhen Schönheit
dieser Landschaft. Innerlich ist sie so ungewohnt friedlich mit sich. So eins,
so abgrundlos, ihre Vorfreude und Zuversicht geben ihr wohl viel Halt. Sie
genießt das Gefühl sehr, sie genießt die Landschaft, sie genießt das Wissen,
dass sie ihrem Ziel immer näher kommt.
Nizza ist ja immer schön. Erika läuft die Promenade rauf und
runter. Die kleinen Palmen auf dem Mittelstreifen, das Meer, das heute recht
aufgewühlt ist, Nizza fand sie schon immer toll. Es sind nur einige Stunden
Wartezeit zu vertrödeln, dann will der Vater noch schnell weiter. In Nizza ist
es nicht leicht eine günstige Unterkunft zu finden. Also fahren sie in der
Dunkelheit noch nach Italien hinein und halten Ausschau nach einem passenden
Hotel. Es gibt nicht viel zu sehen, der Vater ist wohl ziemlich zufrieden mit
dem Ergebnis seiner Arbeit, er ist nämlich bestens gelaunt. Erika sitzt in der
Mitte ihrer Bank, zwischen den beiden Vordersitzen nach vorne gelehnt. So sind
die Drei so nah beieinander wie nur selten. Sie unterhalten sich, der Vater
macht Scherze. Den Zauber der Situation bemerkt wohl keiner von ihnen, jeder
ist auf seine Art zugeknöpft und einzementiert. Da müsste schon jemand mit
einer Hilti kommen um etwas zu bewegen.
Nach dieser Übernachtung ist der Tag X erreicht. Heute Abend
werden sie in dem putzigen Dorf ankommen, das Ziel, nach einem halbes Jahr
Wünschen und Sehnen. Auf dem Weg kommen sie durch Seveso. Hier war vor einem
Jahr das Dioxinünglück passiert. Erika liest mit Schaudern das Ortsschild, der
Vater erinnert an die Nachrichten damals. Das alles war im Fernsehen, Seveso,
Italien, das wirkte nah und doch mittels der Mattscheibe immer weit weg. Seveso
war der erste Supergau nach dem Vietnamkrieg, den Erika wahrgenommen hat. Nun
fahren sie durch den Ort. Alles wirkt gespenstisch, sie halten die Fenster
geschlossen und atmen alle drei tief durch, als sie die Stadt hinter sich lassen.
Ob es wirklich gespenstisch war, oder das nur Erikas Einbildung war? Egal.
Hauptsache sie lassen es hinter sich. Südtirol, malerisch, hübsch, nett und
adrett liegt vor ihnen. Seveso hat Erika schnell wieder vergessen.
Da sind sie! Alles ist unfassbar, phantastisch gut. Der Ort
ist ausgebucht. Erika bekommt ein Zimmer in einem Hotel, die Eltern müssen in
ein anderes. Ist das zu fassen? Das Glück ist mal auf Erikas Seite. Sie kann
sich bewegen, ohne dass der Vater das ständig kontrollieren kann. Und das
Wetter! Sie waren noch nie zuvor im Herbst hier. Es ist so schön! Der Himmel
ist tiefblau, keine Wolke, die Kammlinie der Berge setzt sich scharf gegen den
Himmel ab. Erika findet das so herausragend, dass sie immerzu hinschauen muss.
Die Luft ist jetzt am Abend kühl und kristallin, es atmet sich so leicht. Über
Erikas Befindlichkeit braucht man sich wohl nicht auszulassen, sie ist in Hochstimmung,
versucht aber auf dem Weg zu dem Gasthof von Peters Eltern den Überschwang
einzufangen. Mit einem dusseligen Grinsen und voller Erwartung tritt sie durch
die Tür. Peter ist überrascht und die Freude ist ihm schön im Gesicht
anzusehen. Er sagt Bescheid und verlässt schnell die Theke hinter der er
arbeitet. Sie fahren zusammen zum Minigolf, dort kann man Eis essen, oder was
trinken. Sie setzen sich an den kleinen Tisch, unterhalten sich und vergessen
die Welt.
Tagsüber wandert Erika mit ihren Eltern durch die Berge, die
Zeit nach dem Abendessen gehört ihr allein. Sie ist mit Peter und seinen
Freunden im Dorf unterwegs. Sie gehört dazu, die Einheimischen fangen an sie zu
grüßen. Ein gutes Gefühl. Zugehörigkeit steht wohl auch auf ihrer Mängelliste.
Sie sitzen in Restaurants und Kneipen, trinken Bier und Rotwein, machen
Armdrücken. Erika gewinnt gegen alle Jungs. Sie ist stolz auf ihre Kraft, aber
sie merkt auch, dass das nicht sehr mädchenhaft ist. Wenn sie dann den nächsten
Gegner hat kann sie sich doch nicht zurückhalten, muss alles geben und gewinnt
wieder. Die Tage erlebt sie sehr intensiv, es ist schon sicher: das sind die
schönsten Tage ihres Lebens. Aber sie sind dann doch vorbei und sie sitzt
wieder auf der Rückbank, auf dem Weg in dieses Kaff in Niedersachsen.
Natürlich, Trauer. Unermessliche Trauer. Trauer füllt jedoch aus, es ist auch
erstmal ein abgrundloser Zustand. Ostern werden sie wohl wieder hinfahren. Aber
ein halbes Jahr ist schon lang. Sie weiß schon, sie wird wieder auf ihrem Bett
liegen und 10CC ablaufen lassen, bis die Platte aufgibt.
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