Sonntag, 28. Juni 2015

Der rote Mond Südtirol im Herbst

 Sie fahren nach Südtirol! Das Hochgefühl, die Vorfreude sind unbeschreiblich. Erika ist selig. Nur Vater, Mutter Kind sind unterwegs. Erika hat viel Platz sich auf der Rückbank des Autos einzurichten. Es sind einige Umwege abzuarbeiten. Der Vater hat geschäftliche Ziele und danach wollen sie für 2 oder 3 Tage nach Südtirol. Zuerst fahren sie nach Basel. Erika verläuft die Wartezeit auf Basels Strassen. So am lichten Vormittag im Herbst ist in Basel nicht viel los. Aber Erika geht es gut. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in den Schaufenstern und findet zum ersten Mal, dass sie gut aussieht. Tja, sie sieht ja auch nur sich selbst, da stehen nicht noch Freundinnen, oder Klassenkameradinnen, die schlanker sind, oder gefälliger. Sie braucht sich nicht zu vergleichen. Nachmittags fahren sie weiter nach Grenoble, die nächste Etappe des Vaters. Wie immer entscheidet sich der Vater für ein billiges Hotel in einer kleinen Vorstadt. Der Nachmittag ist unfassbar heiß und drückend. Erika läuft wieder durch fremde Strassen, aber hier gibt es so gar nichts zu sehen. Es wirkt fast wie eine ausgestorbene Westernstadt. Erika schläft in einem erstaunlichen Zimmer. Es ist in einem kleinen Turm, deswegen sechseckig. Es ist ein recht großer Raum, aber darin stehen nur ein großes, altes französisches Bett, ein Nachtschrank und ein Stuhl. Alles ist ziemlich ranzig. Nachts wird Erika wach, es stürmt und gewittert. Im Zimmer knackst und rumpelt es ordentlich, die vielen Ecken sind bedrohlich und ihre alten Kindheitsängste schwappen wieder ins Großhirn. Erika versucht eine Weile auszuhalten, dann gibt sie auf und tapst die Treppe runter zum Zimmer ihrer Eltern. Sie darf ins Bett, dort liegt sie, der Sturm hat sich gelegt, die Eltern atmen ruhig und sie sieht wie der Himmel aufklart und der Mond rund und silbern hervorkommt. Die Welt wirkt gereinigt.
Am nächsten Tag fahren sie durch die Seealpen nach Nizza. Der Vater nutzt im Ausland ja nur im Notfall die Autobahn, die Maut ist ihm zu teuer. Also juckeln sie die Nationalstrasse runter und Erika hat viel Zeit die Landschaft anzuschauen. Sie lungert auf ihrer Rückbank, es ist fast wie in einem Taxi. Sie ist weitgehend abgeschottet von ihren Eltern vorne, beschäftigt mit ihrer Befindlichkeit und der Landschaft. Die vielen Felsformationen sind aufregend und abwechslungsreich. Erika ist beeindruckt von der rauhen Schönheit dieser Landschaft. Innerlich ist sie so ungewohnt friedlich mit sich. So eins, so abgrundlos, ihre Vorfreude und Zuversicht geben ihr wohl viel Halt. Sie genießt das Gefühl sehr, sie genießt die Landschaft, sie genießt das Wissen, dass sie ihrem Ziel immer näher kommt.
Nizza ist ja immer schön. Erika läuft die Promenade rauf und runter. Die kleinen Palmen auf dem Mittelstreifen, das Meer, das heute recht aufgewühlt ist, Nizza fand sie schon immer toll. Es sind nur einige Stunden Wartezeit zu vertrödeln, dann will der Vater noch schnell weiter. In Nizza ist es nicht leicht eine günstige Unterkunft zu finden. Also fahren sie in der Dunkelheit noch nach Italien hinein und halten Ausschau nach einem passenden Hotel. Es gibt nicht viel zu sehen, der Vater ist wohl ziemlich zufrieden mit dem Ergebnis seiner Arbeit, er ist nämlich bestens gelaunt. Erika sitzt in der Mitte ihrer Bank, zwischen den beiden Vordersitzen nach vorne gelehnt. So sind die Drei so nah beieinander wie nur selten. Sie unterhalten sich, der Vater macht Scherze. Den Zauber der Situation bemerkt wohl keiner von ihnen, jeder ist auf seine Art zugeknöpft und einzementiert. Da müsste schon jemand mit einer Hilti kommen um etwas zu bewegen.
Nach dieser Übernachtung ist der Tag X erreicht. Heute Abend werden sie in dem putzigen Dorf ankommen, das Ziel, nach einem halbes Jahr Wünschen und Sehnen. Auf dem Weg kommen sie durch Seveso. Hier war vor einem Jahr das Dioxinünglück passiert. Erika liest mit Schaudern das Ortsschild, der Vater erinnert an die Nachrichten damals. Das alles war im Fernsehen, Seveso, Italien, das wirkte nah und doch mittels der Mattscheibe immer weit weg. Seveso war der erste Supergau nach dem Vietnamkrieg, den Erika wahrgenommen hat. Nun fahren sie durch den Ort. Alles wirkt gespenstisch, sie halten die Fenster geschlossen und atmen alle drei tief durch, als sie die Stadt hinter sich lassen. Ob es wirklich gespenstisch war, oder das nur Erikas Einbildung war? Egal. Hauptsache sie lassen es hinter sich. Südtirol, malerisch, hübsch, nett und adrett liegt vor ihnen. Seveso hat Erika schnell wieder vergessen.
Da sind sie! Alles ist unfassbar, phantastisch gut. Der Ort ist ausgebucht. Erika bekommt ein Zimmer in einem Hotel, die Eltern müssen in ein anderes. Ist das zu fassen? Das Glück ist mal auf Erikas Seite. Sie kann sich bewegen, ohne dass der Vater das ständig kontrollieren kann. Und das Wetter! Sie waren noch nie zuvor im Herbst hier. Es ist so schön! Der Himmel ist tiefblau, keine Wolke, die Kammlinie der Berge setzt sich scharf gegen den Himmel ab. Erika findet das so herausragend, dass sie immerzu hinschauen muss. Die Luft ist jetzt am Abend kühl und kristallin, es atmet sich so leicht. Über Erikas Befindlichkeit braucht man sich wohl nicht auszulassen, sie ist in Hochstimmung, versucht aber auf dem Weg zu dem Gasthof von Peters Eltern den Überschwang einzufangen. Mit einem dusseligen Grinsen und voller Erwartung tritt sie durch die Tür. Peter ist überrascht und die Freude ist ihm schön im Gesicht anzusehen. Er sagt Bescheid und verlässt schnell die Theke hinter der er arbeitet. Sie fahren zusammen zum Minigolf, dort kann man Eis essen, oder was trinken. Sie setzen sich an den kleinen Tisch, unterhalten sich und vergessen die Welt.

Tagsüber wandert Erika mit ihren Eltern durch die Berge, die Zeit nach dem Abendessen gehört ihr allein. Sie ist mit Peter und seinen Freunden im Dorf unterwegs. Sie gehört dazu, die Einheimischen fangen an sie zu grüßen. Ein gutes Gefühl. Zugehörigkeit steht wohl auch auf ihrer Mängelliste. Sie sitzen in Restaurants und Kneipen, trinken Bier und Rotwein, machen Armdrücken. Erika gewinnt gegen alle Jungs. Sie ist stolz auf ihre Kraft, aber sie merkt auch, dass das nicht sehr mädchenhaft ist. Wenn sie dann den nächsten Gegner hat kann sie sich doch nicht zurückhalten, muss alles geben und gewinnt wieder. Die Tage erlebt sie sehr intensiv, es ist schon sicher: das sind die schönsten Tage ihres Lebens. Aber sie sind dann doch vorbei und sie sitzt wieder auf der Rückbank, auf dem Weg in dieses Kaff in Niedersachsen. Natürlich, Trauer. Unermessliche Trauer. Trauer füllt jedoch aus, es ist auch erstmal ein abgrundloser Zustand. Ostern werden sie wohl wieder hinfahren. Aber ein halbes Jahr ist schon lang. Sie weiß schon, sie wird wieder auf ihrem Bett liegen und 10CC ablaufen lassen, bis die Platte aufgibt.

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