Abends um halb zehn sagt sie gute Nacht zu ihren Eltern,
manchmal schon im Schlafanzug, dann geht sie in ihr Zimmer und zieht sich
wieder an. Aus dem Fenster steigt sie auf den kleinen Sockel über dem
Garagentor. Von dort sind es wenige bequeme Schritte zu ihrem Fahrrad. Wenn sie
dann losfährt ist sie ihrer Freiheit ganz nah. Die Nachtluft ist kühl und
frisch, sie ist in Bewegung, sie macht was sie will. Das Gefühl ist wunderbar,
aber eigentlich müsste sie weiterradeln, denn wenn sie an der Kneipe ankommt, wird
alles wieder ganz eng. Dort ist oft niemand mit dem sie gut auskommt. Eine
Clique von Mopedfahrern ist fast jeden Abend da, die schneiden sie. Aber da
möchte sie dazugehören. Wahrscheinlich möchte sie dazugehören weil sie
geschnitten wird. Das treibt sie an, sie will sich wohl beweisen. Oder will sie
Anerkennung, oder geliebt werden? Sie macht sich keine Gedanken über ihre
Motive, sie macht einfach. Jetzt sitzt sie hier in der Kneipe, auf der Suche
nach Anregung, oder Ablenkung, aber hier ist nichts aufregend. Nach Hause geht
sie aber noch lange nicht. Sie trinkt Pernod-Cola, oder Bier, beides schmeckt
ihr nicht. Eigentlich ist sie ganz gefangen. Ihre Möglichkeiten sind wenige, so
vieles könnte peinlich enden. Aber sie bleibt, zu Hause wartet nur das Bett und
die Schule morgen, sie könnte was verpassen, vielleicht kommt ja noch jemand.
Am liebsten würde sie hier mit Fatma sitzen. Das wäre
lustig. Fatma hat immer lustige Einfälle, sie würden sich bestimmt köstlich
amüsieren. Außerdem hätten sie die Aufmerksamkeit der Jungs. Erika ist da
neidisch, das muss sie sich eingestehen. Fatma hat starke Wirkung auf Jungs,
ok, ja, sie ist klein und schlank, aber das ist nicht alles. Fatma hat das, was
Erika fehlt, dieses gewisse Etwas. Dabei ist sie nicht die Überschönheit. Es
ist wohl eher ihr Verhalten. Sie macht knicks-knacks bei den Jungs, oder
klingel-klingel. Erika kann das nicht sehen, aber sie weiß dass es passiert.
Fatmas Mutter ist auch so. Eva, die ist ja schon 40, oder so. Also eine alte
Frau, sie hat einen dicken Hintern, keine Schönheit. Aber trotzdem ist immer noch erkennbar, dass
sie sehr lebendig und sehr weiblich ist. Diese Eva, die geht Erika so richtig
auf den Keks. Sie unterdrückt ihre Tochter, lässt Fatma kaum Luft zum Atmen, so
sieht Erika das; und dann mischt sie sich auch noch überall ein. Ungefragt gibt
sie Erika Tipps, wie sie sich ihrem Vater gegenüber verhalten soll. „Du musst
ihm mal so richtig nett und mädchenhaft kommen, dann kannst du ihn um den
Finger wickeln!“ Sagte sie kürzlich zu Erika. Erika konnte nur schweigend den
Kopf schütteln. Die spinnt doch! Mädchenhaft! Die hat keine Ahnung! Annäherung
ist völlig unmöglich! Jeder Schritt auf ihn zu macht verletzlich! Aber, aber!
Manchmal, am Gartenzaun, oder so, treffen Eva und Erikas Vater aufeinander. Eva
spricht ihn dann freundlich an, plinkert mit den Augen und verwickelt ihn in
irgendein Gespräch. Erika hat das schon manchmal beobachtet. Ihr Vater ist dann
toll. Er wird charmant, männlich und dabei auch warmherzig. Nachdem er sich
verabschiedet hat macht er wieder zu. Dabei hat Fatmas Mutter, die Nachbarin,
gar keine Bedeutung für ihn, sie drückt einfach nur auf einen Knopf. Erika kann
diese Fähigkeit aber nicht anerkennen. Für sie ist Eva einfach eine saublöde
Kuh, die ihre Tochter tyrannisiert. Fatmas Vater, Acar, kommt bei Erika nur
wenig besser weg. Acar, was für ein schöner Name. Aber meistens wird er Atscha
ausgesprochen, naja, unwichtig. Atscha ist der Obertyrann, findet Erika. Wie er
die Gratwanderung zwischen den beiden Kulturen begeht, bleibt ihr verschlossen.
Sie hat nicht nur den rein deutschen Blick, sondern sie ist überlagert von
ihrer Freiheits Fata Morgana. Eltern sind für sie grundsätzlich Einenger. Mit
denen geht man keine Beziehung ein. Das sind die Feinde. Meistens.
Fatma zeigt manchmal
einen differenzierten Blick auf ihre Eltern. Dann ist Erika verwirrt.
Das ist unmöglich. Bei ihr gibt es nur gut=ihre eigene Mutter und böse=Vater
und viele andere Eltern. Erika findet sie hat einen tollen Weg gefunden ihren
Vater fertig zu machen, ohne dass er es weiß. Abends wenn er die Nachrichten im
Wohnzimmer guckt, schleicht sie sich in sein Bürozimmer. Sie weiß schon lange
wo sie seine Brieftasche im Schreibtisch suchen muss. Sie schlägt sie auf,
schaut wieviele Scheine darin sind und nimmt sich dann das, wovon sie meint,
dass es ihr zusteht. Manchmal nimmt sie 50 Mark manchmal nur 10, es soll ja
nicht auffallen. Früher, als sie klein war, erlebte sie, dass ihr Vater
brüllend aus dem Büro hervorkam: „mir fehlen 50 Pfennig! Wer hat mir 50 Pfennig
geklaut?“ Naja, das ist schon wieder zehn Jahre her. Ihr Vater ist alt
geworden. Eigentlich war er schon alt, als sie geboren ist. Aber jetzt ist er
richtig alt. Er hat nicht mehr den Überblick wie früher. Erika kann sich mit
dem regelmäßigen Diebstahl mehrere Wünsche erfüllen. Sie kann ihren Vater
verletzen. Sie kann sich rächen. Sie hat genug Geld. Das mit dem Geld ist ja
auch lustig. Ihre Mutter kommt öfter mal zu Erika, um sich Geld zu leihen.
Nicht für sich, es ist anders. Erikas Brüder gehen zur Mutter und fragen nach Geld,
wenn sie klamm sind. Die Mutter kommt dann zu Erika. Erika ist großzügig, sie
geht zu der kleinen Vase, in der sie das geklaute Geld aufbewahrt, zieht einige
Scheine hervor und hält sie der Mutter hin. „Reicht das?“ Fragt sie dann. Die
Mutter nimmt das Geld und trägt es zum Bruder. Die Sache ist doch irrsinnig.
Erika hat keinen Schülerjob, oder so. Dazu wäre sie viel zu faul. Sie bekommt
Taschengeld von ihrem Vater, der als Geizknochen bekannt ist. Erikas Mutter
nimmt das Geld, fragt aber nie, wo es herkommt. Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß. So sagt man.
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