Freitag, 12. Juni 2015

Der rote Mond Kaffeebohnen

Äußerlich verbesserten sich die Dinge, das war unübersehbar, aber innerlich wurde bei Erika nichts besser. Immer war sie gedanklich mit ihrer Freiheit unterwegs. Sie stellte sich vor, wenn sie groß ist, will sie fünf Kinder haben, aus fünf Kontinenten. Dass das dann auch fünf verschiedene Väter sind, fiel ihr gar nicht auf. Sie wollte berühmt werden. Irgendetwas Besonderes machen, was anderen nicht einfällt, oder was andere nicht können. Ein ganz normales Leben konnte sie nicht phantasieren. Sie konnte sich auch mit der jetzigen Normalität nicht abfinden. Immer musste etwas besonderes sein. Jeder Tag musste ein Highlight bieten, sonst war sie unzufrieden. So war sie fast immer unzufrieden. Sie bediente sich am Alkohol, der fast überall im Haus herumstand. Bei ihrer Mutter in der Küche fand sie Eierlikör. Der schmeckte schon ganz gut. Im Kühlschrank gab es Bier, im Keller Wein. Sie trank nachmittags Alkohol, ohne zu wissen warum. Mit Corinna ging sie nachmittags in eine Kneipe, in der Nähe der Schule, dort tranken sie Bier oder Apfelkorn. Erika suchte die Nähe der Jungs, die dort waren, es ging aber gar nicht um Beziehung, dafür hatte sie ja ihren Jungen in Südtirol, es ging immer nur um Anerkennung und dabei sein. Abends, wenn Erika allein in ihrem Zimmer saß, war sie mit Sehnen beschäftigt. Sie sehnte sich so sehr nach diesem Peter, den alle Susi nannten. Dann lag sie auf ihrem Bett und hörte immer das gleiche Lied auf ihrem Plattenspieler: I´m not in Love, von 10CC. Sogar ihr Englisch reichte um zu wissen, dass der Text nicht passte. Aber dieses Sehnsuchtsvolle, wie er das sang, da konnte sie mitschwelgen. Scheinbar Stunden verbrachte sie hier, mit ewiger Wiederholung des einen Liedes. Sie beamte sich weg, in die Erinnerung an die aufregenden Tage im Urlaub, oder sie phantasierte von einer beglückenden Zukunft mit ihm. Jedenfalls war sie nicht da. Zukunft oder Vergangenheit, beides war recht. Im Jetzt kam sie nur an, wenn es an der Tür klingelte und jemand zu Besuch kam, der sie aus ihren Träumereien holte. Das konnte gerne auch ein Freund von Otto sein, dann blieb sie dabei, wenn Otto das zuließ. War es Corinna, dann wollte Erika was losmachen, wieder in die Kneipe gehen, oder so, Corinna akzeptierte fast jede Idee von Erika. Wenn es Fatma war, die jetzt öfter mal vorbeikam, dann saßen sie in Erikas Zimmer, rauchten und unterhielten sich. Ja, das war eine erstaunliche  Entwicklung, Fatma schaute jetzt nachmittags öfter mal rein, vormittags war ihre Beziehung eine ganz andere. Vormittags war Fatma so etwas wie ihre Feindin. Fatma wies Erika öfter zurecht, war eine Art Sprachrohr der Mädchengruppe. Erika schlug ja gerne mal über die Stränge. Sie brauchte fast ständig Aufmerksamkeit. Dadurch war sie oft laut, oder sie äußerte extreme Ansichten, oder sie war verletzend gegenüber einzelnen Mädchen, von denen sie meinte, sie hätten keine starke Position in der Gruppe. Fatma gab Widerworte, ohne Rücksicht auf Erikas Befindlichkeit. Solche Geradlinigkeit traf Erika immer mal wieder ins Mark. Umso überraschter war Erika, wenn sie nachmittags die Tür öffnete und Fatma dort stand, ganz unbefangen. Erika war ganz sicher angenehm überrascht, aber gar nicht unbefangen. Sie konnte das nicht nachvollziehen: Fatma war morgens unfreundlich und nachmittags freundlich. Daraus ergab sich für Erika eine sehr gute Übung. Sie musste lernen aufzupassen, was sie redet. Fatmas Gradlinigkeit war Erika sehr sympathisch, machte sie aber auch sehr vorsichtig. Sie wollte nicht nachmittags in ihrem Zimmer auch noch Eins übergebraten bekommen. Sie wollte die Nachmittags-Freundschaft mit Fatma nicht riskieren. Also lernte sie das, was ihre Brüder ihr schon seit Jahren sagten: erst denken, dann reden. Fatma war spannend, unkonventionell, sie konnte von einer ganz fremden Welt erzählen. Erika war neugierig auf Fatmas Familiensituation. Außerdem verband die beiden das Herz-Schmerz-Thema.
Rauchen war beiden verboten. Erika liebte es ja, verbotene Dinge zu tun und ihrem Vater eine Nase zu drehen. Der Rauch quoll bestimmt unter ihrer Zimmertür hervor. Sie meinte ihr Vater merke nichts. Ihr Vater hatte wohl eher meistens nicht die Energie seine Verbote durchzusetzen. Fatma war mit ganz anderer Energie konfrontiert. Ihre Eltern standen beide mitten im Leben und waren mit Energie bis zur Unterlippe angefüllt. Kurz bevor Fatma wieder nach Hause gehen wollte holte sie etwas aus ihrer Hosentasche. Meistens waren es einige Kaffeebohnen. Es konnte aber auch mal ein Stengelchen Petersilie, oder eine geschälte Knoblauchzehe sein. Das steckte sie sich dann in den Mund, verließ Erika und zerkaute auf dem kurzen Heimweg die Bohnen, oder was auch immer. Zuhause, das hatte sie Erika eindrücklich beschrieben, würde sie ihrer Mutter sagen, dass sie nach Rauch riecht, weil Erika geraucht hat. Ihre Mutter, die Spionin, würde an ihrem Mund riechen, zur Kontrolle. Sie hatte also immer ein stark riechendes Lebensmittel in der Tasche, um ihre Kontroll-Mutter zu leimen. Fatma ging also zu Erika um Rauchen zu können. Außerdem wollte sie Otto abpassen, der hatte eine charmante Art Mädchen zu umgarnen, sah ganz gut aus und war eben auch drei Jahre älter. Ein echter Hecht.

Erika liebte es, wenn Fatma auftauchte. Fatma erzählte Erika sehr vertrauliche Dinge, von denen sie immer wieder betonte, dass Erika das für sich behalten soll. Sowas war ganz neu für Erika. Sie war noch nie Geheimnisträger. Sie war noch nie diskret. Wenn sie etwas erfuhr, dann üblicherweise als Letzte. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt durch Fatmas Vertrauen und wollte das keinesfalls gefährden. Ihre nachmittäglichen Treffen hatten auch so etwas geheimes, weil die anderen Mädchen davon keine Ahnung hatten. Es war irgendwie exklusiv. Fatma erzählte auch viel von Zuhause. Da war viel die Rede von Raserei und Gewalt. Fast unvorstellbar für Erika. Bei Erika waren ja alle gegen den Vater verbündet, dadurch wurde ihm viel von seiner Gefährlichkeit genommen. Bei Fatma waren die Eltern verbündet, so kam es Erika vor. Da schien fast alles gefährlich. Fatma hatte einen jüngeren Bruder, aber, so wie Erika das verstand, stand Fatma alleine ihren übermächtigen Eltern gegenüber. Ihre Findigkeit, mit der Situation umzugehen, wie zum Beispiel mit den Kaffeebohnen, beeindruckte Erika sehr und sie beschloss für sich, Fatma gegen ihre Eltern immer zu unterstützen.

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