Äußerlich verbesserten sich die Dinge, das war unübersehbar,
aber innerlich wurde bei Erika nichts besser. Immer war sie gedanklich mit
ihrer Freiheit unterwegs. Sie stellte sich vor, wenn sie groß ist, will sie
fünf Kinder haben, aus fünf Kontinenten. Dass das dann auch fünf verschiedene
Väter sind, fiel ihr gar nicht auf. Sie wollte berühmt werden. Irgendetwas
Besonderes machen, was anderen nicht einfällt, oder was andere nicht können.
Ein ganz normales Leben konnte sie nicht phantasieren. Sie konnte sich auch mit
der jetzigen Normalität nicht abfinden. Immer musste etwas besonderes sein.
Jeder Tag musste ein Highlight bieten, sonst war sie unzufrieden. So war sie
fast immer unzufrieden. Sie bediente sich am Alkohol, der fast überall im Haus
herumstand. Bei ihrer Mutter in der Küche fand sie Eierlikör. Der schmeckte schon
ganz gut. Im Kühlschrank gab es Bier, im Keller Wein. Sie trank nachmittags
Alkohol, ohne zu wissen warum. Mit Corinna ging sie nachmittags in eine Kneipe,
in der Nähe der Schule, dort tranken sie Bier oder Apfelkorn. Erika suchte die
Nähe der Jungs, die dort waren, es ging aber gar nicht um Beziehung, dafür hatte
sie ja ihren Jungen in Südtirol, es ging immer nur um Anerkennung und dabei
sein. Abends, wenn Erika allein in ihrem Zimmer saß, war sie mit Sehnen
beschäftigt. Sie sehnte sich so sehr nach diesem Peter, den alle Susi nannten.
Dann lag sie auf ihrem Bett und hörte immer das gleiche Lied auf ihrem Plattenspieler:
I´m not in Love, von 10CC. Sogar ihr Englisch reichte um zu wissen, dass der
Text nicht passte. Aber dieses Sehnsuchtsvolle, wie er das sang, da konnte sie
mitschwelgen. Scheinbar Stunden verbrachte sie hier, mit ewiger Wiederholung
des einen Liedes. Sie beamte sich weg, in die Erinnerung an die aufregenden
Tage im Urlaub, oder sie phantasierte von einer beglückenden Zukunft mit ihm.
Jedenfalls war sie nicht da. Zukunft oder Vergangenheit, beides war recht. Im
Jetzt kam sie nur an, wenn es an der Tür klingelte und jemand zu Besuch kam,
der sie aus ihren Träumereien holte. Das konnte gerne auch ein Freund von Otto
sein, dann blieb sie dabei, wenn Otto das zuließ. War es Corinna, dann wollte
Erika was losmachen, wieder in die Kneipe gehen, oder so, Corinna akzeptierte
fast jede Idee von Erika. Wenn es Fatma war, die jetzt öfter mal vorbeikam,
dann saßen sie in Erikas Zimmer, rauchten und unterhielten sich. Ja, das war
eine erstaunliche Entwicklung, Fatma
schaute jetzt nachmittags öfter mal rein, vormittags war ihre Beziehung eine
ganz andere. Vormittags war Fatma so etwas wie ihre Feindin. Fatma wies Erika
öfter zurecht, war eine Art Sprachrohr der Mädchengruppe. Erika schlug ja gerne
mal über die Stränge. Sie brauchte fast ständig Aufmerksamkeit. Dadurch war sie
oft laut, oder sie äußerte extreme Ansichten, oder sie war verletzend gegenüber
einzelnen Mädchen, von denen sie meinte, sie hätten keine starke Position in
der Gruppe. Fatma gab Widerworte, ohne Rücksicht auf Erikas Befindlichkeit. Solche
Geradlinigkeit traf Erika immer mal wieder ins Mark. Umso überraschter war
Erika, wenn sie nachmittags die Tür öffnete und Fatma dort stand, ganz
unbefangen. Erika war ganz sicher angenehm überrascht, aber gar nicht
unbefangen. Sie konnte das nicht nachvollziehen: Fatma war morgens unfreundlich
und nachmittags freundlich. Daraus ergab sich für Erika eine sehr gute Übung.
Sie musste lernen aufzupassen, was sie redet. Fatmas Gradlinigkeit war Erika
sehr sympathisch, machte sie aber auch sehr vorsichtig. Sie wollte nicht
nachmittags in ihrem Zimmer auch noch Eins übergebraten bekommen. Sie wollte
die Nachmittags-Freundschaft mit Fatma nicht riskieren. Also lernte sie das,
was ihre Brüder ihr schon seit Jahren sagten: erst denken, dann reden. Fatma
war spannend, unkonventionell, sie konnte von einer ganz fremden Welt erzählen.
Erika war neugierig auf Fatmas Familiensituation. Außerdem verband die beiden
das Herz-Schmerz-Thema.
Rauchen war beiden verboten. Erika liebte es ja, verbotene
Dinge zu tun und ihrem Vater eine Nase zu drehen. Der Rauch quoll bestimmt
unter ihrer Zimmertür hervor. Sie meinte ihr Vater merke nichts. Ihr Vater
hatte wohl eher meistens nicht die Energie seine Verbote durchzusetzen. Fatma
war mit ganz anderer Energie konfrontiert. Ihre Eltern standen beide mitten im
Leben und waren mit Energie bis zur Unterlippe angefüllt. Kurz bevor Fatma
wieder nach Hause gehen wollte holte sie etwas aus ihrer Hosentasche. Meistens
waren es einige Kaffeebohnen. Es konnte aber auch mal ein Stengelchen Petersilie,
oder eine geschälte Knoblauchzehe sein. Das steckte sie sich dann in den Mund,
verließ Erika und zerkaute auf dem kurzen Heimweg die Bohnen, oder was auch
immer. Zuhause, das hatte sie Erika eindrücklich beschrieben, würde sie ihrer
Mutter sagen, dass sie nach Rauch riecht, weil Erika geraucht hat. Ihre Mutter,
die Spionin, würde an ihrem Mund riechen, zur Kontrolle. Sie hatte also immer
ein stark riechendes Lebensmittel in der Tasche, um ihre Kontroll-Mutter zu
leimen. Fatma ging also zu Erika um Rauchen zu können. Außerdem wollte sie Otto
abpassen, der hatte eine charmante Art Mädchen zu umgarnen, sah ganz gut aus
und war eben auch drei Jahre älter. Ein echter Hecht.
Erika liebte es, wenn Fatma auftauchte. Fatma erzählte Erika
sehr vertrauliche Dinge, von denen sie immer wieder betonte, dass Erika das für
sich behalten soll. Sowas war ganz neu für Erika. Sie war noch nie
Geheimnisträger. Sie war noch nie diskret. Wenn sie etwas erfuhr, dann
üblicherweise als Letzte. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt durch Fatmas
Vertrauen und wollte das keinesfalls gefährden. Ihre nachmittäglichen Treffen
hatten auch so etwas geheimes, weil die anderen Mädchen davon keine Ahnung
hatten. Es war irgendwie exklusiv. Fatma erzählte auch viel von Zuhause. Da war
viel die Rede von Raserei und Gewalt. Fast unvorstellbar für Erika. Bei Erika
waren ja alle gegen den Vater verbündet, dadurch wurde ihm viel von seiner
Gefährlichkeit genommen. Bei Fatma waren die Eltern verbündet, so kam es Erika
vor. Da schien fast alles gefährlich. Fatma hatte einen jüngeren Bruder, aber,
so wie Erika das verstand, stand Fatma alleine ihren übermächtigen Eltern
gegenüber. Ihre Findigkeit, mit der Situation umzugehen, wie zum Beispiel mit
den Kaffeebohnen, beeindruckte Erika sehr und sie beschloss für sich, Fatma
gegen ihre Eltern immer zu unterstützen.
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