Samstag, 20. Juni 2015

Der rote Mond Schwerelos im Orbit

Schon als Kind hatte sie sich manchmal vorgestellt in den Bergen zu wohnen. Das stellte sie sich so toll vor. Dass sie dann immer rauf und runter laufen müsste hatte sie  allerdings nicht bedacht. Ihren Augen war zu langweilig. Es gab immer nur die Häuser rundherum und den Himmel. Sie kann sich erinnern, wie sie als Kind im Garten auf dem Rücken lag, in den blau-weißen Himmel starrte und sich vorstellte, dass die Wolken schneebedeckte Berge seien. Südtirol! Das war es schon damals und ist jetzt natürlich noch mehr ihr Sehnsuchtsziel, nur, dass sie sich jetzt nicht mehr im Garten still auf den Rücken legen würde. Südtirol sieht aus wie eine große Puppenstube: die schönen Häuser mit den dunklen Balkonen, überall Geranien, die Berge, alles so anheimelnd, wohlig, nett und sauber. Die Menschen sind alle freundlich und sprechen diesen niedlichen Dialekt, den sie zwar schlecht versteht, der sich aber auch so freundlich anhört. Hier ist alles so nüchtern und schnörkellos. Der Garten vor ihrem Haus ist schön, aber sie ist zu alt um auf Bäume zu klettern und sich dort ihrer Phantasie hinzugeben. Schön an dem Garten ist auch das Offene, aber eben, wenn sie im Garten ist, kann sie gesehen werden, von Nachbarn, Passanten, ihrem Vater. In dem Garten kann man arbeiten, Rasen mähen, zum Beispiel,  oder Federball spielen, aber es findet sich nicht mal ein Versteck, wo man in Ruhe eine Zigarette rauchen könnte. Es ist ja eine typische Kleinstadt, in der Erika aufwächst: die Bürgersteige sind hochgeklappt, es passiert einfach gar nichts auf der Straße, aber man spürt, dass tatenlose Hausfrauen hinter den Gardinen sitzen und auf Neuigkeiten lauern. Erika gibt schon genügend Stoff für Tratsch in der Nachbarschaft her, sie muss sich nicht in den Garten legen.
Von Corinnas Fenster aus kann man die Planung des Vaters am besten erkennen. Die große grüne Rasenfläche, daneben die Auffahrt, die mit rotem Kies ausgelegt ist, das moderne Haus ist champagnergelb gestrichen. Die Farbcombi ist toll, eigentlich Italien, oder Penne Primavera, aber Erika schenkt ihrem Vater grundsätzlich keine Anerkennung. Die Mutter hat, trotz ihrer chronischen Unlust, gegenüber der Eingangstür wunderschöne Rosen gezogen, die den ganzen Sommer über üppig blühen und wunderbar duften. Zur Tür sind es nur vier Stufen, ein Mäuerchen mit Windfang grenzt zum Kellergang ab. Der Aufgang ist gerundet. Das hat was Einladendes, noch einladender ist die Tür, die fast nie abgeschlossen ist. Jeder könnte einfach eintreten. Nachts, oder wenn niemand zu Hause ist, wird natürlich abgeschlossen, aber es ist ja meistens jemand zu Hause. Die Mutter geht ja nicht arbeiten, sie ist fast immer da, wenn sie mal einkaufen ist, schließt sie doch ab, legt den Schlüssel aber unter die Mülltonne.
Erika lebt also in einem großen, schönen Haus, mit einem üppigen Garten, es ist eigentlich immer jemand da und trotzdem fühlt sie sich verloren und einsam und sie wünscht sich ein anderes Leben. Abends, manchmal, wenn sie im Dunkeln unterwegs ist, schaut sie in die erleuchteten Fenster der Wohnzimmer. Alles erscheint ihr lebenswerter und wohliger als ihr eigenes Dasein. Sie hat sich schon immer weggewünscht, jetzt wünscht sie sich nach Südtirol. Sie verbringt viel Zeit damit. Wegwünschen und Sehnen. Sie liegt sie auf ihrem Bett, hört 10CC, oder auch mal andere Musik und sehnt sich weg, bis sie Bauchschmerzen hat. Irgendwann wird sie schon mal wieder nach Südtirol kommen, der Vater hat Lust dort Urlaub zu machen. Den Zeitpunkt entscheidet er. Das ist nicht auszuhalten, dass ihr Wohlbefinden wieder von seinen Launen abhängt. So ist es völlig unklar, wann und wie sie diesen Jungen wiedersehen wird.  Ihr Sehnen läuft ins Leere. Sie hat von ihm nichts gehört, sie selbst hat ihm ein oder zwei Briefe geschrieben. Das ist alles. Sie gibt da viel Energie hin. Der Junge ist ihre große Liebe, da ist sie festgelegt. Aber ihre Liebesenergie verpufft ziellos im Orbit, das muss sie sich leider eingestehen. Ihr Leben entwickelt sich zweigleisig: die Festlegung auf diesen Südtirol-Susi, der eigentlich Peter heißt, das „Susi“ wird ihr immer blöder, bleibt bestehen und gleichzeitig hält sie auch in ihrem Kaff die Augen offen, ob sich nicht doch beziehungstechnisch was machen lässt. Ihr starkes Bedürfnis über ihre kosmischen Gefühle zu reden, kann sie bei Corinna und besonders bei Fatma stillen. Corinna war ja dabei, sie kennt ihn, sie hat auch diesen aufregenden Urlaub erlebt. Aber Corinna kommt schnell in ihre Wirklichkeit zurück. Sie ist Realistin und arrangiert sich mit ihren Möglichkeiten. Ja, es ist bekannt, Corinna ist eine gute Zuhörerin und sie ist immer geduldig mit Erika, aber bei Fatma fühlt sich Erika mit ihren ständig gleichen Befindlichkeiten doch besser aufgehoben. Erstaunlich eigentlich: bei Fatma ist Erika ja immer noch sehr vorsichtig. Es gibt schon so ein Gefühl, ein falsches Wort, eine falsche Bewegung und Fatma zieht wie Lucky Luke schneller als ihr Schatten und Erika steht mit dem Rücken an der Wand. Fatma ist eine Indianerin mit fiesen Giftpfeilen im Köcher. Das macht Erika vorsichtig, aber sie findet Fatma unheimlich spannend. Außerdem ist Fatma empathisch und inspirierend im Gespräch. Erika spürt wie sie sich immer mehr Fatma zuwendet.  Zehn Jahre lang war Corinna ihre beste Freundin und wie es bei kleinen Mädchen üblich ist, hatten sie sich geschworen für immer beste Freundinnen zu bleiben. Die Wendung zu Fatma geht mit Schuldgefühlen gegenüber Corinna einher. Das ist zu schwer für Erika, sie spürt da einfach nicht hin und versucht sich Corinna gegenüber unverändert zu verhalten.

Erika steht also zwischen Corinna und Fatma ohne sich ihre Gefühle einzugestehen, sie hält einfach mal still. Ihre scheinbar so großen Gefühle schickt sie in den Orbit. Mit den Jungs in ihrer direkten Umgebung versucht sie in Beziehung zu kommen, aber sie gibt immer nur einen kleinen Teil von sich. Der Rest ist reserviert für den wunderbaren Peter, der 1000 Kilometer weit weg ist und so nichts falsch machen kann und sie nicht enttäuschen kann. Sie ist kaum präsent, gegenüber den Mädels erstarrt und wundert sich, dass sie sich mit dem Leben nicht in Kontakt fühlt

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