Schon als Kind hatte sie sich manchmal vorgestellt in den
Bergen zu wohnen. Das stellte sie sich so toll vor. Dass sie dann immer rauf
und runter laufen müsste hatte sie allerdings
nicht bedacht. Ihren Augen war zu langweilig. Es gab immer nur die Häuser
rundherum und den Himmel. Sie kann sich erinnern, wie sie als Kind im Garten
auf dem Rücken lag, in den blau-weißen Himmel starrte und sich vorstellte, dass
die Wolken schneebedeckte Berge seien. Südtirol! Das war es schon damals und
ist jetzt natürlich noch mehr ihr Sehnsuchtsziel, nur, dass sie sich jetzt
nicht mehr im Garten still auf den Rücken legen würde. Südtirol sieht aus wie
eine große Puppenstube: die schönen Häuser mit den dunklen Balkonen, überall
Geranien, die Berge, alles so anheimelnd, wohlig, nett und sauber. Die Menschen
sind alle freundlich und sprechen diesen niedlichen Dialekt, den sie zwar
schlecht versteht, der sich aber auch so freundlich anhört. Hier ist alles so
nüchtern und schnörkellos. Der Garten vor ihrem Haus ist schön, aber sie ist zu
alt um auf Bäume zu klettern und sich dort ihrer Phantasie hinzugeben. Schön an
dem Garten ist auch das Offene, aber eben, wenn sie im Garten ist, kann sie
gesehen werden, von Nachbarn, Passanten, ihrem Vater. In dem Garten kann man
arbeiten, Rasen mähen, zum Beispiel, oder Federball spielen, aber es findet sich
nicht mal ein Versteck, wo man in Ruhe eine Zigarette rauchen könnte. Es ist ja
eine typische Kleinstadt, in der Erika aufwächst: die Bürgersteige sind
hochgeklappt, es passiert einfach gar nichts auf der Straße, aber man spürt,
dass tatenlose Hausfrauen hinter den Gardinen sitzen und auf Neuigkeiten
lauern. Erika gibt schon genügend Stoff für Tratsch in der Nachbarschaft her, sie
muss sich nicht in den Garten legen.
Von Corinnas Fenster aus kann man die Planung des Vaters am
besten erkennen. Die große grüne Rasenfläche, daneben die Auffahrt, die mit
rotem Kies ausgelegt ist, das moderne Haus ist champagnergelb gestrichen. Die
Farbcombi ist toll, eigentlich Italien, oder Penne Primavera, aber Erika schenkt
ihrem Vater grundsätzlich keine Anerkennung. Die Mutter hat, trotz ihrer
chronischen Unlust, gegenüber der Eingangstür wunderschöne Rosen gezogen, die
den ganzen Sommer über üppig blühen und wunderbar duften. Zur Tür sind es nur
vier Stufen, ein Mäuerchen mit Windfang grenzt zum Kellergang ab. Der Aufgang
ist gerundet. Das hat was Einladendes, noch einladender ist die Tür, die fast
nie abgeschlossen ist. Jeder könnte einfach eintreten. Nachts, oder wenn
niemand zu Hause ist, wird natürlich abgeschlossen, aber es ist ja meistens
jemand zu Hause. Die Mutter geht ja nicht arbeiten, sie ist fast immer da, wenn
sie mal einkaufen ist, schließt sie doch ab, legt den Schlüssel aber unter die
Mülltonne.
Erika lebt also in einem großen, schönen Haus, mit einem
üppigen Garten, es ist eigentlich immer jemand da und trotzdem fühlt sie sich
verloren und einsam und sie wünscht sich ein anderes Leben. Abends, manchmal,
wenn sie im Dunkeln unterwegs ist, schaut sie in die erleuchteten Fenster der
Wohnzimmer. Alles erscheint ihr lebenswerter und wohliger als ihr eigenes
Dasein. Sie hat sich schon immer weggewünscht, jetzt wünscht sie sich nach
Südtirol. Sie verbringt viel Zeit damit. Wegwünschen und Sehnen. Sie liegt sie
auf ihrem Bett, hört 10CC, oder auch mal andere Musik und sehnt sich weg, bis
sie Bauchschmerzen hat. Irgendwann wird sie schon mal wieder nach Südtirol
kommen, der Vater hat Lust dort Urlaub zu machen. Den Zeitpunkt entscheidet er.
Das ist nicht auszuhalten, dass ihr Wohlbefinden wieder von seinen Launen
abhängt. So ist es völlig unklar, wann und wie sie diesen Jungen wiedersehen
wird. Ihr Sehnen läuft ins Leere. Sie
hat von ihm nichts gehört, sie selbst hat ihm ein oder zwei Briefe geschrieben.
Das ist alles. Sie gibt da viel Energie hin. Der Junge ist ihre große Liebe, da
ist sie festgelegt. Aber ihre Liebesenergie verpufft ziellos im Orbit, das muss
sie sich leider eingestehen. Ihr Leben entwickelt sich zweigleisig: die
Festlegung auf diesen Südtirol-Susi, der eigentlich Peter heißt, das „Susi“
wird ihr immer blöder, bleibt bestehen und gleichzeitig hält sie auch in ihrem
Kaff die Augen offen, ob sich nicht doch beziehungstechnisch was machen lässt.
Ihr starkes Bedürfnis über ihre kosmischen Gefühle zu reden, kann sie bei
Corinna und besonders bei Fatma stillen. Corinna war ja dabei, sie kennt ihn,
sie hat auch diesen aufregenden Urlaub erlebt. Aber Corinna kommt schnell in
ihre Wirklichkeit zurück. Sie ist Realistin und arrangiert sich mit ihren
Möglichkeiten. Ja, es ist bekannt, Corinna ist eine gute Zuhörerin und sie ist
immer geduldig mit Erika, aber bei Fatma fühlt sich Erika mit ihren ständig
gleichen Befindlichkeiten doch besser aufgehoben. Erstaunlich eigentlich: bei
Fatma ist Erika ja immer noch sehr vorsichtig. Es gibt schon so ein Gefühl, ein
falsches Wort, eine falsche Bewegung und Fatma zieht wie Lucky Luke schneller
als ihr Schatten und Erika steht mit dem Rücken an der Wand. Fatma ist eine
Indianerin mit fiesen Giftpfeilen im Köcher. Das macht Erika vorsichtig, aber
sie findet Fatma unheimlich spannend. Außerdem ist Fatma empathisch und
inspirierend im Gespräch. Erika spürt wie sie sich immer mehr Fatma
zuwendet. Zehn Jahre lang war Corinna
ihre beste Freundin und wie es bei kleinen Mädchen üblich ist, hatten sie sich
geschworen für immer beste Freundinnen zu bleiben. Die Wendung zu Fatma geht
mit Schuldgefühlen gegenüber Corinna einher. Das ist zu schwer für Erika, sie
spürt da einfach nicht hin und versucht sich Corinna gegenüber unverändert zu
verhalten.
Erika steht also zwischen Corinna und Fatma ohne sich ihre
Gefühle einzugestehen, sie hält einfach mal still. Ihre scheinbar so großen
Gefühle schickt sie in den Orbit. Mit den Jungs in ihrer direkten Umgebung
versucht sie in Beziehung zu kommen, aber sie gibt immer nur einen kleinen Teil
von sich. Der Rest ist reserviert für den wunderbaren Peter, der 1000 Kilometer
weit weg ist und so nichts falsch machen kann und sie nicht enttäuschen kann.
Sie ist kaum präsent, gegenüber den Mädels erstarrt und wundert sich, dass sie
sich mit dem Leben nicht in Kontakt fühlt
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