Freitag, 1. Mai 2015

Der rote Mond Fatma die Nase


Erster Schultag in der neuen Klasse. Neu ist für Erika immer gut. Es ist ein neuer Anfang, das sind für sie unbegrenzte Möglichkeiten. Da sind ganz viele neue Mitschüler. Erika hat Französisch gewählt und aus ihrer alten Klasse ist niemand dabei. Sie hat sich heute früh ein schönes Kleid aus dem Schrank gefischt, das sie nun austrägt. Die Freundin ihres großen Bruders hat ihr einige Kleider geschenkt, die sie nicht mehr anzieht. Für Erika ist das Kleid neu und da sie sonst meistens die alten Hosen ihrer Brüder aufträgt fühlt sie sich sehr gut gekleidet. Erika findet einen freien Platz, weit hinten, das ist gut, dann braucht sie keine Blicke im Nacken auszuhalten. In der ersten Stunde hört sie der Lehrerin nicht zu, sondern schaut sich in Ruhe die neuen Gesichter an. Am Fenster gibt es eine lange Tischreihe, da sitzen lauter Mädchen. Die gehören alle zusammen, das sieht Erika sofort. In Zentrum sitzt ein Mädchen, sehr still. Das Gesicht ist hinter vielen langen braunen Haaren versteckt, heraus schaut nur eine Nase. „Aha, eine Türkin“ denkt Erika. Was Erika für sich in dem Moment nicht realisiert, ist, das Fatma, die Türkin, genau an dem Platz sitzt, an den Erika möchte. Eingebettet, in der Mitte einer Mädchenreihe.
Erika ist beschwingt. In ihrer alten Klasse ging es ihr nicht gut. Sie hat nicht verstanden, was sie getan hat, dass sie ausgegrenzt wurde. Nun die neue Chance. Auch die vielen leeren Hefte erfreuen sie. Lauter Chancen. Wenn sie erstmal einige Seiten mit ihrer krakeligen Schrift bearbeitet hat, ist die Chance vergangen. Dann ist sie wieder eingefangen in ihrer Unzufriedenheit. Was ist das Gegenteil von emsig? Erika ist es, sie will es gut machen, theoretisch, sie will ihre Hefte mit schöner, ebenmäßiger Schrift und zufriedenstellenden Hausaufgaben bemalen, aber wenn sie dann nachmittags da sitzt und ihren eigenen Ansprüchen nachkommen sollte, dann reicht ihre Energie nicht. Dann macht sie entweder gar nichts, oder sie krakelt halt schnell mal was hin. Dafür gibt es immer einen Grund, jetzt ist es die Jahreszeit. Es ist Spätsommer, es wird Herbst, Rollschuhfahrjahreszeit. Da darf sie nicht fehlen. Sie ist die Meisterin, aber Meisterschaft macht auch einsam. Kaum hat sie die Hausaufgaben hingeschludert, greift sie sich ihre Rollschuhe, die sie mit einem Einweckgummi an ihren Füßen befestigt, weil die vordere Halterung schon lange kaputt ist. Dann rollt sie vor, zum kleinen Platz an der Sparkasse. Hier treffen sich alle Mädchen des Viertels zum Rollschuhfahren. Erika ist die Beste. Sie kann als Einzige rückwärtsfahren, sie kann sich im Kreis drehen, fährt am schnellsten und die besten Kurven. Hier stört sie ihre Einsamkeit nicht. Hier fühlt sie sich gut mit ihrem Körper, mit ihren Fähigkeiten. Auf dem Platz stehen große Kübel mit Blumen und kleinen Bäumchen, den ganzen Nachmittag dreht sie immer neue Runden um diese Hindernisse. Wenn der Himmel fahl wird und die Luft frisch, rollt sie nach Hause, beseelt und zufrieden. Ihre Hausaufgaben sind ihr dann völlig egal.
Ihren schönen Sitzplatz in der hintersten Reihe verliert Erika in kurzer Zeit. Ihre Sitznachbarin möchte, dass ein anderes Mädchen neben ihr sitzt. Erika fühlt sich so zurückgewiesen, dass sie den Platz kampflos aufgibt. Ihr neuer Platz ist jetzt genau vor dem Lehrerpult. So im Visier des Lehrers und die ganze Klasse im Rücken, das gefällt ihr überhaupt nicht, aber da war nichts anderes mehr frei. Nun sitzt sie neben so einem Brav-Mädchen. Sie ist sehr groß, hat schon Busen, sieht aber so sehr wie ein braves Mädchen aus, dass sie bei den Jungen gar kein Thema ist. Sie ist ihre neue Sitznachbarin, also tauscht Erika sich mit ihr aus, aber dabei kommt einfach gar nichts herum. Das Mädchen ist gar nicht ihr Typ. Eigentlich sitzt sie da vorne alleine. Auch in den Pausen kommt Erika nicht so in Kontakt mit ihrer neuen Klasse, wie sie sich das wünscht. Die Mädchenreihe ist in sich geschlossen, mit Jungs geht gar nichts. Erika schlendert auf dem Pausenhof herum, immer darauf bedacht, dass ihr Allein-sein nicht zu auffällig ist.

 Es ist die Zeit der Briefchen. Ständig kommen kleine Briefchen während der Unterrichtsstunde an, mit der Aufforderung zur Weiterleitung. Der Empfängername steht außen auf dem zusammengefalteten Papierchen, natürlich darf man nur weiterreichen, nicht lesen. Völlig unerwartet kommt mal ein Briefchen an, das an Erika adressiert ist. Das ist ja mal eine Freude, da will jemand was von ihr. Aufgeregt faltet sie das Zettelchen auseinander, sie soll nach der Stunde mal zu Angela kommen. Oh, Angela, da ist Erika aber gespannt, den Rest der Stunde kann sie sich kaum noch konzentrieren, sie rätselt, was Angela wohl von ihr will. Mit erwartungsfrohem Lächeln läuft sie durch die Klasse nach hinten. Es ist nur eine kleine Pause, die meisten Mitschüler sind auf ihren Plätzen geblieben. Erika fühlt sich linkisch und beobachtet. Nun steht sie bei Angela, an den Pult gebeugt fragt sie: „so, was gibt’s denn?“ Angela posaunt quer durch die Klasse: „hast du heute früh vergessen dein Nachthemd auszuziehen, oder was ist das, was du da anhast?“ Es ist eines von den Kleidern von Thomas´ Freundin. Es ist weiß, mit ganz vielen kleinen Blumen darauf, Erika mag sich in dem Kleid. Wortlos und gequält geht Erika zurück an ihren Platz. Sie kann nicht denken, die Feindseligkeit hat sie überrascht, sie schämt sich und hat das Gefühl, dass alle sie anschauen. Eigentlich mag Erika es gern, wenn sie im Mittelpunkt steht, aber natürlich nicht so. Angela wird sie in Zukunft aus dem Weg gehen und sich nicht mehr von solchen Briefchen lackmeiern lassen. Aber geht sie nicht sogar allem aus dem Weg? Den Mitschülern, dem Unterricht. Sie scheint eine bewegliche Puppe zu sein, die eigentliche Erika ist irgendwo in den Keller gesperrt, das hört sich schlimm an, ist aber nur zu ihrem Schutz.

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