Erster Schultag in der neuen Klasse. Neu ist für Erika immer
gut. Es ist ein neuer Anfang, das sind für sie unbegrenzte Möglichkeiten. Da
sind ganz viele neue Mitschüler. Erika hat Französisch gewählt und aus ihrer
alten Klasse ist niemand dabei. Sie hat sich heute früh ein schönes Kleid aus
dem Schrank gefischt, das sie nun austrägt. Die Freundin ihres großen Bruders
hat ihr einige Kleider geschenkt, die sie nicht mehr anzieht. Für Erika ist das
Kleid neu und da sie sonst meistens die alten Hosen ihrer Brüder aufträgt fühlt
sie sich sehr gut gekleidet. Erika findet einen freien Platz, weit hinten, das
ist gut, dann braucht sie keine Blicke im Nacken auszuhalten. In der ersten
Stunde hört sie der Lehrerin nicht zu, sondern schaut sich in Ruhe die neuen
Gesichter an. Am Fenster gibt es eine lange Tischreihe, da sitzen lauter
Mädchen. Die gehören alle zusammen, das sieht Erika sofort. In Zentrum sitzt
ein Mädchen, sehr still. Das Gesicht ist hinter vielen langen braunen Haaren
versteckt, heraus schaut nur eine Nase. „Aha, eine Türkin“ denkt Erika. Was
Erika für sich in dem Moment nicht realisiert, ist, das Fatma, die Türkin,
genau an dem Platz sitzt, an den Erika möchte. Eingebettet, in der Mitte einer
Mädchenreihe.
Erika ist beschwingt. In ihrer alten Klasse ging es ihr
nicht gut. Sie hat nicht verstanden, was sie getan hat, dass sie ausgegrenzt
wurde. Nun die neue Chance. Auch die vielen leeren Hefte erfreuen sie. Lauter
Chancen. Wenn sie erstmal einige Seiten mit ihrer krakeligen Schrift bearbeitet
hat, ist die Chance vergangen. Dann ist sie wieder eingefangen in ihrer
Unzufriedenheit. Was ist das Gegenteil von emsig? Erika ist es, sie will es gut
machen, theoretisch, sie will ihre Hefte mit schöner, ebenmäßiger Schrift und
zufriedenstellenden Hausaufgaben bemalen, aber wenn sie dann nachmittags da
sitzt und ihren eigenen Ansprüchen nachkommen sollte, dann reicht ihre Energie
nicht. Dann macht sie entweder gar nichts, oder sie krakelt halt schnell mal
was hin. Dafür gibt es immer einen Grund, jetzt ist es die Jahreszeit. Es ist
Spätsommer, es wird Herbst, Rollschuhfahrjahreszeit. Da darf sie nicht fehlen.
Sie ist die Meisterin, aber Meisterschaft macht auch einsam. Kaum hat sie die
Hausaufgaben hingeschludert, greift sie sich ihre Rollschuhe, die sie mit einem
Einweckgummi an ihren Füßen befestigt, weil die vordere Halterung schon lange
kaputt ist. Dann rollt sie vor, zum kleinen Platz an der Sparkasse. Hier
treffen sich alle Mädchen des Viertels zum Rollschuhfahren. Erika ist die
Beste. Sie kann als Einzige rückwärtsfahren, sie kann sich im Kreis drehen,
fährt am schnellsten und die besten Kurven. Hier stört sie ihre Einsamkeit
nicht. Hier fühlt sie sich gut mit ihrem Körper, mit ihren Fähigkeiten. Auf dem
Platz stehen große Kübel mit Blumen und kleinen Bäumchen, den ganzen Nachmittag
dreht sie immer neue Runden um diese Hindernisse. Wenn der Himmel fahl wird und
die Luft frisch, rollt sie nach Hause, beseelt und zufrieden. Ihre Hausaufgaben
sind ihr dann völlig egal.
Ihren schönen Sitzplatz in der hintersten Reihe verliert
Erika in kurzer Zeit. Ihre Sitznachbarin möchte, dass ein anderes Mädchen neben
ihr sitzt. Erika fühlt sich so zurückgewiesen, dass sie den Platz kampflos
aufgibt. Ihr neuer Platz ist jetzt genau vor dem Lehrerpult. So im Visier des
Lehrers und die ganze Klasse im Rücken, das gefällt ihr überhaupt nicht, aber
da war nichts anderes mehr frei. Nun sitzt sie neben so einem Brav-Mädchen. Sie
ist sehr groß, hat schon Busen, sieht aber so sehr wie ein braves Mädchen aus,
dass sie bei den Jungen gar kein Thema ist. Sie ist ihre neue Sitznachbarin,
also tauscht Erika sich mit ihr aus, aber dabei kommt einfach gar nichts herum.
Das Mädchen ist gar nicht ihr Typ. Eigentlich sitzt sie da vorne alleine. Auch
in den Pausen kommt Erika nicht so in Kontakt mit ihrer neuen Klasse, wie sie
sich das wünscht. Die Mädchenreihe ist in sich geschlossen, mit Jungs geht gar
nichts. Erika schlendert auf dem Pausenhof herum, immer darauf bedacht, dass ihr
Allein-sein nicht zu auffällig ist.
Es ist die Zeit der
Briefchen. Ständig kommen kleine Briefchen während der Unterrichtsstunde an,
mit der Aufforderung zur Weiterleitung. Der Empfängername steht außen auf dem
zusammengefalteten Papierchen, natürlich darf man nur weiterreichen, nicht
lesen. Völlig unerwartet kommt mal ein Briefchen an, das an Erika adressiert
ist. Das ist ja mal eine Freude, da will jemand was von ihr. Aufgeregt faltet
sie das Zettelchen auseinander, sie soll nach der Stunde mal zu Angela kommen.
Oh, Angela, da ist Erika aber gespannt, den Rest der Stunde kann sie sich kaum
noch konzentrieren, sie rätselt, was Angela wohl von ihr will. Mit erwartungsfrohem
Lächeln läuft sie durch die Klasse nach hinten. Es ist nur eine kleine Pause,
die meisten Mitschüler sind auf ihren Plätzen geblieben. Erika fühlt sich
linkisch und beobachtet. Nun steht sie bei Angela, an den Pult gebeugt fragt
sie: „so, was gibt’s denn?“ Angela posaunt quer durch die Klasse: „hast du
heute früh vergessen dein Nachthemd auszuziehen, oder was ist das, was du da
anhast?“ Es ist eines von den Kleidern von Thomas´ Freundin. Es ist weiß, mit
ganz vielen kleinen Blumen darauf, Erika mag sich in dem Kleid. Wortlos und
gequält geht Erika zurück an ihren Platz. Sie kann nicht denken, die
Feindseligkeit hat sie überrascht, sie schämt sich und hat das Gefühl, dass
alle sie anschauen. Eigentlich mag Erika es gern, wenn sie im Mittelpunkt steht,
aber natürlich nicht so. Angela wird sie in Zukunft aus dem Weg gehen und sich
nicht mehr von solchen Briefchen lackmeiern lassen. Aber geht sie nicht sogar
allem aus dem Weg? Den Mitschülern, dem Unterricht. Sie scheint eine bewegliche
Puppe zu sein, die eigentliche Erika ist irgendwo in den Keller gesperrt, das
hört sich schlimm an, ist aber nur zu ihrem Schutz.
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