Samstag, 25. April 2015

Der rote Mond Erika im Spiegel

Endlich ist mal richtig was los zu Hause. Nicht Besuch, oder so, sondern es ist Bewegung da, Veränderung hängt in der Luft. Der große Bruder Thomas hat eine tolle Freundin. Sie kommt von ganz weit weg, China oder so und spricht ihr deutsch weich. Erika findet das schön und würde den Akzent am liebsten imitieren, weil es sich so nett anhört. Erika findet die Frau sowieso ganz toll. Zeitlebens hatte sich Erika eine Schwester gewünscht, eigentlich eine Jüngere aber nun bringt der Bruder eine Frau ins Haus, die ab jetzt irgendwie dazu gehört. Die Frau ist nicht nur nett, sie ist auch zugewandt. Sie redet mit Erika, nicht viel, aber Erika merkt immerhin, dass sie wahrgenommen wird. Und boah, sieht die toll aus. So schlank! So schlank wird Erika nie sein. Der große Bruder mahnt Erika bei jedem Sonntagsessen, dass sie weniger essen soll, weil sie schlanker sein soll, schon seit Jahren. Das bewirkt leider nicht, dass Erika weniger isst, sondern nur, dass sie mit einem schlechten Gefühl viel isst. Manchmal, wenn sie allein ist, steht Erika vor dem Spiegel und beguckt ihren dicken Bauch. Das kann sie nur, wenn sie allein ist, denn der Blick in den Spiegel ist nur zum Haare bürsten erlaubt, alles weitere ist Eitelkeit. Da steht Erika aber auf dem Schlauch. Sie will sich lange und in Ruhe anschauen. Sie würde gerne sehen, was andere sehen, wenn sie sie ansehen, sie würde gerne probieren, wie sie hübscher aussehen könnte. Das macht sie also nur, wenn sie allein ist. Dann schaut sie sich ihre Figur an, dazu muss sie den Spiegel von Haken nehmen und vorsichtig auf einen Stuhl lehnen. Mit entsprechendem Abstand, kann sie sich bis zu den Knien betrachten. Das reicht, von den Knien runter sehen alle Mädchen gleich aus. Sie schaut sich an, dann ist sie unzufrieden und muss ihrem Bruder recht geben, sie sollte weniger essen. Der Spiegel kommt wieder an den Haken, nun nimmt sie sich Zeit für ihr Gesicht. Eine zugeschlossene, misstrauische Maske schaut aus dem Spiegel zurück. Die Haare sind seitlich streng mit einer Klemme festgemacht, genauso scheint ihre senkrechte Stirnfalte in dem Gesicht festgeklemmt. Was Erika da sieht ist unattraktiv und langweilig. Sie kann den Blick in den Spiegel  nicht länger ertragen.
Erika sollte sich besser nicht mit der schönen und freundlichen Frau vergleichen, die der große Bruder immer mitbringt. Wenn Erika es schafft, den Vergleich zu vermeiden, genießt sie es sehr, dass noch eine weitere Frau da ist. Alle mögen die Frau, außer dem Vater natürlich. Erika findet daran nichts besonderes, der Vater mag ja sowieso fast niemanden. Der große Bruder ist noch gar nicht so sehr alt, aber trotzdem will er die Frau heiraten. Jetzt versteht sogar Erika, dass die Meinung des Vaters  wichtig ist. Der Vater ist eigentlich nicht ausländerfeindlich, aber eben sehr misstrauisch. Die Frau kommt ja von sehr weit her, der Vater misstraut ihren Gefühlen und wittert niedere Beweggründe für ihren Heiratswillen. Er ist dagegen. Erikas Mutter ist da ganz anders. Natürlich ist sie eine Mutter, wie alle Mütter. Alle Mütter haben Angst vor Schwiegertöchtern, Sohnräuberinnen. Aber die Mutter ist klug, sie empfängt die junge Frau mit offenen Armen, so bleibt der Weg zum Sohn offen. Der Mutter ist es auch ganz egal, aus welchem Land die Schwiegertochter kommt, sie spürt die starken Gefühle des Sohnes und ist einverstanden. Dadurch gerät die Mutter in offene Konfrontation mit dem Vater. Die beiden ziehen ja eigentlich nie an einem Strang. Oft sieht die Mutter die Dinge anders als der Vater, Harmonie ist für beide ein Fremdwort, aber durch den heiratswilligen Sohn gerät die Ehe der Eltern in Gefahr.

Eines Nachmittags fährt die Mutter zum Bruder in die große Stadt, sie will mit ihm reden. Erika darf mit. Erika weiß, die Mutter hat ein wichtiges Anliegen. Erika darf mit, aber nicht stören. Erika will ja immer, überall dabei sein, also ist sie zufrieden. Die Zwei reden lange miteinander, Erika wird schnell langweilig, sie hört nur noch mit einem Ohr zu und schaut sich lieber in der fremden Wohnung um. Als die Mutter das Wort „Scheidung“ ausspricht, spitzt Erika dann doch wieder die Ohren. Es ist Erikas großer Wunsch, vom Vater getrennt zu Leben. Das stellt sie sich großartig vor: die Restfamilie würde ihre Zeit in ewiger Harmonie und Sonnenschein verbringen, wenn der Vater nicht mehr dabei wäre. Der Vater ist ja auch schon sehr alt, oft wünscht sich Erika, dass er tot sei, das wäre auch eine gute Lösung. Nun also „Scheidung“, Erika hört den Bruder antworten: „dann kommt der Vater, verspricht Erika das Blaue vom Himmel und sie zieht zu ihm, willst du das, Mutter?“ Was für ein Schwachsinn, denkt Erika, um nichts in der Welt würde ich zu dem ziehen, ich würde immer bei meiner geliebten Mutter bleiben. Aber sie kann es nicht sagen, sie wird sowieso nicht gehört und sie hatte fest versprochen nicht zu stören. Wenn der große Bruder das sagt, dass sie für ein paar kleine Versprechungen käuflich ist, dann glauben das Alle, egal was Erika dazu sagen würde. Erika ist mal wieder entsetzt und verzweifelt, wie ihre Familie über sie denkt. Sie versteht nicht, dass der Bruder sie nur vorschiebt, weil er die Verantwortung nicht tragen will. Diese lustige Familie: die Mutter will die Verantwortung auf den Sohn abschieben, der schiebt sie weiter, an die kleine Schwester. Da ist niemand mehr, an den Erika weiter schieben könnte, Erika versteht das alles zwar noch nicht, aber sie trägt. Sie weiß nicht was das ist, aber es ist schwer.

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