Erika hatte schon eine Menge Freiraum. Sie hatte nicht das
Gefühl, dass ihre Mutter ihr enge Grenzen setzte. Ihren Vater versuchte sie
sowieso zu ignorieren. Wenn er sich einmischte, was sehr selten vorkam, hebelte
Erika die Einmischung zusammen mit ihrer Mutter wieder aus. Mit der Mutter gab
es eine gute Gesprächsebene, sie einigten sich darauf, dass des Vaters
Ansichten aus einem anderen Jahrhundert stammten, und dass man sie so oder
anders umgehen kann, und dass Erika schon machen konnte, was sie wollte. Erika
und ihre Mutter hatten eine Art Geheimbund gegen den Vater geschlossen. Sie
waren Verschwörerinnen, so war von Erika Ehrlichkeit gefordert, dafür erlaubte
ihre Mutter ihr eigentlich alles. Erika dachte, das sei für sie ein guter Deal
und ihre Mutter sei sehr cool. Sie dankte es ihrer Mutter mit ewiger Liebe.
Inzwischen hatte Erika klarere Vorstellungen von
verliebt-sein-Verhalten entwickelt. Der Sommer ging dem Ende entgegen und ihr
Schwimmtrainer hatte eine Party für den Verein organisiert. Eine Party! Die
erste Party zu der sie ohne Otto gehen würde. Den ganzen Abend saß Erika bei
Heiner und unterhielt sich mit ihm. Wenn er sich mal woanders hinsetzte,
verfolgte sie ihn nach kurzer Zeit, um sich weiter mit ihm zu amüsieren. Erika
hatte großen Spaß an diesem Abend und achtete gar nicht auf die Zeit. Sie ging
erst nach Hause, als Heiner sie schon mehrfach gefragt hatte, ob sie nicht
endlich nach Hause müsste.
Als sie zu Hause zur Tür reinkommt, es ist ungefähr halb
zwei morgens, kommt ihr ihr ältester Bruder entgegen. „Wo kommst Du denn jetzt
her, bist Du völlig verrückt geworden? Mutter ist mit dem Fahrrad unterwegs und
sucht Dich!“
Erika ist verstört und geht schlafen. Aber an Schlaf ist
überhaupt nicht zu denken. Sie sitzt in ihrem Bett und beobachtet das Tor zur
Straße in Erwartung ihrer Mutter. Ja, jetzt fällt es ihr auf, sie hatte ihrer
Mutter nicht gesagt, wo die Party steigt. Ja, jetzt, wo sie sich in ihre Mutter
hineinversetzt, kann sie verstehen, dass halb zwei schon etwas spät ist. Die
Vorstellung, wie ihre Mutter durch das Nachbardorf radelt, auf der Suche nach
ihr…. wie ihre Mutter sich sorgt. Schrecklich. Erika fühlt sich so schuldig,
das Gefühl dröhnt in ihrem Bauch, sie schaut zum Tor und wünscht sich ihre
Mutter herbei. Das alles ist so unnötig. Sie ist ja zu Hause, alles ist gut,
aber die Mutter weiß das nicht…
Irgendwann sieht sie ihre Mutter um die Ecke biegen. Sie war
auf dem Fahrrad im Schlafanzug unterwegs, nur eine Jacke darüber, nackte
Unterschenkel. Was für ein Bild. Die Sorge um die Tochter, die Verzweiflung,
springen Erika an. Sie fühlt sich so schuldig. Gleich, wenn die Mutter
verzweifelt zur Tür hereinkommen wird, wird der Bruder die Situation lösen und
der Mutter sagen, dass Erika zu Hause ist. Erika kann sich jetzt hinlegen,
entspannen kann sie sich noch lange nicht. Ihrer Mutter in die Augen schauen
will sie auch frühestens morgen
Wie sie so daliegt und wartet, dass sich der Knoten in ihrem
Bauch löst, fällt ihr eine andere Geschichte ein, die noch gar nicht so lange
her ist. Sie waren in Südtirol, im Urlaub, nur Erika und ihre Eltern. Wie immer
wurde viel gewandert. Auf dem Rückweg von einer Hütte wollte Erika etwas
ausprobieren. Sie hatte gehört, dass die Einheimischen den Talweg eher springen
als gehen, das wollte sie jetzt mal versuchen. Sie verabschiedete sich von den
Eltern und sprang voraus. Dieses Springen oder Hüpfen klappte eigentlich ganz
gut und sie war bald wieder im Dorf in der Pension. Nun wartete sie auf ihre
Eltern. Irgendwann kam der Vater zur Tür rein. „Wo ist Mutter?“ Fragte Erika.
„Die irrt durch den Berg und sucht dich!“ Heiß siedete es durch Erikas Körper.
Ja , sie hatte gesagt „vielleicht warte ich ja irgendwo auf euch“, das hatte
sie dann aber schnell vergessen. Nun rannte sie den Berg wieder hinauf. Sie
weinte, rannte, rief laut nach ihrer Mutter. Die Schuld gab ihr große Energie.
Sie verließ die Serpentinenwege und kürzte gerade hoch ab. Sie rannte,
stolperte bergauf, weinte und rief. Ein einheimischer Wanderer kam ihr entgegen
und sprach sie an. Sie schilderte kurz ihr Problem. „Da ist deine Mutter nicht.
Ich komme ja gerade von oben. Da ist niemand. Deine Mutter ist bestimmt schon
im Dorf.“ Erika ließ sich überzeugen und lief zurück zur Pension. Ihre Mutter
war da. Das Schuldgefühl fiel von ihr ab. Erschöpft ließ sie sich von ihrer
Mutter den Hergang erzählen: „Wir kamen an die Wegkreuzung, Vater wollte
geradeaus die Straße laufen, dazu hatte ich keine Lust. Ich sagte, dass Du auf
dem Waldweg vielleicht irgendwo wartest und ich deswegen dort lang laufe. Ich
war schon bald hier im Dorf und entschied mich in Ruhe einen Cafe zu geniessen.“
Den Rest der Geschichte kann Erika sich leicht vorstellen.
Der Vater war enttäuscht, dass er alleine laufen musste. Er wurde immer
ärgerlicher, dass seine Frau sich abgesetzt hat. Auch er war ein Spezialist
darin, Schuldige zu suchen. Bis er wieder im Dorf war, hatte er Erika
ausgemacht und einen Satz formuliert, der eine Waffe war: „sie irrt durch den
Berg und sucht dich.“ Das war seine Rache, Rache an Erika, weil seine Frau
nicht gerne mit ihm auf Asphalt läuft.
Ja, diese Geschichte geht Erika durch den Kopf, als sie im
Bett liegt und sich ganz langsam entspannt, weil ihre Mutter wieder zurück zu
Hause ist. Das heute ist anders als damals. Erikas Gefühle sind sehr ähnlich.
Heute fühlt sie sich schuldig und das stimmt so auch. Damals fühlte sie sich
auch schuldig, aber sie wurde nur als Blitzableiter benutzt. Der Vater brauchte
das öfter mal, Wut konnte in ihm leicht überkochen
Schuld! Was für ein Stachel! In dieser Familie wurde dieser
Stachel immer wieder benutzt. Ist das in anderen Familien eigentlich auch so?
Erika ist leider nicht in der Lage das zu durchschauen. Sie hat sich ja als
kleines Mädchen immer eine kleine Schwester gewünscht. Vielleicht um auch mal
mit diesem Stachel überlegen zu spielen, um auch mal jemanden manipulieren zu
können? Wer Schuld hat, hat ja auch Macht. Aber auch dieser Gedanke ist ihr
nicht klar, als sie hier im Bett liegt und immer noch versucht sich zu
entspannen. Sie weiß nur, sie fühlt sich schuldig. Mit diesem Gefühl schläft
sie irgendwann ein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen