Os pubis ist das Schambein, dann ist die Pubertät die
Schamzeit, ja? Für Erika bestimmt. Sie muss sich ständig schämen, oder wird
beschämt. Wenn sie sich schämt, so ganz frisch, dann kann sie immer nichts mehr
sehen. Sie ist dann nicht blind, sie findet ihren Weg, aber sie sieht nur noch
rot und ihr Kopf ist hohl. Der letzte Satz schwingt wie ein Pendel in ihrem
hohlen Kopf hin und her, stößt am Knochen an, kommt zurück. So geht das, bis
sie sich irgendwo in sich verkrochen hat, dort kann sie ihre frische Wunde lecken,
kurz die anderen Narben überprüfen und dann kommt sie wieder vor. Nun könnte
man denken, dass sie sich vorsichtig verhält, weil Scham ihr so viel ausmacht.
Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Erika akzeptiert keine Grenzen,
keine Konventionen und keine Moral. Das enge Halsband der ungeschriebenen
Gesetze, dass Zwölfjährige sich gegenseitig umlegen, nimmt Erika den Atem.
Keinesfalls kann sie sich anpassen. Auch das pastorale Moralkorsett, das ihre
Mutter ihr überstülpen will, ist ihr zuwider. Sogar ihre Helden, ihre großen
Brüder, mit ihren Verhaltenskodexen, sind ihr zu kleingeistig. In sich drin
kann sie manchmal, wie einen kurzen Hauch, Freiheit spüren. Freiheit, richtige
Freiheit, ganze Freiheit. Dieser Hauch treibt sie an. Scham ist egal. Das wird
in Kauf genommen. Sie macht einfach was sie will. Das hört sich jetzt
vielleicht gut an, ist es aber nicht, denn sie ist einsam und unzufrieden. Ihr
Ziel ist eine Fata Morgana, ein Luftflimmern, meistens nicht sichtbar, es gibt
ihr keinen Halt. Sie fühlt sich wie eine Getriebene, unwissend, was sie treibt
und sie steht fast immer allein.
Wieder fuhren sie ins Landschulheim. Es war das gleiche wie
vor zwei Jahren, als gäbe es nur ein Landschulheim in der Welt. Der Harz im
Herbst war so trostlos wie Erikas Situation in der Klasse. Es gab nur zwei
Räume für Mädchen. Der eine war schon besetzt als Erika hineinging. Die Mädchen
von der Fensterreihe hatten sich rechtzeitig abgesprochen und schon alle Betten
besetzt. Erika musste in den anderen Raum. Dort sammelten sich also die Übriggebliebenen.
Die ganz braven, die prolligen und Erika. Sie fühlte sich so wenig zugehörig
wie noch nie in ihrem Leben. Aber da war natürlich kein Platz für Heimweh, oder
irgendwelche Gefühlsäußerungen. Die Proll-Mädels organisierten Flaschendrehen
und hatten Jungs ins Zimmer eingeladen. Erika war froh mal dabei zu sein, sie
war auch neugierig, sie hatte noch nie einen Jungen geküsst. Die Flasche drehte
sich und genauso drehten sich die Ängste in Erikas Bauch. Wird die Flasche auf
sie zeigen? Wird sie Widerwillen von dem Jungen spüren, wenn er sie küssen
soll, wie wird ihr das schmecken? Allmählich überwogen die Ängste die
Neugierde. Außerdem merkte Erika, dass sie sich gegenüber den Proll-Mädels
abgrenzen muss. Da wollte sie keinesfalls in Kontakt. Fatma hatte solche
Bedenken übrigens gar nicht, sie hat Erika später mal erzählt, dass sie mit
Helke, der Proll-Zentrale, zusammen ihren
BH mit Taschentüchern vollgestopft hat, um dann solange an einer Baustelle auf
und ab zu flanieren, bis die Bauarbeiter ihnen hinterher gepfiffen haben. Fatma
hatte also keine solchen Berührungsängste, außerdem konnte sie sich auf dem
Niveau amüsieren. Bei aller demonstrativen Nonkonformität hätte Erika das
niemals gemacht und auch bestimmt keinen Spaß daran gehabt. Erikas Muttermilch
war mit No-goes getränkt, solche Amüsements gehörten ganz sicher dazu.
Erika hatte Ziele, ganz klar wollte sie bei dieser
Fenster-Mädchengruppe dazu gehören. Sie wollte eigentlich gut in der Schule
sein. Aber sie ließ sich wie ziellos treiben. Sie hatte nicht das Gefühl Herr
ihres Schicksals zu sein. Oder sie konnte den Zusammenhang zwischen Tat und
Ergebnis nicht sehen. Wahrscheinlich meinte sie, dass sie sowieso immer das
Falsche tut. Das Leben hatte aber sogar für Erika ab und an mal eine
Überraschung parat:
Fatma zog in das Nachbarhaus.
Fatma, die Nase. Erika interessiert sich für das Mädchen.
Warum, weiß sie nicht. Erika muss immer
mal mitfühlen mit Fatma. Fatma, an sich ein recht einfacher Name. Aber die
Lehrer tun sich doch schwer. Sie schaffen es beständig diesen Namen falsch
auszusprechen. Den Vogel abgeschossen hat der Chemie Lehrer. Er spricht den Namen
englisch aus. Fettme macht er daraus. Das tut Erika regelmäßig weh. Jedesmal,
wenn Fatmas Name falsch ausgesprochen wird, spürt Erika das körperlich, späht
hinüber zu ihr und sieht Fatma scheinbar so unbeteiligt. Nun wohnt Fatma also
neben ihr. Wenn Erika in ihrem Zimmer mit offenem Fenster sitzt, kann sie hören
was bei Fatma so los ist. Die ganze Familie ist, gelinde gesagt, temperamentvoll.
Sie streiten oft und das nicht geflüstert. Inhaltlich weiß Erika gar nichts, es
wird meistens auf türkisch gestritten, aber trotzdem entwickelt sich ein Bild,
wie es bei den Leuten so zugeht. So wird Erika Mitwisser, morgens ist sie
Mitfühler, es entwickelt sich eine ganz eigene Nähe zu Fatma.
Diese Nähe ist aber unbeantwortet. Eben eigene Nähe. Erika
hat keine Ahnung was Fatma spürt, oder ob diese Nachbarschaft für sie Bedeutung
hat. Morgens haben sie jedenfalls gar nichts miteinander zu tun, abgesehen von
Erikas Mitgefühl, für das sich Fatma offensichtlich nicht interessiert.
Nachmittags ist es still bei den Nachbarn, abends beginnt ein unfassbares
Geschrei. Wenn Erikas Vater so oft rumschreien würde, dann würde Erika ständig
mit wackeligen Knien herumlaufen. In ihrem Kopf entstehen ganz viele Bilder
über die Verhältnisse bei den Nachbarn, sie wird neugierig, wie es dort wohl
wirklich zugeht. Erika hört ja nicht nur Fatmas Vater, auch die Mutter schreit
schrill herum. Erikas Mutter ist still, verletzt und beleidigt, wenn der Vater
wütet. Nach anfänglichem Entsetzen überwiegt bei Erikas Mitwisserschaft immer
mehr die Neugierde. Diese Leute verhalten sich so anders als Erika es kennt. Sie muss ihre Bilder im Kopf
ständig berichtigen. Anfänglich ist sie bei Chaos und häuslicher Gewalt, sie
wechselt zu ernsthaften, wichtigen Auseinandersetzungen, die hitzig ausgetragen
werden, schließlich entscheidet sie sich für Lust am rumschreien, Luft ablassen,
Druckausgleich. Sie wird noch eine ganze Weile mit ihrer Phantasie alleine
bleiben, bis sie die Verhältnisse bei Fatma kennenlernt.
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