Samstag, 16. Mai 2015

Der rote Mond Trampolin

Erikas Leben bestand aus Einsamkeit und Langeweile, so war ihr subjektives Empfinden. Wenn man jetzt mal genau hinschaut, dann wurde sie eigentlich doch ganz nett bespaßt. Zweimal die Woche ging sie zum Schwimmtraining, das machte sie schon seit Jahren, mit den Leuten dort war sie vertraut, aber nicht eng. Dann gab es ja ihre Freundin Corinna, von gegenüber, diese Freundschaft nahm langsam wieder Fahrt auf, Corinnas Mutter hatte ihren Widerstand vielleicht aufgegeben, keiner weiß warum, jedenfalls wurde der Kontakt wieder zugelassen. Dann gab es noch Otto und seine Clique. Otto wollte normalerweise nicht, dass Erika dabei war, wenn er sich mit seinen Freunden traf, aber irgendwie schaffte Erika es immer wieder dabei zu sein. So gesehen kann man also sicher nicht sagen, dass das arme Kind zuviel allein war.
 Seit ihrer frühesten Kindheit lief Erika Otto und seinen Freunden hinterher. Sie wollte immer dabei sein, immer mitspielen. Natürlich wollte der Bruder sich seiner kleinen Schwester oftmals entledigen.  Die ewigen Freunde von Otto waren schon freundlicher zu Erika als Otto, beteiligten sich aber oft auch an Ottos sadistischen Spielchen mit Erika, die ja verständlich waren, da Erikas ständige Anwesenheit ihm mächtig auf die Nerven ging. So lernte Erika früh auf sich aufzupassen, rechtzeitig abzuhauen, aber auch, dass sie dabei sein kann um ignoriert zu werden. Sie war wohl daran gewöhnt, geduldet zu werden, aber nicht gemocht, nicht gesehen und nicht gewertschätzt.
Wenn Erika nachmittags tatenlos vor ihren Hausaufgaben saß, fühlte sie sich aber einsam. Sie spürte nach innen und stolperte in einen tiefen Abgrund. Dort fand sie keinen Halt und keinen Boden. Sie musste raus aus ihrem Zimmer, raus aus dem Gedankenkarussell um wieder auf die Spur zu kommen. Aber oft war sie schon so gefangen in ihrem traurigen Abgrund, dass ihr nichts mehr einfiel. Die Rettung war, wenn sie Corinna den Weg zum Haus kommen sah. Corinna, ihre Busenfreundin, da hatte sie  viel vertrauen.
Die Situation in der Schule veränderte sich schleichend. Erika hat sich wohl mit ihrer Isolation abgefunden, als sie den Hinweis bekam, dass alle Mädchen zum Trampolin springen gehen. So ein Hinweis war für Erika schon eine Einladung. So stand sie mit den Mädchen in einer fremden Turnhalle um ein Trampolin herum. Das Springen machte ihr großen Spaß, noch viel besser war natürlich mit den Mädchen aus ihrer Klasse einen gemeinsamen Termin zu haben. Der Trampolin-Termin überschnitt sich mit ihrem Schwimmtraining. Also machte sie schnell Nägel mit Köpfen und ging nicht mehr zum Schwimmen. Es dauerte nur wenige Wochen, bis alle Mädchen wegblieben, bis auf Jutta. Jutta war ein ganz stilles Strebermädchen. Das Trampolinspringen machte Erika schon Spaß, aber nach kurzer Zeit merkte sie, wie sehr ihr das Schwimmen fehlte. Dieses Einschlagen auf das Wasser, dieses Auspowern, das brauchte sie. Zurück ins Training, der Weg war ihr unangenehm. Viel einfacher war es zum Verein im Nachbardorf zu wechseln. Dort wurde sie mit offenen Armen empfangen, weil sie ja auch ganz gut schwimmen konnte. Die hatten dort die gleichen Trainingszeiten wie ihr alter Verein. Also entschied sie sich nach kurzer Überlegung das mit dem Trampolin doch sein zu lassen. Das war ein bisschen Schade, aber nicht schlimm. Das ganze hin und her hätte sie sich sparen können. Aber doch, alles war gut, die neuen Leute waren offen für sie und da gab einige ältere Jungs. Das neue Bad war auch nicht schlecht. Es war ein Freibad, ziemlich neu gebaut, mit Sprungturm und extra Becken. Das war schon alles ganz schick.
Es ist ein schöner Tag im Sommer, Erika übt sich am Sprungturm. Sie hat sich selbst einiges erarbeitet. Salto, eineinhalbfacher Salto. Das macht ihr Spaß, sie hat dabei ein super Körpergefühl. Die großen Jungs sind auch da, Erika ist mit denen in ganz selbstverständlichem Kontakt. Da ist nichts schwieriges, das sind einfach nette Jungs. Mit dem Einen ist es besonders nett. Den ganzen Nachmittag. Sie haben sich geneckt, gejagt, gespielt. Die Sonne scheint, das Bad ist toll, ein schöner Tag.  Silke, eine ihrer Vereinskolleginnen steht bei Erika, sie schauen zu den Jungs rüber, sie fragt: „bist Du in den Heiner verliebt?“
Die goldene Spätnachmittagssonne liegt über dem Bad. Erika weiß keine Antwort. Die Frage prickelt ihr durch den Körper, der Blick auf Heiner und den ganzen Nachmittag verändert sich in dem Moment. Bilder aus dem Fernsehen gehen ihr durch den Kopf. Die Frage verändert hier und jetzt ihr Leben. Da drüben steht Heiner, golden von der Sonne bestrahlt schaut er erwartungsvoll zu Erika, lächelt verschmitzt, was würde sie als nächstes tun. Er reagiert noch auf die Erika von eben. Aber Erikas Leben hat sich eben verändert. Sie ist jetzt in Liebesdingen unterwegs. Nun nähert sie sich Heiner als Frau, nicht mehr als Kind. Nähert sie sich noch? Der neue Zustand legt sich wie eine Fesselung um sie. Sie ist nicht mehr frei und fröhlich, sondern sie muss sich in einen Verhaltenskodex  fügen, den sie nicht kennt. Trotzdem fühlt sie sich beschwingt und beflügelt, sie phantasiert von einem neuen Lebensabschnitt. Der vermeintlich neuen Situation mit Heiner fühlt sie sich aber gerade gar nicht mehr gewachsen. Also geht sie nach Hause.
Auf dem Weg nach Hause braucht sie sich nicht mehr verhalten, sie kann sich Vorstellungen hingeben. Das ist schön, spannend und aufregend. Also, es ist entschieden, sie ist verliebt und Heiner sollte doch auch in sie verliebt sein, oder? Ja, doch, unbedingt. Der Gedanke besetzt sie immer mehr, steht in ihrem Kopf ganz im Vordergrund. Sie platzt fast vor Neuigkeiten. Im Wohnzimmer trifft sie ihre Mutter. „Mutter, ich glaube, ich bin verliebt…!“

„Ach, meine Kleines, ich freue mich!“ Antwortet die Mutter und nimmt Erika fröhlich in den Arm. Erika beschließt ihrer Mutter nie wieder etwas Intimes mitzuteilen. Die Worte, die Umarmung, das scheint zu passen, aber Erika spürt etwas ganz Unpassendes. Es ist nicht fassbar, Erika ist ganz unangenehm berührt von der Situation, deswegen auch ein bisschen verwirrt. Das scheinbar so passende Verhalten ihrer Mutter, dazu dieses befremdende Gefühl. Nie wieder!

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