Sie sitzt in ihrem Zimmer und übt den täglichen Kopfsprung
in den Abgrund. Es ist die immer gleiche Übung: Sie sitzt in ihrem Zimmer,
eigentlich sollte sie Hausaufgaben machen, aber das gelingt ihr nicht. Anstatt
dessen denkt sie über ihre Situation nach. Nein, es ist nicht ihre Situation,
damit fängt sie nur an und das ist schon schlimm, aber dann denkt sie über sich
selbst nach und da tut sich der Abgrund auf. Sie stürzt ins Bodenlose. Sie
findet keinen Halt in sich, findet aber auch keinen Boden.
So sitzt sie da, schaut aus den großen Fenstern, über den
Garten zur Straße. Der Vater hatte das Haus an eine damals sehr untypische
Stelle gesetzt. Es steht nicht vorn, an der Straße, sondern am hinteren Ende
des Grundstücks. So muss jeder, der zu Besuch kommt, erstmal den langen Weg
laufen, bevor er an der Tür klingeln kann. Da ist für Erika und andere, die im
Haus aus dem Fenster schauen, viel Zeit den Besucher zu betrachten. Zum
Beispiel ihre Freundin Corinna, wenn die von gegenüber kommt, hat sie meistens
den Blick auf den Boden gesenkt. Sie weiß, dass sie beobachtet wird und wundert
sich schon lange nicht mehr, dass Erika ihr öffnet, bevor sie klingelt. Der
Garten vor dem Haus hat etwas protziges, ist aber auch wunderschön. Wie ein
Park, mit den großen Bäumen, Erika bewundert den Garten jedesmal, wenn sie bei
Corinna zu Besuch ist. Corinna wohnt genau gegenüber, sie hat ihr Zimmer im zweiten
Obergeschoss, von dort hat man einen wunderbaren Blick auf Haus und Garten. Oft
steht Erika dort am Fenster und schaut auf ihr zu Hause. Mit Abscheu und
Bewunderung. Von hier oben hat sie mal ein bisschen Distanz. Erika quatscht
Corinna mit ihren Problemen voll.
Corinna ist ein freundlicher Mensch, sie lässt das zu, es interessiert sie ja
auch. Die zwei sind beste Freundinnen. Endlich wieder sind sie beste
Freundinnen. Das waren sie schon in der Grundschule, das war lustig, damals,
sie hatten immer die gleichen Noten. Auch im Zeugnis, absolut identische Noten,
aber Erika sollte weiter auf das Gymnasium, Corinna auf die Realschule. Die
Beiden wollten nicht getrennt werden. Mit den Zeugnissen in der Hand, aber nur
wenig Hoffnung, sind sie vorgegangen,
zur Lehrerin, um zu fragen, wie das geht: identische Zeugnisse, verschiedene
Schulzuweisungen. Die Lehrerin war ungehalten, natürlich hatte sie keine
Erklärung für die Mädchen, „das ist eben
so“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Erika und Corinna waren traurig
über die Trennung, aber sie wohnten ja so nah beieinander, dass sie zuversichtlich
waren, ihre Freundschaft würde eben nachmittags weiter gehen. Corinna wohnte im
zweiten Stock. Die Wohnung der Familie war im ersten Stock, aber sie war klein,
also wurde für Corinna im Dachgeschoss ein Zimmer hergerichtet. Erika hätte
sich an der Wohnung vorbeischleichen können und einfach im Treppenhaus weiter
nach oben zu Corinna gehen können. Aber das war verboten. Corinnas Mutter hatte
Ohren wie ein Luchs und die Treppe knarzte. Es war besser das nicht zu
probieren. Corinnas Mutter hatte sowieso was gegen Erika. Corinnas Mutter
entschied über gut und böse. An ihr hing Erikas Wohl. Scheinbar nach Lust und
Laune entschied sie Corinna hat Zeit- hat keine Zeit. Also schwitzte Erika
jedesmal, wenn sie da stand, vor der Tür. Sie wurde oft abgewiesen, oder es
wurde gar nicht geöffnet. Das war schlimm. Erika wusste, dass Corinna da war,
aber ihre Mutter wollte nicht, dass die Zwei miteinander spielten. Oftmals
unterhielten sie sich nur, oder Corinna wollte Stadt-Land-Fluss spielen. Da
verlor Erika immer. Manchmal schauten sie
sich die Bravo an, die Corinna kaufte.
Oder Erika stand am Fenster, mit dem Blick auf zu Hause und sprach ihre
Gedanken laut aus. Das reinigte sie. Corinna war eine gute Zuhörerin.
Es gab eine Zeit, da wurde Erika an der Tür ständig
abgewiesen. Sie hatte dafür keine Erklärung. Irgendwie passte Corinnas Mutter
der Kontakt ihrer Tochter mit Erika gar nicht mehr. Nach der Abweisung an der
Tür ging Erika dann aber nicht nach Hause, sondern sie stellte sich an ihren
Gartenzaun, mit Blick auf Corinnas Fenster. Dafür musste sie den Kopf ganz in
den Nacken legen. Jeder ältere Mensch hätte einen steifen Nacken bekommen.
Erika stand da nämlich richtig lange. Sie fixierte Corinnas Fenster, als könne
sie dadurch Corinnas Erscheinen am Fenster erzwingen. So stand sie da, auf dem
Fußgängerweg, an den heimischen Zaun gelehnt, scheinbar stundenlang. Es gab
keine Alternative. Wenn sie nach Hause ginge, würde ihre Einsamkeit sie
überwältigen. So stand sie da, sie war sich der demonstrativen Blödheit ihres
Verhaltens bewusst. Die Passanten sahen sie da jeden Nachmittag stehen, den
Kopf im Nacken, still wie eine Skulptur. Dort stehen war furchtbar, heimgehen noch
viel schlimmer.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen