Samstag, 18. April 2015

Der rote Mond Erika und Corinna


Sie sitzt in ihrem Zimmer und übt den täglichen Kopfsprung in den Abgrund. Es ist die immer gleiche Übung: Sie sitzt in ihrem Zimmer, eigentlich sollte sie Hausaufgaben machen, aber das gelingt ihr nicht. Anstatt dessen denkt sie über ihre Situation nach. Nein, es ist nicht ihre Situation, damit fängt sie nur an und das ist schon schlimm, aber dann denkt sie über sich selbst nach und da tut sich der Abgrund auf. Sie stürzt ins Bodenlose. Sie findet keinen Halt in sich, findet aber auch keinen Boden.
So sitzt sie da, schaut aus den großen Fenstern, über den Garten zur Straße. Der Vater hatte das Haus an eine damals sehr untypische Stelle gesetzt. Es steht nicht vorn, an der Straße, sondern am hinteren Ende des Grundstücks. So muss jeder, der zu Besuch kommt, erstmal den langen Weg laufen, bevor er an der Tür klingeln kann. Da ist für Erika und andere, die im Haus aus dem Fenster schauen, viel Zeit den Besucher zu betrachten. Zum Beispiel ihre Freundin Corinna, wenn die von gegenüber kommt, hat sie meistens den Blick auf den Boden gesenkt. Sie weiß, dass sie beobachtet wird und wundert sich schon lange nicht mehr, dass Erika ihr öffnet, bevor sie klingelt. Der Garten vor dem Haus hat etwas protziges, ist aber auch wunderschön. Wie ein Park, mit den großen Bäumen, Erika bewundert den Garten jedesmal, wenn sie bei Corinna zu Besuch ist. Corinna wohnt  genau gegenüber, sie hat ihr Zimmer im zweiten Obergeschoss, von dort hat man einen wunderbaren Blick auf Haus und Garten. Oft steht Erika dort am Fenster und schaut auf ihr zu Hause. Mit Abscheu und Bewunderung. Von hier oben hat sie mal ein bisschen Distanz. Erika quatscht Corinna  mit ihren Problemen voll. Corinna ist ein freundlicher Mensch, sie lässt das zu, es interessiert sie ja auch. Die zwei sind beste Freundinnen. Endlich wieder sind sie beste Freundinnen. Das waren sie schon in der Grundschule, das war lustig, damals, sie hatten immer die gleichen Noten. Auch im Zeugnis, absolut identische Noten, aber Erika sollte weiter auf das Gymnasium, Corinna auf die Realschule. Die Beiden wollten nicht getrennt werden. Mit den Zeugnissen in der Hand, aber nur wenig Hoffnung,  sind sie vorgegangen, zur Lehrerin, um zu fragen, wie das geht: identische Zeugnisse, verschiedene Schulzuweisungen. Die Lehrerin war ungehalten, natürlich hatte sie keine Erklärung  für die Mädchen, „das ist eben so“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Erika und Corinna waren traurig über die Trennung, aber sie wohnten ja so nah beieinander, dass sie zuversichtlich waren, ihre Freundschaft würde eben nachmittags weiter gehen. Corinna wohnte im zweiten Stock. Die Wohnung der Familie war im ersten Stock, aber sie war klein, also wurde für Corinna im Dachgeschoss ein Zimmer hergerichtet. Erika hätte sich an der Wohnung vorbeischleichen können und einfach im Treppenhaus weiter nach oben zu Corinna gehen können. Aber das war verboten. Corinnas Mutter hatte Ohren wie ein Luchs und die Treppe knarzte. Es war besser das nicht zu probieren. Corinnas Mutter hatte sowieso was gegen Erika. Corinnas Mutter entschied über gut und böse. An ihr hing Erikas Wohl. Scheinbar nach Lust und Laune entschied sie Corinna hat Zeit- hat keine Zeit. Also schwitzte Erika jedesmal, wenn sie da stand, vor der Tür. Sie wurde oft abgewiesen, oder es wurde gar nicht geöffnet. Das war schlimm. Erika wusste, dass Corinna da war, aber ihre Mutter wollte nicht, dass die Zwei miteinander spielten. Oftmals unterhielten sie sich nur, oder Corinna wollte Stadt-Land-Fluss spielen. Da verlor Erika immer. Manchmal  schauten sie sich die Bravo an, die Corinna  kaufte. Oder Erika stand am Fenster, mit dem Blick auf zu Hause und sprach ihre Gedanken laut aus. Das reinigte sie. Corinna war eine gute Zuhörerin.

Es gab eine Zeit, da wurde Erika an der Tür ständig abgewiesen. Sie hatte dafür keine Erklärung. Irgendwie passte Corinnas Mutter der Kontakt ihrer Tochter mit Erika gar nicht mehr. Nach der Abweisung an der Tür ging Erika dann aber nicht nach Hause, sondern sie stellte sich an ihren Gartenzaun, mit Blick auf Corinnas Fenster. Dafür musste sie den Kopf ganz in den Nacken legen. Jeder ältere Mensch hätte einen steifen Nacken bekommen. Erika stand da nämlich richtig lange. Sie fixierte Corinnas Fenster, als könne sie dadurch Corinnas Erscheinen am Fenster erzwingen. So stand sie da, auf dem Fußgängerweg, an den heimischen Zaun gelehnt, scheinbar stundenlang. Es gab keine Alternative. Wenn sie nach Hause ginge, würde ihre Einsamkeit sie überwältigen. So stand sie da, sie war sich der demonstrativen Blödheit ihres Verhaltens bewusst. Die Passanten sahen sie da jeden Nachmittag stehen, den Kopf im Nacken, still wie eine Skulptur. Dort stehen war furchtbar, heimgehen noch viel schlimmer.

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