Samstag, 4. April 2015

IG Farben das Telefon ist kaputt

Heute ist ihr Geburtstag. Im Haus wird kein großes Gedöns darum gemacht, das ist ihr recht. Bei 25 Leuten wäre das rein statistisch alle 2 Wochen Gedöns, das wäre ja auch ein bisschen viel. Sie verbringt einen schönen, ruhigen Tag. Sie fühlt sich ausnahmsweise mal ganz wohl mit sich selbst. Was auch ganz gut ist: das Telefon ist kaputt, es kann sie keiner anrufen. Zwischendurch überlegt sie mal, ob sie zur Telefonzelle laufen sollte, um zu Hause anzurufen: „wolltet ihr mich vielleicht anrufen und gratulieren, dann tut das jetzt, weil unser Telefon ist kaputt.“ Ne, keine Lust, sie genießt den lauschigen Abend. Morgen wird das Telefon repariert und dann ist noch früh genug für Gratulation. Am folgenden Mittag, kaum ist das Telefon fertig repariert, da klingelt es schon. Roth geht ran, es ist ihr Lieblingsbruder. „Norbert, hallo, Du möchtest mir wohl gratulieren…“ blökt sie aufgedreht ins Telefon. „Nora…warte mal, ich hole Mutter!“ Roth hat einen Augenblick Zeit sich zu wundern. Der Weg zum Telefon ist bei ihr zu Hause sehr weit, es steht im Arbeitszimmer ihres Vaters, das ist ziemlich abgelegen. Warum hat er nicht zuerst gratuliert? Warum war seine Stimme so komisch? Sie kann sich keinen Reim darauf machen und wartet auf ihre Mutter am Telefon. „Nora!“ „Hallo Mutter?“ Jetzt aber Glückwünsche und Segen. „Vater ist heute früh gestorben!“ Die Kellertür geht auf. Roth fängt sofort an zu heulen. „Nein… nein…. Ich komme!“ Das Gespräch ist beendet. Roth ist völlig überwältigt von dem Durcheinander in ihr drin. Die Kellertür steht offen und er fehlt ihr und er ist weg! Sie kann ihn nie wieder erreichen, sie wird ihm nichts mehr sagen können. Plötzlich spürt sie seine Bedeutung. Ihr Haus ist auf seinem Rücken gebaut. Er ist der Atlas, der ihre Welt trägt. Alles um sie herum fällt in sich zusammen und in ihrem Kopf öffnet sich ein riesiger Abgrund wie nach einem Erdbeben. Ihr Vater war ihr Schutz, ihre Sicherheit. Diese verwüstete Brachfläche, die sie in sich drin ausmacht, war befüllt von ihrem Vater. Bis eben hat sie das alles nicht gewusst. Die Kellertür war immer gut geschlossen. Zeitlebens war sie der Ansicht, dass sie ihren Vater hasst. „Am liebsten wäre mir, er wäre tot.“ Das hat sie oft gesagt, nicht zu ihrer Familie, die hätten das missbilligt, aber zu Freunden, es war ihre ehrliche Meinung. Sie hat ihren Vater immer nur als übellaunigen Störenfried wahrgenommen. Er war schon alt, als sie geboren wurde, er war immer alt, unnahbar, unerreichbar. Sein Tod war eine naheliegende und, aus ihrer Sicht sehr wünschenswerte, Idee.
Nun ist er tot! Da sind auch Schuldgefühle, weil sie sich das immer gewünscht hat, aber im Vordergrund steht der Verlust. Sie hatte mit ihm telefoniert. Ja! Das ist jetzt das Hälmchen, an dem sie sich festhält. Das war am Karfreitag, auch schon wieder einige Monate her. Ihre Mutter hat ja geschätzte 150 Pastoren in der Ahnenreihe, Karfreitag ist der größte Feiertag. Roth hat zu Hause angerufen und hatte ihren Vater am Apparat, was eingangs eigentlich immer der Fall ist. „Hallo Vater“ „Mutter ist nicht da, willst Du nachher nochmal anrufen?“ war seine Antwort auf die Begrüßung. Aus völlig unerfindlichen Gründen sagte Roth: „nee, lass mal, ich kann ja genauso gut mit Dir reden.“ Also redeten sie. Nicht lange, auch nichts Besonderes. Belanglosigkeiten, Alltäglichkeiten. Aber! Sie hat freiwillig mit ihm gesprochen! Das hatte sie noch nie, oder zumindest ewig nicht gemacht. Jetzt, nach seinem Tod ist das ihr Rettungsanker. Sie hat einmal freiwillig mit ihm gesprochen. Ja, sie hatten sich ganz nett unterhalten. So dies und das halt. Aber sie hat seine Stimme jetzt wieder im Ohr. Er war freundlich. Er war wahrscheinlich genauso überrascht wie sie, dass sie mit ihm reden wollte. Angenehm überrascht. Diese angenehme Freundlichkeit in seiner Stimme wird sie für den Rest ihres Lebens begleiten. Die Kellertür wird auch offen bleiben und die immense Bedeutung, die er in ihr hatte, wird ihr noch lange zu schaffen machen.

Abends ist sie zu Hause, bei ihrer Familie. Es ist tröstlich gemeinsam mit den Brüdern zu trauern. Sie stöbert im Schreibtisch ihres Vaters herum. Das hat sie früher öfter gemacht, meistens in feindlicher Absicht, um ihm Geld zu klauen, oder so. Sie schaut in sein Tagebuch. Sie ist erwähnt! Gestern Abend hat er versucht sie anzurufen, sie hatte ja Geburtstag, er hat sie nicht erreicht. Ja genau, das Telefon war ja kaputt. Gestern Abend…das war in einem anderen Leben

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