Samstag, 11. April 2015

Der rote Mond Erika bei den Ratten


Alles hat sich verändert. Aber auch alles. Alles zum Schlechten. Das wird Erika nach und nach klar. Sie fühlt sich jetzt zwar präsenter in der Welt, dadurch fühlt sie ihre Ohnmacht aber nur mehr. Man könnte eine lange Veränderungsliste schreiben. Sie ist auf das Gymnasium gekommen. Neues Spiel- neues Glück? Nein, keinesfalls. Sie ist kein Spieler, sie ist eine Figur, die willkürlich hin und her gerückt wird. Sie hat sich gefreut mit Otto auf derselben Schule zu sein. Aber da sind so viele, sie findet ihn gar nicht, außerdem weiß sie ja, dass sie ihm nicht hinterher rennen soll. Die Klassenkameraden sind komisch. Nene, ist schon klar, die Klassenkameraden finden sie komisch. Sie versteht aber gar nicht warum. Sind es ihre Anziehsachen? Sie muss ja immer die alten Sachen von ihren Brüdern auftragen. Das findet sie auch nicht so toll, sie würde sich lieber schöne, bunte Mädchensachen anziehen. Aber, kann das ein Grund sein, dass sie ausgeschlossen wird? Oder mag es ihre Art sein? Sie kann sich da kaum sehen, aber ja, sie ist verdrießlich und gleichzeitig vorlaut. Schon eine komische Mischung. Ach ja, und wenn man sie lässt, ist sie eine Besserwisserin. Tja, ja, kommt wohl nicht so gut an, aber in der Grundschule hatte sie diese Probleme überhaupt nicht. Sie war immer so zufrieden mit ihrer Position in der Klasse, dass sie das Thema gar nicht kannte. Und jetzt ausgeschlossen. Die blöde Kuh, die immer falsch ist, egal, was sie macht. Schon vor den Herbstferien fuhren sie ins Landschulheim. Dort haben sich dann noch alle über ihren Schlafanzug beölt. Was ist daran so komisch? Schlafanzüge bekommt sie immer zu Weihnachten von ihrer Tante aus der DDR. Da ist noch eine extrem lästige Veränderung: die Schule fällt ihr nicht mehr so leicht. Erika war gewohnt, dass sie alles gut mitkriegt und sich um nichts kümmern braucht. Jetzt müsste sie Hausaufgaben machen, sich richtig hinsetzen, Vokabeln lernen. Das erscheint ihr anstrengend. Sie kann sich dazu nicht aufraffen. Also rutscht sie ab, mit den Noten. Die Versetzung ist immer wieder gefährdet. Wie gesagt, extrem lästig, aber Hausaufgaben macht sie nicht.
Als sie zurückkommen aus dem Landschulheim steht ihre Mutter da, um sie abzuholen. Noch im Bus erkennt Erika am Gesicht ihrer Mutter, dass etwas passiert ist. Der Vater hatte einen Herzinfarkt. Das findet Erika erstmal nicht so schlimm, wie das Gesicht ihrer Mutter. Erika ist so zugeschnürt gegenüber ihrem Vater, dass sein Schmerz und seine Krankheit ihr gar nichts ausmachen. Aber das dicke Ende kommt bald. Der dritte, ganz große Punkt auf der Veränderungsliste. Obwohl, vorher, doch, doch, wie der Vater da liegt, im Krankenhausbett, so klein, so schwach, leise und fast zart, das findet Erika komisch, befremdlich, berühren lässt sie sich davon aber nicht. Das übliche Brimborium, Krankenhaus, Kur, der Vater kommt wieder auf die Füße, aber er verändert sein Leben völlig. Er ist nicht mehr so viel unterwegs. Er arbeitet jetzt von zu Hause aus. Erika war daran gewöhnt, dass er fast immer weg war. Für sie war die Welt zweigeteilt: Vater weg-gut. Vater da-schlecht; abtauchen, verstecken. Jetzt gibt es nur noch Vater da. Wie ein dunkler Schatten überlagert er ihre Welt. Er ist ja fast immer schlecht gelaunt und dann gibt es noch häufige Wutanfälle. Der Vater ist immer misstrauisch, er erwartet  nichts Gutes. Erika sucht gar nicht erst nach einem guten Weg zu ihm. Da gibt es auch keine Vorbilder in der Familie. Alle versuchen abzutauchen, wenn der Vater auftaucht. Jetzt ist er immer da. Erika kann nicht immer tauchen. Sie versucht es mit Unauffälligkeit und ihm aus dem Weg gehen. Bei jeder Mahlzeit sitzen sie jetzt zusammen am Tisch. Oft betrachtet sie ihn. Er scheint so konzentriert auf seinen Teller, dass er das nicht merkt. Wenn sie ihn so betrachtet, fühlt sie immer nur Abscheu. Bei ihren Mahlzeiten sitzen sie jetzt  nur noch zu Viert. Das ist die weitere große Veränderung. Die großen Brüder sind weg. Erst zum Bund und dann zum Studieren. Das Haus ist so viel stiller geworden. Erika hat keine breiten Schultern mehr, hinter denen sie in Ruhe gelassen wird. Ihre großen Brüder sind doch ihre Helden. Die eigentlichen Autoritäten, die ihr sagen wo das Leben lang geht.
Manchmal kommen die Brüder nach Hause. Dann ist das Leben ein Fest. Alles ist wieder fröhlich, ausgelassen, laut. Auch die Mutter taut auf, wenn ihre großen Jungs kommen. Sonst verbringt sie ihr Leben in der Warteschleife. Alle Pflichten empfindet sie lästig und nicht lustig. Wenn sie die abgearbeitet hat setzt sie sich mit Cognac und Zigarette. Das ist wohl ihre einzige Freude. Oder eben, wenn einer Ihrer Jungs auftaucht. Dann wird sie lebendig. Erika will dann überall dabei sein und genießt auch alles. Das Zuhause wird dann vorübergehend sonnig, alles ist gut. Das Licht wird wieder ausgeschaltet, wenn der Bruder wieder abreist. Alles versinkt wieder in Lethargie, Monotonie, Lieblosigkeit.

Thomas  wohnt ja in der nächsten großen Stadt. Er hat keinen weiten Weg, kommt öfter mal vorbei. Eines Abends ist er mit seiner Freundin da, als Erika vom Schwimmtraining nach Hause kommt. Nach dem Schwimmen hat Erika immer riesigen Hunger, naja, eigentlich hat sie immer Hunger.  Jetzt, für den Bruder hat die Mutter richtig lecker gekocht. Erika genießt das Essen und sagt dann: „wenn ich groß bin ziehe ich ganz weit weg, damit Mutter für mich auch richtig lecker kocht, wenn ich dann mal nach Hause komme. Wegen euch gibt es hier so lecker, für mich kocht Mutter nur den letzten Scheiß.“ Oohh. Eklat. Die Mutter zerrt Erika in die Küche und schimpft auf sie ein. Sie soll sich beim Bruder und der Freundin entschuldigen. Hää? Warum? Erika versteht das nicht. Aber sie ist erschrocken über die starke Reaktion, die ihre Worte ausgelöst haben. Sie ist eigentlich gewohnt, dass ihre Äußerungen scheinbar ungehört verpuffen. Also gut, betroffen und doch eher ferngesteuert geht sie zurück ins Wohnzimmer. Die Frau sitzt auf Thomas´ Schoß, beide schauen Erika erwartungsvoll an. Erika geht hin und sagt die entschuldigenden Worte, die sie nicht spürt. Damit löst sich die Situation, aber Erika bleibt irritiert davon. Sie fühlt sich nämlich weiterhin im Recht. Sie hat einfach nur wahre Worte ausgesprochen. Die Mutter kocht in letzter Zeit oft richtigen Mist. Kürzlich gab es Reste. Klar, Reste müssen schon mal sein, aber die Mutter hatte Blumenkohl mit Sauce hollandaise einfach mit Bolognese Soße gemischt. Das geht doch zu weit. Der Hunger treibt es rein. Ja. Die Mutter hatte jetzt die Talsohle ihres Daseins erreicht und dort würde sie noch einige Jahre verbringen. Die Freudlosigkeit der Mutter wirkte sich direkt auf Erikas Lebensgefühl aus. Sie war schon im Keller, der Zustand der Mutter zieht sie noch weiter runter, zu den Ratten. 

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