Alles hat sich verändert. Aber auch alles. Alles zum
Schlechten. Das wird Erika nach und nach klar. Sie fühlt sich jetzt zwar
präsenter in der Welt, dadurch fühlt sie ihre Ohnmacht aber nur mehr. Man
könnte eine lange Veränderungsliste schreiben. Sie ist auf das Gymnasium
gekommen. Neues Spiel- neues Glück? Nein, keinesfalls. Sie ist kein Spieler,
sie ist eine Figur, die willkürlich hin und her gerückt wird. Sie hat sich
gefreut mit Otto auf derselben Schule zu sein. Aber da sind so viele, sie
findet ihn gar nicht, außerdem weiß sie ja, dass sie ihm nicht hinterher rennen
soll. Die Klassenkameraden sind komisch. Nene, ist schon klar, die
Klassenkameraden finden sie komisch. Sie versteht aber gar nicht warum. Sind es
ihre Anziehsachen? Sie muss ja immer die alten Sachen von ihren Brüdern
auftragen. Das findet sie auch nicht so toll, sie würde sich lieber schöne,
bunte Mädchensachen anziehen. Aber, kann das ein Grund sein, dass sie
ausgeschlossen wird? Oder mag es ihre Art sein? Sie kann sich da kaum sehen,
aber ja, sie ist verdrießlich und gleichzeitig vorlaut. Schon eine komische
Mischung. Ach ja, und wenn man sie lässt, ist sie eine Besserwisserin. Tja, ja,
kommt wohl nicht so gut an, aber in der Grundschule hatte sie diese Probleme
überhaupt nicht. Sie war immer so zufrieden mit ihrer Position in der Klasse,
dass sie das Thema gar nicht kannte. Und jetzt ausgeschlossen. Die blöde Kuh,
die immer falsch ist, egal, was sie macht. Schon vor den Herbstferien fuhren
sie ins Landschulheim. Dort haben sich dann noch alle über ihren Schlafanzug
beölt. Was ist daran so komisch? Schlafanzüge bekommt sie immer zu Weihnachten
von ihrer Tante aus der DDR. Da ist noch eine extrem lästige Veränderung: die
Schule fällt ihr nicht mehr so leicht. Erika war gewohnt, dass sie alles gut
mitkriegt und sich um nichts kümmern braucht. Jetzt müsste sie Hausaufgaben
machen, sich richtig hinsetzen, Vokabeln lernen. Das erscheint ihr anstrengend.
Sie kann sich dazu nicht aufraffen. Also rutscht sie ab, mit den Noten. Die
Versetzung ist immer wieder gefährdet. Wie gesagt, extrem lästig, aber
Hausaufgaben macht sie nicht.
Als sie zurückkommen aus dem Landschulheim steht ihre Mutter
da, um sie abzuholen. Noch im Bus erkennt Erika am Gesicht ihrer Mutter, dass
etwas passiert ist. Der Vater hatte einen Herzinfarkt. Das findet Erika erstmal
nicht so schlimm, wie das Gesicht ihrer Mutter. Erika ist so zugeschnürt
gegenüber ihrem Vater, dass sein Schmerz und seine Krankheit ihr gar nichts
ausmachen. Aber das dicke Ende kommt bald. Der dritte, ganz große Punkt auf der
Veränderungsliste. Obwohl, vorher, doch, doch, wie der Vater da liegt, im
Krankenhausbett, so klein, so schwach, leise und fast zart, das findet Erika
komisch, befremdlich, berühren lässt sie sich davon aber nicht. Das übliche
Brimborium, Krankenhaus, Kur, der Vater kommt wieder auf die Füße, aber er
verändert sein Leben völlig. Er ist nicht mehr so viel unterwegs. Er arbeitet
jetzt von zu Hause aus. Erika war daran gewöhnt, dass er fast immer weg war. Für
sie war die Welt zweigeteilt: Vater weg-gut. Vater da-schlecht; abtauchen,
verstecken. Jetzt gibt es nur noch Vater da. Wie ein dunkler Schatten
überlagert er ihre Welt. Er ist ja fast immer schlecht gelaunt und dann gibt es
noch häufige Wutanfälle. Der Vater ist immer misstrauisch, er erwartet nichts Gutes. Erika sucht gar nicht erst nach
einem guten Weg zu ihm. Da gibt es auch keine Vorbilder in der Familie. Alle
versuchen abzutauchen, wenn der Vater auftaucht. Jetzt ist er immer da. Erika
kann nicht immer tauchen. Sie versucht es mit Unauffälligkeit und ihm aus dem
Weg gehen. Bei jeder Mahlzeit sitzen sie jetzt zusammen am Tisch. Oft
betrachtet sie ihn. Er scheint so konzentriert auf seinen Teller, dass er das
nicht merkt. Wenn sie ihn so betrachtet, fühlt sie immer nur Abscheu. Bei ihren
Mahlzeiten sitzen sie jetzt nur noch zu
Viert. Das ist die weitere große Veränderung. Die großen Brüder sind weg. Erst
zum Bund und dann zum Studieren. Das Haus ist so viel stiller geworden. Erika
hat keine breiten Schultern mehr, hinter denen sie in Ruhe gelassen wird. Ihre
großen Brüder sind doch ihre Helden. Die eigentlichen Autoritäten, die ihr
sagen wo das Leben lang geht.
Manchmal kommen die Brüder nach Hause. Dann ist das Leben
ein Fest. Alles ist wieder fröhlich, ausgelassen, laut. Auch die Mutter taut
auf, wenn ihre großen Jungs kommen. Sonst verbringt sie ihr Leben in der
Warteschleife. Alle Pflichten empfindet sie lästig und nicht lustig. Wenn sie
die abgearbeitet hat setzt sie sich mit Cognac und Zigarette. Das ist wohl ihre
einzige Freude. Oder eben, wenn einer Ihrer Jungs auftaucht. Dann wird sie
lebendig. Erika will dann überall dabei sein und genießt auch alles. Das
Zuhause wird dann vorübergehend sonnig, alles ist gut. Das Licht wird wieder
ausgeschaltet, wenn der Bruder wieder abreist. Alles versinkt wieder in
Lethargie, Monotonie, Lieblosigkeit.
Thomas wohnt ja in
der nächsten großen Stadt. Er hat keinen weiten Weg, kommt öfter mal vorbei.
Eines Abends ist er mit seiner Freundin da, als Erika vom Schwimmtraining nach
Hause kommt. Nach dem Schwimmen hat Erika immer riesigen Hunger, naja,
eigentlich hat sie immer Hunger. Jetzt,
für den Bruder hat die Mutter richtig lecker gekocht. Erika genießt das Essen
und sagt dann: „wenn ich groß bin ziehe ich ganz weit weg, damit Mutter für
mich auch richtig lecker kocht, wenn ich dann mal nach Hause komme. Wegen euch
gibt es hier so lecker, für mich kocht Mutter nur den letzten Scheiß.“ Oohh.
Eklat. Die Mutter zerrt Erika in die Küche und schimpft auf sie ein. Sie soll
sich beim Bruder und der Freundin entschuldigen. Hää? Warum? Erika versteht das
nicht. Aber sie ist erschrocken über die starke Reaktion, die ihre Worte
ausgelöst haben. Sie ist eigentlich gewohnt, dass ihre Äußerungen scheinbar
ungehört verpuffen. Also gut, betroffen und doch eher ferngesteuert geht sie
zurück ins Wohnzimmer. Die Frau sitzt auf Thomas´ Schoß, beide schauen Erika
erwartungsvoll an. Erika geht hin und sagt die entschuldigenden Worte, die sie
nicht spürt. Damit löst sich die Situation, aber Erika bleibt irritiert davon.
Sie fühlt sich nämlich weiterhin im Recht. Sie hat einfach nur wahre Worte
ausgesprochen. Die Mutter kocht in letzter Zeit oft richtigen Mist. Kürzlich
gab es Reste. Klar, Reste müssen schon mal sein, aber die Mutter hatte
Blumenkohl mit Sauce hollandaise einfach mit Bolognese Soße gemischt. Das geht
doch zu weit. Der Hunger treibt es rein. Ja. Die Mutter hatte jetzt die
Talsohle ihres Daseins erreicht und dort würde sie noch einige Jahre
verbringen. Die Freudlosigkeit der Mutter wirkte sich direkt auf Erikas
Lebensgefühl aus. Sie war schon im Keller, der Zustand der Mutter zieht sie
noch weiter runter, zu den Ratten.
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