Freitag, 23. Januar 2015

IG Farben Wiener Wahn


Oh, weia. Violet ist total kaputt! Sie wälzt sich in ihrem Bett hin und her, kann aber nicht schlafen. Sie ist völlig erschöpft, aber irgendwie geht Schlaf jetzt nicht. Gestern hat sie sich bei der Jobbörse die Arbeit besorgt. Vorsorglich ist sie nach den Feierabend-Bieren, schon nach Kneipenschluss, nach Hause gegangen. Sie ist es nicht gewöhnt so früh und so nüchtern zu schlafen, also lag sie noch lange wach. Der Wecker war der Hammer, dann die Wurstfabrik, sie war da schon einige Male. In zu großen Gummistiefeln und den fleckigen weißlichen Klamotten arbeitete sie heute an der großen Theke und sollte acht Tonnen Wienerle verpacken. Sie wird wieder wochenlang keine Wurst essen können. Na gut, dafür hat sie jetzt 58,80DM auf ihrem Tischchen liegen. In der Pause stand sie am Personaleingang und hat geraucht, leider war da kein Sitzplatz. Sie hätte spazieren gehen sollen, aber das war in dem Outfit natürlich auch unmöglich. Ihr Vorarbeiter hat mit ihr Pause gemacht, die ganze Zeit zu dicht neben ihr gestanden und sie vollgequatscht. Graubraunes Gesicht, faltig, schon von den Knochen gefallen. Die Finger der rechten Hand vom Nikotin braun verfärbt, gelbliche Haare, mit Pomade nach hinten gekämmt. Nach jedem Satz musste er Husten, Violet hörte den Schleim in der Lunge träge brodeln. Unauffällig versuchte sie abzurücken, aber der Vorarbeiter rückte immer wieder nach. So ersehnte sie das Ende der Pause, die restlichen Tonnen Wienerle waren aber kein Trost. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr Zeit sich dehnen kann, egal, jetzt ist sie hier in ihrem Bett. Sie musste erstmal ewig duschen, eigentlich unmöglich, sie hat doch eine halbe Flasche Duschgel über sich ausgeschüttet, aber sie stinkt immer noch nach Wiener Würstchen. Gleich steht sie sowieso auf, sie wird Bionda fragen, wie sie riecht.
Ja. Eigentlich müsste sie gleich aufstehen. Es ist VZ Plenum, da müsste sie hin, würde sie normalerweise hin wollen. Das VZ! Wenn die Szenekneipe ihr Wohnzimmer ist, dann ist das VZ-Cafe ihr Salon. Die Ladenschlusszeiten in diesem lustigen Bundesland machen einiges vom Ruhm des VZ aus. Alle Kneipen schließen um 24:00 Uhr, an Samstagen um eins. Kein Mensch will um die Zeit nach Hause, also ziehen alle weiter ins VZ, wenn es offen hat. Bionda hat das organisiert, sie machen donnerstags „Mädelstheke“. Freitags sind die Rocker da, das sind die eigentlichen Chefs vom VZ-Cafe, sonntags Jazzer, jeden 2. Dienstag Schwule, und nun also, seit einiger Zeit, donnerstags die Mädels. Die Mädels sind aber eigentlich eine Mangelerscheinung: die Rocker, die Jazzer organisieren Bandauftritte, oder Jazz-Sessions, die Schwulen feiern sich, die Mädels sind nur nächtliche Abfüllstation. Manchmal versuchten sie ihre Theke aufzubrezeln, mit belegten Brötchen, oder so, sie kennen halt keine Bands, aber das waren klägliche Versuche, die sie ganz schnell wieder aufgegeben haben. Alle Leute, die Theke machen und noch einige andere, kommen zum Plenum, einmal in der Woche. Da werden dann die Notwendigkeiten, die Lage, die Finanzen besprochen. Das sind fast alles nette Jungs, Bionda hat seit längerer Zeit was mit dem Wortführer und meint der Jörg hätte ein Auge auf Violet geworfen. Der Jörg ist so ein Intellektueller, der Geologie studiert und in tollen ganzen Sätzen redet. Er gehört zu den Freitags-Rockern, die studieren wohl alle und haben jedes Mal eine Band, die um eins das kleine Podest zur Bühne macht. Violet fühlt sich in seiner Gegenwart dumpf und unkreativ. Normalerweise fühlt sie sich wohl mit sich selbst, meistens zumindest. Sie weiß, dass sie gut aussieht, ok, der Bauch könnte flacher sein, mit dem Essen kämpft sie, aber der Kampf ist nicht verloren. Sie ist schmal und hochgewachsen, die Punk-Mode passt gut zu ihr. Fast immer trägt sie ihre glänzende, schwarze Kunstlederhose. Mit den pinken Haaren, den dunkel geschminkten Augen und ihrer überaus weißen Haut, sieht sie aus wie Schneewittchen mit falschen Vorzeichen. Die Leute sagen, sie hat was feenhaftes, ätherisches, sie selbst findet ihr fehlt etwas Bodenhaftung. Oft gleitet sie fünf Zentimeter über dem Boden dahin, aber immer wieder haut es sie aus den Latschen. Dann geht es ab in den Keller, da bleibt sie ewig hängen. Dort hadert sie, denkt nach, verlässt kaum ihr Bett, geschweige denn ihr Zimmer, kommt trotzdem nicht drauf, was sie wieder so runtergehauen hat und wie sie wieder hoch kommt. Deswegen zögert sie auch oft mit den Drogen, die die Mädels ständig einschmeißen, sie hat öfter mal einen Horrortrip oder Paranoia.

Kürzlich, mitten in der Nacht im VZ, kam Roth mit einer Handvoll Psilos, Psilocybin Pilze, schon daran naschend, zu Violet. Sie hatte sie gerade von einem Bekannten geschenkt gekriegt. Roth wollte Violet eine Freude machen und hat sie schwesterlich mit ihr geteilt. Violet freute sich auch, anfänglich, aber es dauerte gar nicht lange, da veränderte sich die Welt. Gut klar, darauf wollten sie ja auch hinaus, aber die Welt veränderte sich aufs Unangenehmste. Die Gesichter der Umstehenden verwandelten sich in höhnische Fratzen, die Musik veränderte sich zu einem bedrohlichen Stakkato, das Stimmengewirr wurde zu einem befremdlichen Rauschen. Violet versuchte sich davon nicht beeindrucken zu lassen, dann entdeckte sie an der Wand einen riesigen Büffelschatten, der sie niedertrampeln wollte. Zügig machte sie sich davon. Sie wusste gerade noch wo sie war und hatte noch einen kleinen Rest Vertrauen in sich selbst, dass sie den Heimweg finden würde. Sie muss nur vom Hof, um die Ecke, die eine Straße ganz hinunter, dann noch einmal rechts. Aber als sie zur Tür hinaus ist, bekommt sie eine Gänsehaut auf dem Rücken, es verfolgt sie jemand. Jetzt bloß nicht umdrehen, sonst erstarrt sie. Sie möchte rennen, aber sie ist total unfit und wenn es merkt, dass sie Angst hat, wird es noch bedrohlicher. Bei der Rechtsdrehung, als sie auf die Straße einbiegt, schielt sie unauffällig nach hinten. Da ist nichts, ffuuhh. Aber die Straße ist nicht mehr zu erkennen. Jaja, da links ist die Tanke, das gehört so, aber sonst hat die Straße sich völlig verändert. Das ist nicht mehr ihr Viertel, ihre Stadt. Die Pilze haben sie aus ihrem Leben herausgepofft in eine fremde Welt. Sie findet sich überhaupt nicht mehr zurecht. Soll sie zurückgehen, das ist nah, aber nur bei dem Gedanken stellen sich ihre Nackenhaare auf. Also, Konzentration! Sie erkennt nichts, aber sie konzentriert sich darauf: nur gerade aus laufen! Diese Angst ist schlimmer, als die Bedrohung vorhin. Jetzt geht sie verloren in der Welt, sie findet ihr Leben nicht mehr wieder. Gerade aus laufen! Der kurze Weg dehnt sich stundenlang aus, da ist nichts mehr bedrohlich, aber auch nichts mehr vertraut. Gerade aus laufen. Sie kann nichts machen, es gibt keinen Anker, keinen Pflock, nichts, wo sie anbändeln könnte. Sie steht vor einer Tür und der Schlüssel passt, die Tür geht auf, es ist ihr zu Hause. Da ist Erleichterung, sie könnte eigentlich stolz auf sich sein, dass sie das geschafft hat, aber so wie sie eben auf der Straße verloren war, geht sie jetzt in sich selbst verloren. Sie duscht um das Wasser auf der Haut zu spüren, so kann sie die Grenze zwischen sich und der Welt wahrnehmen. Aber da kommt lauwarmes Blut aus dem Duschkopf. Sie nimmt reißaus, schmiert das Blut in ein Handtuch und springt ins Bett. Die Decke über dem Kopf bleibt sie liegen. Sie weiß, sie muss nur warten, bis die Pilze ihre Wirkung aufgeben. Solange liegt sie unter der Decke und wartet.

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