Oh, weia. Violet ist total kaputt! Sie wälzt sich in ihrem
Bett hin und her, kann aber nicht schlafen. Sie ist völlig erschöpft, aber
irgendwie geht Schlaf jetzt nicht. Gestern hat sie sich bei der Jobbörse die
Arbeit besorgt. Vorsorglich ist sie nach den Feierabend-Bieren, schon nach
Kneipenschluss, nach Hause gegangen. Sie ist es nicht gewöhnt so früh und so
nüchtern zu schlafen, also lag sie noch lange wach. Der Wecker war der Hammer,
dann die Wurstfabrik, sie war da schon einige Male. In zu großen Gummistiefeln
und den fleckigen weißlichen Klamotten arbeitete sie heute an der großen Theke
und sollte acht Tonnen Wienerle verpacken. Sie wird wieder wochenlang keine
Wurst essen können. Na gut, dafür hat sie jetzt 58,80DM auf ihrem Tischchen
liegen. In der Pause stand sie am Personaleingang und hat geraucht, leider war
da kein Sitzplatz. Sie hätte spazieren gehen sollen, aber das war in dem Outfit
natürlich auch unmöglich. Ihr Vorarbeiter hat mit ihr Pause gemacht, die ganze
Zeit zu dicht neben ihr gestanden und sie vollgequatscht. Graubraunes Gesicht,
faltig, schon von den Knochen gefallen. Die Finger der rechten Hand vom Nikotin
braun verfärbt, gelbliche Haare, mit Pomade nach hinten gekämmt. Nach jedem
Satz musste er Husten, Violet hörte den Schleim in der Lunge träge brodeln.
Unauffällig versuchte sie abzurücken, aber der Vorarbeiter rückte immer wieder
nach. So ersehnte sie das Ende der Pause, die restlichen Tonnen Wienerle waren
aber kein Trost. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr Zeit sich dehnen
kann, egal, jetzt ist sie hier in ihrem Bett. Sie musste erstmal ewig duschen,
eigentlich unmöglich, sie hat doch eine halbe Flasche Duschgel über sich
ausgeschüttet, aber sie stinkt immer noch nach Wiener Würstchen. Gleich steht
sie sowieso auf, sie wird Bionda fragen, wie sie riecht.
Ja. Eigentlich müsste sie gleich aufstehen. Es ist VZ
Plenum, da müsste sie hin, würde sie normalerweise hin wollen. Das VZ! Wenn die
Szenekneipe ihr Wohnzimmer ist, dann ist das VZ-Cafe ihr Salon. Die
Ladenschlusszeiten in diesem lustigen Bundesland machen einiges vom Ruhm des VZ
aus. Alle Kneipen schließen um 24:00 Uhr, an Samstagen um eins. Kein Mensch
will um die Zeit nach Hause, also ziehen alle weiter ins VZ, wenn es offen hat.
Bionda hat das organisiert, sie machen donnerstags „Mädelstheke“. Freitags sind
die Rocker da, das sind die eigentlichen Chefs vom VZ-Cafe, sonntags Jazzer,
jeden 2. Dienstag Schwule, und nun also, seit einiger Zeit, donnerstags die
Mädels. Die Mädels sind aber eigentlich eine Mangelerscheinung: die Rocker, die
Jazzer organisieren Bandauftritte, oder Jazz-Sessions, die Schwulen feiern
sich, die Mädels sind nur nächtliche Abfüllstation. Manchmal versuchten sie
ihre Theke aufzubrezeln, mit belegten Brötchen, oder so, sie kennen halt keine
Bands, aber das waren klägliche Versuche, die sie ganz schnell wieder
aufgegeben haben. Alle Leute, die Theke machen und noch einige andere, kommen
zum Plenum, einmal in der Woche. Da werden dann die Notwendigkeiten, die Lage,
die Finanzen besprochen. Das sind fast alles nette Jungs, Bionda hat seit
längerer Zeit was mit dem Wortführer und meint der Jörg hätte ein Auge auf
Violet geworfen. Der Jörg ist so ein Intellektueller, der Geologie studiert und
in tollen ganzen Sätzen redet. Er gehört zu den Freitags-Rockern, die studieren
wohl alle und haben jedes Mal eine Band, die um eins das kleine Podest zur
Bühne macht. Violet fühlt sich in seiner Gegenwart dumpf und unkreativ.
Normalerweise fühlt sie sich wohl mit sich selbst, meistens zumindest. Sie
weiß, dass sie gut aussieht, ok, der Bauch könnte flacher sein, mit dem Essen
kämpft sie, aber der Kampf ist nicht verloren. Sie ist schmal und
hochgewachsen, die Punk-Mode passt gut zu ihr. Fast immer trägt sie ihre
glänzende, schwarze Kunstlederhose. Mit den pinken Haaren, den dunkel
geschminkten Augen und ihrer überaus weißen Haut, sieht sie aus wie
Schneewittchen mit falschen Vorzeichen. Die Leute sagen, sie hat was
feenhaftes, ätherisches, sie selbst findet ihr fehlt etwas Bodenhaftung. Oft
gleitet sie fünf Zentimeter über dem Boden dahin, aber immer wieder haut es sie
aus den Latschen. Dann geht es ab in den Keller, da bleibt sie ewig hängen.
Dort hadert sie, denkt nach, verlässt kaum ihr Bett, geschweige denn ihr
Zimmer, kommt trotzdem nicht drauf, was sie wieder so runtergehauen hat und wie
sie wieder hoch kommt. Deswegen zögert sie auch oft mit den Drogen, die die
Mädels ständig einschmeißen, sie hat öfter mal einen Horrortrip oder Paranoia.
Kürzlich, mitten in der Nacht im VZ, kam Roth mit einer
Handvoll Psilos, Psilocybin Pilze, schon daran naschend, zu Violet. Sie hatte
sie gerade von einem Bekannten geschenkt gekriegt. Roth wollte Violet eine
Freude machen und hat sie schwesterlich mit ihr geteilt. Violet freute sich
auch, anfänglich, aber es dauerte gar nicht lange, da veränderte sich die Welt.
Gut klar, darauf wollten sie ja auch hinaus, aber die Welt veränderte sich aufs
Unangenehmste. Die Gesichter der Umstehenden verwandelten sich in höhnische
Fratzen, die Musik veränderte sich zu einem bedrohlichen Stakkato, das
Stimmengewirr wurde zu einem befremdlichen Rauschen. Violet versuchte sich
davon nicht beeindrucken zu lassen, dann entdeckte sie an der Wand einen
riesigen Büffelschatten, der sie niedertrampeln wollte. Zügig machte sie sich
davon. Sie wusste gerade noch wo sie war und hatte noch einen kleinen Rest Vertrauen
in sich selbst, dass sie den Heimweg finden würde. Sie muss nur vom Hof, um die
Ecke, die eine Straße ganz hinunter, dann noch einmal rechts. Aber als sie zur
Tür hinaus ist, bekommt sie eine Gänsehaut auf dem Rücken, es verfolgt sie
jemand. Jetzt bloß nicht umdrehen, sonst erstarrt sie. Sie möchte rennen, aber
sie ist total unfit und wenn es merkt, dass sie Angst hat, wird es noch
bedrohlicher. Bei der Rechtsdrehung, als sie auf die Straße einbiegt, schielt
sie unauffällig nach hinten. Da ist nichts, ffuuhh. Aber die Straße ist nicht
mehr zu erkennen. Jaja, da links ist die Tanke, das gehört so, aber sonst hat
die Straße sich völlig verändert. Das ist nicht mehr ihr Viertel, ihre Stadt.
Die Pilze haben sie aus ihrem Leben herausgepofft in eine fremde Welt. Sie
findet sich überhaupt nicht mehr zurecht. Soll sie zurückgehen, das ist nah,
aber nur bei dem Gedanken stellen sich ihre Nackenhaare auf. Also,
Konzentration! Sie erkennt nichts, aber sie konzentriert sich darauf: nur
gerade aus laufen! Diese Angst ist schlimmer, als die Bedrohung vorhin. Jetzt
geht sie verloren in der Welt, sie findet ihr Leben nicht mehr wieder. Gerade
aus laufen! Der kurze Weg dehnt sich stundenlang aus, da ist nichts mehr
bedrohlich, aber auch nichts mehr vertraut. Gerade aus laufen. Sie kann nichts
machen, es gibt keinen Anker, keinen Pflock, nichts, wo sie anbändeln könnte.
Sie steht vor einer Tür und der Schlüssel passt, die Tür geht auf, es ist ihr
zu Hause. Da ist Erleichterung, sie könnte eigentlich stolz auf sich sein, dass
sie das geschafft hat, aber so wie sie eben auf der Straße verloren war, geht
sie jetzt in sich selbst verloren. Sie duscht um das Wasser auf der Haut zu
spüren, so kann sie die Grenze zwischen sich und der Welt wahrnehmen. Aber da
kommt lauwarmes Blut aus dem Duschkopf. Sie nimmt reißaus, schmiert das Blut in
ein Handtuch und springt ins Bett. Die Decke über dem Kopf bleibt sie liegen.
Sie weiß, sie muss nur warten, bis die Pilze ihre Wirkung aufgeben. Solange
liegt sie unter der Decke und wartet.
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