Sie wacht auf in ihrem öden Zimmer, in ihrem öden Leben. An
die letzte Nacht kann sie sich gut erinnern, war aber auch nichts Besonderes
los. Sie macht sich Kaffee, keine Milch, so eine Scheiße. Sie muss runter und
bei einer anderen WG klingeln, vielleicht hockt sie sich dort auch einfach hin,
trinkt da einen Kaffee und wartet was passiert. Bevor sie runtergeht wirft sie
noch einen Blick aus dem Fenster. Mist… da liegt immer noch das komische Fleisch
auf dem Fensterbrett, das Brunella für ihren Köter besorgt hat. Roth ist sofort
wieder wütend, das Fleisch liegt da schon ewig, Roth schaut nicht genau hin,
sonst wird ihr übel, sie weiß auch so, dass das Fleisch wieder lebendig ist.
Auf der Treppe zur unteren WG regt sich Roth mal wieder über Brunella auf.
Sofort fallen ihr hundert Macken an Brunella ein, aber sie hat schon
geklingelt, runterkommen! Sie will ja nicht wütend nach Milch fragen. Roth
setzt sich an den Tisch, da sitzen schon einige Leute, die meisten kennt sie,
trotzdem ist sie unsicher. Sie will gemocht werden, naja, das geht wohl jedem
so, aber Roth braucht viele Zeichen der Zuneigung, bevor sie sich entspannen
kann. So einfach „hallo, alles klar, komm rein“, das reicht ihr eigentlich nicht.
Jetzt bemerkt sie Brunella, die gerade aus Hendricks Zimmer kommt. Roths
Unsicherheit verschwindet sofort, macht ihrer Wut Platz. „Hör mal, du blöde
Kuh, was ist eigentlich mit dem Dreck auf der Fensterbank? Außerdem ist keine
Milch da und du bist dran mit einkaufen!“ Roth ist es jetzt völlig egal, wie
sie ankommt, das unsoziale Verhalten ihrer Freundin geht ihr total auf den
Keks. Hendrick nimmt Brunella in Schutz: „Hey, Roth, komm runter! Ist schon
alles geklärt, ich geh gleich hoch und räume das weg.“ Davon ist Roth jetzt
richtig abgegessen. Brunella hat wieder einen Idioten gefunden, der ihren
Scheiß klarmacht. Dabei ist Hendrick eigentlich gar kein Idiot, eigentlich
gefällt er Roth ganz gut. Um so schlimmer, dass Brunella ihn rumgekriegt hat,
das Madenfleisch für sie zu entsorgen. Roth hätte es auch gerne, dass er sowas
für sie macht, aber meistens ignoriert er Roth. Brunella nennt sich selbst
Schauspielerin. Roth findet sie eine schlechte Schauspielerin. Sie säuft wie
ein Loch und kriegt nichts auf die Reihe, das ist ihr Beruf. Aber Roth muss
jetzt runterkommen, wer gemocht werden will muss entspannt sein. „Was läuft
eigentlich heute Nachmittag, habt ihr schon was vor?“ „In einer Stunde ist Demo
am Konradsplatz, Nicaragua“, antwortet Marie. Ok. Demo, das ist immer gut. Roth
geht gerne auf Demos. Das ist so sehen und gesehen werden. Ihrer Clique braucht
sie nicht Bescheid zu sagen, die gehen auf keine Demos, besser sie verträgt
sich schnell mit Brunella, Roth braucht eine vertraute Begleiterin.
Beschwingt läuft Roth die Straße entlang Richtung
Konradsplatz. Sie sind alle zusammen in der WG aufgebrochen. Roth mag es am
liebsten, wenn sie in einer großen Gruppe unterwegs ist. Allein oder in einer
kleinen Gruppe fühlt sie sich nackt und muss ständig daran denken, was andere
über sie denken. Hier in der Gruppe fühlt sie sich wohl und schaut schon ganz
interessiert, wie viele Menschen zum Stadtzentrum streben. Eigentlich
ungewöhnlich, eine Demo am Sonntagnachmittag, fällt ihr jetzt erst ein, es
fehlen auch die typischen, kleinen Bullenposten an jeder Straßenecke. Viel Zeit
zum Nachdenken bleibt ihr nicht mehr, sie erreichen den Konradsplatz, es sind
nur wenige Leute. Als hätten sie nur auf Roth und ihre Kollegen gewartet,
kommen die Bullen jetzt von allen Seiten auf den Platz und machen den Kessel
zu. Roth schaut sich um und bekommt eine Gänsehaut, sie findet das geil und
ungeil zugleich. Ein Kessel buntes, Räuber und Gendarm. Roth muss sofort
reagieren, denn innerhalb kürzester Zeit werden die Bullen alles unter
Kontrolle haben. Leider ist es ihr inzwischen unmöglich geworden sich
unauffällig zu verpissen. Mit ihren grünen langen Haaren leuchtet sie wie eine
Ampel, vielleicht ist sie schon auf der Top- 100-Liste und die Bullen wollen
sie unbedingt mal mit Heim nehmen. Hinten links vielleicht, Roth zerrt an
Brunella, beide nehmen noch schnell andere Frauen an der Hand, sie bündeln
sich, werden schneller und brechen gemeinsam durch die „Mauer“, die noch nicht
fertig geformt war. Jetzt schnell auseinander, verschiedene Richtungen, Roth
und Brunella kommen durch eine schmale Gasse zur Kirche und gehen hinein. Die
Zwei sehen nicht wirklich aus wie die typischen Kirchgänger, aber als die Tür
hinter ihnen zufällt, fühlen sie sich in Sicherheit und würden am liebsten laut
loslachen. Mit breitem Grinsen setzen sie sich in die hinterste Reihe und
verschnaufen erstmal. Das war knapp. Keine hat Lust den Sonntagnachmittag in
einer Zelle zu verbringen. Sie werden hier eine Weile sitzenbleiben, denn
draußen könnte immer noch das große Räuber und Gendarm-Spiel abgehen. Brunella
will quatschen, aber Roth mag das nicht. Sie hat Ehrfurcht in Kirchen, sie will
sich in Ruhe umschauen, die Stimmung auf sich wirken lassen. Das erinnert sie
an ihre Jugend, sie war jeden Sonntag in der Kirche, natürlich nicht
freiwillig. Eigentlich erinnert sie sich auch nicht gerne an ihre Kindheit,
aber hier in Sicherheit, ist es heimelig. Dankbarkeit steigt in ihr auf, jetzt
erinnert sie sich, dass sie mal am Gott geglaubt hat, oder immer noch an ihn glaubt.
Das ist aber geheim, alle würden sie für irre halten, wenn sie das sagen würde.
Sie ist jetzt Gott dankbar, dass er die Kirchentür für sie offen hatte.
Eigentlich ist das ein Gebet, aber sie faltet ihre Hände nicht, Brunella soll
nichts davon merken, sie würde sich nicht nur darüber lustig machen, sie würde
es auch überall herausposaunen. Mal wieder merkt Roth, was ihr an ihrer tollen
alternativen Szene nicht gefällt: die Doktrin richtig und falsch ist enger als
im richtigen Leben. Sie denkt ihr heimliches Amen und wischt den anderen
Gedanken schnell wieder weg. Es war immer ihr Wunsch Teil eines großen Ganzen
zu sein, einer Bewegung, wichtige Leute, die die Welt zum Besseren wenden
wollen. Keine Kritik!
Als Brunella anfängt mit ihrem Taschenmesser ihren Namen in
die Kirchenbank zu ritzen, drängt Roth zum Aufbruch. Sie wollen zur
Szenekneipe, dort werden sich jetzt alle sammeln, die den Bullen entkommen
sind. Roth und Brunella laufen einen weiten Umweg am Stadtzentrum vorbei, und
unterhalten sich über Belanglosigkeiten. Roth ist noch beseelt vom „Kirchgang“
und möchte das Gefühl ein bisschen halten. In der Kneipe bestellen sie sich
zwei große Biere, das rundet das Abenteuer ab. Hier muss man gleich bezahlen,
also stellt sich gleich heraus, dass Brunella wieder mal kein Geld dabei hat.
Roth will nicht kleinlich wirken, also bezahlt sie für Brunella mit, aber es
kotzt sie total an, dass Brunella das erst sagt, als das Bier schon dasteht.
Sie setzen sich zu der großen Gruppe, die laut und wild diskutiert. Die Demo
war nicht angemeldet, woher kam eigentlich die Info? War das eine Falle? Wer
ist alles eingewandert, kümmert sich schon jemand? Sind Anwälte informiert? Es
sind immer die gleichen Jungs, die große Reden schwingen. Mit denen möchte Roth
befreundet sein, da möchte sie dazu gehören, sie träumt davon eine große
Anführerin zu sein. Aber diese Typen ignorieren sie. Wahrscheinlich sehen sie
in ihr eine Punk-Frau, die sich jeden Abend zusäuft. Roth ist zwar kein Punk,
aber sonst stimmt es ja schon.
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