Freitag, 16. Januar 2015

IG Farben Roth


Sie wacht auf in ihrem öden Zimmer, in ihrem öden Leben. An die letzte Nacht kann sie sich gut erinnern, war aber auch nichts Besonderes los. Sie macht sich Kaffee, keine Milch, so eine Scheiße. Sie muss runter und bei einer anderen WG klingeln, vielleicht hockt sie sich dort auch einfach hin, trinkt da einen Kaffee und wartet was passiert. Bevor sie runtergeht wirft sie noch einen Blick aus dem Fenster. Mist… da liegt immer noch das komische Fleisch auf dem Fensterbrett, das Brunella für ihren Köter besorgt hat. Roth ist sofort wieder wütend, das Fleisch liegt da schon ewig, Roth schaut nicht genau hin, sonst wird ihr übel, sie weiß auch so, dass das Fleisch wieder lebendig ist. Auf der Treppe zur unteren WG regt sich Roth mal wieder über Brunella auf. Sofort fallen ihr hundert Macken an Brunella ein, aber sie hat schon geklingelt, runterkommen! Sie will ja nicht wütend nach Milch fragen. Roth setzt sich an den Tisch, da sitzen schon einige Leute, die meisten kennt sie, trotzdem ist sie unsicher. Sie will gemocht werden, naja, das geht wohl jedem so, aber Roth braucht viele Zeichen der Zuneigung, bevor sie sich entspannen kann. So einfach „hallo, alles klar, komm rein“, das reicht ihr eigentlich nicht. Jetzt bemerkt sie Brunella, die gerade aus Hendricks Zimmer kommt. Roths Unsicherheit verschwindet sofort, macht ihrer Wut Platz. „Hör mal, du blöde Kuh, was ist eigentlich mit dem Dreck auf der Fensterbank? Außerdem ist keine Milch da und du bist dran mit einkaufen!“ Roth ist es jetzt völlig egal, wie sie ankommt, das unsoziale Verhalten ihrer Freundin geht ihr total auf den Keks. Hendrick nimmt Brunella in Schutz: „Hey, Roth, komm runter! Ist schon alles geklärt, ich geh gleich hoch und räume das weg.“ Davon ist Roth jetzt richtig abgegessen. Brunella hat wieder einen Idioten gefunden, der ihren Scheiß klarmacht. Dabei ist Hendrick eigentlich gar kein Idiot, eigentlich gefällt er Roth ganz gut. Um so schlimmer, dass Brunella ihn rumgekriegt hat, das Madenfleisch für sie zu entsorgen. Roth hätte es auch gerne, dass er sowas für sie macht, aber meistens ignoriert er Roth. Brunella nennt sich selbst Schauspielerin. Roth findet sie eine schlechte Schauspielerin. Sie säuft wie ein Loch und kriegt nichts auf die Reihe, das ist ihr Beruf. Aber Roth muss jetzt runterkommen, wer gemocht werden will muss entspannt sein. „Was läuft eigentlich heute Nachmittag, habt ihr schon was vor?“ „In einer Stunde ist Demo am Konradsplatz, Nicaragua“, antwortet Marie. Ok. Demo, das ist immer gut. Roth geht gerne auf Demos. Das ist so sehen und gesehen werden. Ihrer Clique braucht sie nicht Bescheid zu sagen, die gehen auf keine Demos, besser sie verträgt sich schnell mit Brunella, Roth braucht eine vertraute Begleiterin.
Beschwingt läuft Roth die Straße entlang Richtung Konradsplatz. Sie sind alle zusammen in der WG aufgebrochen. Roth mag es am liebsten, wenn sie in einer großen Gruppe unterwegs ist. Allein oder in einer kleinen Gruppe fühlt sie sich nackt und muss ständig daran denken, was andere über sie denken. Hier in der Gruppe fühlt sie sich wohl und schaut schon ganz interessiert, wie viele Menschen zum Stadtzentrum streben. Eigentlich ungewöhnlich, eine Demo am Sonntagnachmittag, fällt ihr jetzt erst ein, es fehlen auch die typischen, kleinen Bullenposten an jeder Straßenecke. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt ihr nicht mehr, sie erreichen den Konradsplatz, es sind nur wenige Leute. Als hätten sie nur auf Roth und ihre Kollegen gewartet, kommen die Bullen jetzt von allen Seiten auf den Platz und machen den Kessel zu. Roth schaut sich um und bekommt eine Gänsehaut, sie findet das geil und ungeil zugleich. Ein Kessel buntes, Räuber und Gendarm. Roth muss sofort reagieren, denn innerhalb kürzester Zeit werden die Bullen alles unter Kontrolle haben. Leider ist es ihr inzwischen unmöglich geworden sich unauffällig zu verpissen. Mit ihren grünen langen Haaren leuchtet sie wie eine Ampel, vielleicht ist sie schon auf der Top- 100-Liste und die Bullen wollen sie unbedingt mal mit Heim nehmen. Hinten links vielleicht, Roth zerrt an Brunella, beide nehmen noch schnell andere Frauen an der Hand, sie bündeln sich, werden schneller und brechen gemeinsam durch die „Mauer“, die noch nicht fertig geformt war. Jetzt schnell auseinander, verschiedene Richtungen, Roth und Brunella kommen durch eine schmale Gasse zur Kirche und gehen hinein. Die Zwei sehen nicht wirklich aus wie die typischen Kirchgänger, aber als die Tür hinter ihnen zufällt, fühlen sie sich in Sicherheit und würden am liebsten laut loslachen. Mit breitem Grinsen setzen sie sich in die hinterste Reihe und verschnaufen erstmal. Das war knapp. Keine hat Lust den Sonntagnachmittag in einer Zelle zu verbringen. Sie werden hier eine Weile sitzenbleiben, denn draußen könnte immer noch das große Räuber und Gendarm-Spiel abgehen. Brunella will quatschen, aber Roth mag das nicht. Sie hat Ehrfurcht in Kirchen, sie will sich in Ruhe umschauen, die Stimmung auf sich wirken lassen. Das erinnert sie an ihre Jugend, sie war jeden Sonntag in der Kirche, natürlich nicht freiwillig. Eigentlich erinnert sie sich auch nicht gerne an ihre Kindheit, aber hier in Sicherheit, ist es heimelig. Dankbarkeit steigt in ihr auf, jetzt erinnert sie sich, dass sie mal am Gott geglaubt hat, oder immer noch an ihn glaubt. Das ist aber geheim, alle würden sie für irre halten, wenn sie das sagen würde. Sie ist jetzt Gott dankbar, dass er die Kirchentür für sie offen hatte. Eigentlich ist das ein Gebet, aber sie faltet ihre Hände nicht, Brunella soll nichts davon merken, sie würde sich nicht nur darüber lustig machen, sie würde es auch überall herausposaunen. Mal wieder merkt Roth, was ihr an ihrer tollen alternativen Szene nicht gefällt: die Doktrin richtig und falsch ist enger als im richtigen Leben. Sie denkt ihr heimliches Amen und wischt den anderen Gedanken schnell wieder weg. Es war immer ihr Wunsch Teil eines großen Ganzen zu sein, einer Bewegung, wichtige Leute, die die Welt zum Besseren wenden wollen. Keine Kritik!

Als Brunella anfängt mit ihrem Taschenmesser ihren Namen in die Kirchenbank zu ritzen, drängt Roth zum Aufbruch. Sie wollen zur Szenekneipe, dort werden sich jetzt alle sammeln, die den Bullen entkommen sind. Roth und Brunella laufen einen weiten Umweg am Stadtzentrum vorbei, und unterhalten sich über Belanglosigkeiten. Roth ist noch beseelt vom „Kirchgang“ und möchte das Gefühl ein bisschen halten. In der Kneipe bestellen sie sich zwei große Biere, das rundet das Abenteuer ab. Hier muss man gleich bezahlen, also stellt sich gleich heraus, dass Brunella wieder mal kein Geld dabei hat. Roth will nicht kleinlich wirken, also bezahlt sie für Brunella mit, aber es kotzt sie total an, dass Brunella das erst sagt, als das Bier schon dasteht. Sie setzen sich zu der großen Gruppe, die laut und wild diskutiert. Die Demo war nicht angemeldet, woher kam eigentlich die Info? War das eine Falle? Wer ist alles eingewandert, kümmert sich schon jemand? Sind Anwälte informiert? Es sind immer die gleichen Jungs, die große Reden schwingen. Mit denen möchte Roth befreundet sein, da möchte sie dazu gehören, sie träumt davon eine große Anführerin zu sein. Aber diese Typen ignorieren sie. Wahrscheinlich sehen sie in ihr eine Punk-Frau, die sich jeden Abend zusäuft. Roth ist zwar kein Punk, aber sonst stimmt es ja schon.

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