Sonntag, 25. Oktober 2015

Der rote Mond Vater und Tochter


Das ist eine komische Zeit, danach. Erika ist hauptsächlich damit beschäftigt aufrecht zu bleiben. Die Situation in der Schule, zum Beispiel, ist schwierig. Erika verschläft ständig, ihre Mutter hatte eben immer dafür gesorgt, dass sie aufsteht. Ihr Klassenlehrer ist großzügig und mitfühlend, warum weiß er davon? Erika hat Nachwehen von ihrer Krankheit, sie kann sich nicht konzentrieren, sie stottert ein bisschen.
 Einmal will sie zu einer Fete nach Göttingen, übers Wochenende. Sie fragt ihren Vater um Erlaubnis, er sagt nein. Jetzt muss sie ja dableiben, danach fragt sie ihn nie wieder. Sie macht einfach, was sie will, das ist das Übliche: manchmal wegfahren, viel ausgehen und so. Manchmal kauft sie ein, oder macht Essen für sich und ihren Vater. Das sind seltene Momente, wenn sie mit ihrem Vater zusammen sitzt, sie sich unterhalten, richtig freundlich, eigentlich zauberhaft. Da sind Chancen, aber Erika nimmt sie nicht auf. Ihr Vater ist abhängig von ihr, er ist sich dessen bewusst, deswegen ist er freundlich, Erika kapiert das nicht, sie weiß schon von seiner Abhängigkeit, fühlt ihre Macht, aber die Chance, die das birgt, kann sie nicht sehen. Fürsorglich ist sie nicht, das sind nur seltene Anfälle bei ihr. Sie lässt ihren Vater am langen Arm verhungern. Otto kommt oft. Er kümmert sich, sonst hätte man den Vater wohl irgendwann als vertrocknete Mumie in seinem Büro aufgefunden. Abends ist sie selten zu Hause, der Vater geht früh schlafen, Erika aus Prinzip nicht. Ihr Vater hat Albträume, er schläft im Zimmer neben ihr. Sie hört ihn laut schreien: „Ich sehe dich, du Dieb! Raus aus meinem Haus, ich habe eine Waffe…“ Erika läuft zu ihrem Vater ins Zimmer. Er liegt zitternd im Bett, mit geschlossenen Augen, heftig am ganzen Körper vor Angst schlotternd schreit er immer noch den Dieb an. Jetzt ist Erika voller Mitgefühl, sie fasst seine Hand und redet beruhigend auf ihn ein. Ihr Vater wird davon nicht wach, aber sein Traum verändert sich offensichtlich, sein Schimpfen wird leiser, das Schlottern weniger. Erika streichelt weiter seine Hand und redet beruhigenden Blödsinn. Ihr Vater brummt noch einige Male, dann dreht er sich um, seufzt und schläft ruhig weiter. Erika geht zurück in ihr Zimmer und wundert sich über ihre Macht. Nein, es ist nicht die Macht, über die sie sich wundert, die Macht ist ihr klar. Sie war so mitfühlend und sie konnte ihren Vater eben lieb haben, das ist das Verwunderliche, aber sowas will sie nicht spüren, sie schließt das ein, in eine kleine Schublade, den Schlüssel schmeißt sie ins Klo.
Bald sind Sommerferien. Erika und Fatma wollen zusammen nach Frankreich. Einfach los, mit dem Daumen im Wind. Erika plant das, sie war im letzten Sommer mit ihrem Cousin so unterwegs, das ging ganz gut, jetzt soll es mit Fatma sein, das wird super. Sie fahren zusammen nach Hannover, Fatma braucht einige Sachen für so eine Reise. Erika ist die richtige Spezialistin dafür: sie kann gut klauen, macht es schon lange, ist noch nie erwischt worden und fühlt sich großartig mit dieser Fähigkeit. Als erstes trägt Erika einen großen Rucksack aus einem Geschäft. In den folgenden Läden steckt Erika Isomatte, Schlafsack und andere nützliche Gegenstände ein. Vor dem Laden wird alles in den Rucksack umgefüllt , den Fatma geschultert hat und ab geht es in das nächste Kaufhaus. Fatma trägt den Rucksack wie ein Ackergaul durch Hannovers Innenstadt, sie macht dazu die entsprechenden Geräusche, bläst die Wangen auf und lässt ihre Lippen aufeinander flattern. Erika könnte sich wegschmeißen. Fatma überrascht sie oft mit ihrem Witz, eigentlich meint Erika, dass sie für alles Witzige zuständig ist. Aber das ist natürlich Unsinn. Hier findet sich eine weitere Besonderheit ihrer Freundschaft: die Rollen sind nicht so fest fixiert. Als letztes, die Kür sozusagen, kommen noch einige hübsche Sommersachen in den Sack und dann fahren sie wieder nach Hause. Die beiden sitzen aufgekratzt in dem Zug und reden über den bevorstehenden Urlaub. Sie sind beide schon 18, wer soll ihnen noch was verbieten. Ein Meilenstein, Fatmas Ausrüstung, ist abgearbeitet, sie haben kein Geld ausgegeben, abgesehen vom Fahrpreis für den Bummelzug. Sie fühlen sich großartig und kichern die ganze Fahrt über.

Wenige Tage später ist es soweit, sie wollen los. Fatma ist nicht rechtzeitig da, das ist ärgerlich, aber typisch, Verabredungen mit Fatma sind… sagen wir… flexibel! Erika wischt den aufkommenden Ärger beiseite und geht eben rüber zu Fatma. Sie findet Fatma noch im Bett. Sie sieht schlecht aus. „Papa hat  gestern Abend auf mich eingeschlagen, mit einem Schuh hat er mich verprügelt. Erika! Ich habe Blut gespuckt!“ Jetzt sieht Erika die Blutflecken auf Fatmas Bettdecke. Ihr Ärger über Fatmas Unpünktlichkeit weicht unbändigem Hass auf Fatmas Vater. Wie kann ein Mann sowas seiner eigenen Tochter antun?! Eigentlich möchte Erika Fatma überreden trotzdem mit ihr loszufahren. Erika hat sich sosehr auf die Fahrt gefreut. Die Enttäuschung, die sie jetzt empfindet ist riesig und die Vorstellung, die Ferien zu Hause zu verbringen, ist trostlos. Aber sie schiebt ihre Gefühle beiseite, ihre Freundin braucht sie jetzt. Der Rest ist nicht wichtig

Samstag, 17. Oktober 2015

Der rote Mond Persistierende Einsamkeit


 Erika hatte doch so erfolgreich gebastelt: aus ihrer kleinen Schaukel über dem Abgrund ist ein gut geflochtenes Netz geworden. Es sieht so aus, als könne sie waghalsige Sprünge machen, so wie Artisten am Ende ihres Hochseilakts, wenn sie zum letzten Sprung in das Netz ausholen. Doch ab und an passiert noch das Andere. Wenn sie allein ist, mit sich nichts anfangen kann, Stille kommt erschwerend dazu: dann schmiert sie ab. Der alte, erschreckende Köpper ist immer noch da. Da scheint es kein Entrinnen zu geben. Ihr Leben ist so laut, sie hat Freunde, viele Freunde, sie hat Fatma, die ihr soviel Halt gibt, sie hat eine große Familie- naja, die sind doch meistens nicht da, auch wenn sie körperlich anwesend sind. Sie rennt in Kneipen, ist bei jeder Feier dabei, auch wenn sie nicht eingeladen ist und doch ist das immer noch möglich.
Sie kommt langsam ins Rutschen, dann tut sich der Abgrund auf: es ist eine glatte Fläche, steil bergab, keine Unebenheit, sie möchte um Hilfe schreien, aber sie hat einen trockenen Keks im Mund, an den Krümeln wird sie ersticken, wenn sie ruft. Sie gleitet ohnmächtig in den Abgrund. Sie kommt an in einem dunklen Raum. Sie steht da, gefangen und bewegungsunfähig, sie kann keine Wände oder Grenzen ausmachen, sie kann gar nichts machen. Da ist nur Schrecken. Sie würde gerne fliehen, aber sie kann sich nicht rühren, sie ist ohnmächtig vor Erschrecken, dass sie hier wieder gelandet ist.


In diesem Zustand kann sie keinen Kontakt aufnehmen. Am ehesten noch zur Welt. Wenn es ein verhangener Herbsttag ist, die Wolken so tief hängen, dass sie fast den Boden berühren, wenn die Feuchtigkeit steht, wie ein kalter Umhang, ruhig, als würde alles immer so bleiben, dann kann sie sich mit der Welt zusammen fühlen. Wenn es aber ein klarer Tag ist, wohlmöglich keine Wolke am Himmel, stahlblau, weit weg und endlos, dann fühlt sie sich so verloren. Sie geht verloren in der Weite. Überall geht sie verloren, auch in ihren Träumen, auch in den Märchen aus ihrer Kindheit. Der Held zieht aus ans Ende der Welt. Was ist am Ende der Welt? Sie kippt runter ins Nichts. Ist sie da nicht gerade? Ist das wirklich ein dunkler Raum, ohne Wände, oder ist sie in diesem undefinierten Nichts gelandet, ein blinder weißer Zustand. Kontakt ist unmöglich, das Telefon hat keine Funktion. Sie kann auch nicht zu Fatma rübergehen, das ist unvorstellbar in diesem Dasein, sie kann sich nicht vermitteln, sie ist bloß und nackt, so kann sie nicht aus dem Haus, das ihr keine Sicherheit gibt, sondern Teil des Abgrunds ist. Was geht ist fernsehen. Laute Ablenkung kann helfen. Aber wenn das Programm nichts hergibt und sie in ihrer Not „Robi, Tobi und das Fliwatüt“ schaut, dann wird nach 20 Minuten alles noch schlimmer. Wie auch immer, wenn sie den Fernseher ausstellt ist sie immer noch dort. Es ist nur entsetzlich, sie kann sich da nicht einrichten. Sie kann nicht erkennen, dass der Abgrund ein großer Teil von ihr ist. Sie fühlt sich zwar nicht fremd hier, aber es bleibt unwillkommen und Flucht ist der einzige Impuls, aber leider nicht möglich. Inzwischen ist ihr Denken ihrem Fühlen hier runter nachgefolgt. Damit sind Handlungsansätze verfügbar. Sie geht ins Bad und sucht sich eine Rasierklinge von ihrem Vater. Ängstlich und zögernd versenkt sie die Klinge in ihrer Haut am linken Handgelenk. Es brennt, das ist aber nicht das Einzige, was sie hindert weiter zu schneiden. Sie ist feige, sie ist ängstlich. Sie erinnert sich, wie sie als Kind zur Küchenschublade gegangen ist. In der offenen Lade betrachtete sie die großen Messer. Sie überlegte, welches Messer sie sich in das Herz rammen würde. Das Bild war ihre trauernde, reuige Familie rund um ihr Grab. Sie wollte ihre Liebe sehen. Sie wollte sehen, dass sie wichtig ist. Ist das jetzt anders? Sie würde ihrer Verlorenheit gerne Ausdruck geben. Aber sie ist gar nicht definitiv Lebensmüde, sie will immer noch eigentlich nur sehen, dass sie wichtig ist. Wenn sie jetzt richtig schneidet, was sie sich wahrscheinlich gar nicht traut, das ganze Gedöns, das könnte auch peinlich enden. Also bleibt es bei dem kleinen Schnittchen, zwei Tropfen Blut fallen ins Waschbecken, die bewundert sie eine Weile, dann sucht sie sich ein Pflaster. Musik könnte helfen. Das Gezupfe von Andreas Vollenweider, das legt sie jetzt auf. Die Musik passt und passt nicht. Da hört sie soviel Lebensfreude, soviel Anteil an der schönen Welt. Sie steht hier in dem vertrauten Wohnzimmer, jetzt kann sie ein paar Tränchen rausdrücken, aber das ist auch nicht das Richtige. Das Gefühl ist nicht zu beweinen und es gibt auch keinen Trost. Das Schlimme ist, dass alles sich ganz schlimm anfühlt, aber irgendwie so unklar ist. Deswegen kann ihr ihr Verstand auch so wenig helfen. Hach…schwierig. Was bleibt? Sie geht aus dem Haus, spazieren. Hoffentlich sind nicht allzu viele Menschen unterwegs, sie ist immer noch nicht bereit für Begegnungen. Aber wie so oft braucht sie ein bisschen Bewegung um ihr Gemüt zu beruhigen. Den Boden unter den Füssen bei jedem Schritt wahrnehmen, die Luft spüren, die Welt hören. Sie ist da, sie spürt ihre Fingernägel in ihren Handflächen, sie spürt die Frische der Welt, sie sieht wie die Wolken orange werden. Der Abend…, bis zu ihrem Lebensabend ist wohl noch lang. Sie geht jetzt einfach mal und bestaunt die so bekannte Welt und vielleicht sieht sie sogar was Neues und vielleicht kann sie nachher, wenn sie zurückkommt, noch bei Fatma reinschauen.

Sonntag, 11. Oktober 2015

Der rote Mond Der Tag X


Otto ist schon seit längerer Zeit ausgezogen, er lebt in Hannover. Er ist nicht verloren, er kommt häufig vorbei, aber im Alltag ist sie allein mit den beiden Alten, Scheintoten, Untoten, es ist so trostlos. Hier, beim Mittagessen, streiten die Zwei. Es geht um Erikas Führerschein, Erika spricht ja schon lange nicht mit ihrem Vater, sie überlässt es ihrer Mutter für ihre Interessen zu streiten. Erika spürt ihre Feigheit, will das aber nicht wahrhaben, also hört sie lieber interessiert zu, wie ihre Mutter ihre Interessen vertritt. Der Streit verläuft in den üblichen Bahnen, die Zwei offenbaren ihre Lieblosigkeit zueinander, es wird um Prinzipien gestritten, das Geld ist ja da.
Plötzlich ist Erika berührt, es gibt keinen besonderen Anlass, Erika war schon hundertmal dabei, wenn ihre Eltern streiten, aber jetzt ist sie schockiert. „Das ist ja furchtbar, wie ihr Zwei miteinander umgeht!“ Sagt sie mit brüchiger Stimme und vom Entsetzen verzerrtem Gesicht, während sie vom Mittagstisch vorzeitig aufsteht um in ihr Zimmer zu rennen. Heulend schlägt sie die Tür zu, macht laut Musik an, setzt sich auf ihr Bett und überlässt sich ihren Gefühlen. Sie ist noch ganz mit sich, vordergründig mit ihren Eltern, beschäftigt, haltlos weinend, als ihre Mutter hereinkommt. Die Mutter schreit gegen die Musik an „Kind, was ist denn, was ist denn los?“ „Ich weiß auch nicht, das macht mich gerade so fertig, wie ihr miteinander redet…“ schreit Erika und macht endlich die Musik leiser. Sie weint weiter laut schluchzend, die Situation wird absurd, die Mutter fängt auch an zu weinen, beide weinen aus Mitgefühl mit der Anderen. „Was bin ich für eine schlechte Mutter, dass ich meine Tochter nicht trösten kann.“ Erika meint dass es hier nicht mehr weitergeht, sie sagt: „lass mal, Mutter, ich fahr zu meinem Freund.“ So beendet Erika die Situation und verlässt das Haus. Ihre Mutter wird sich zum Mittagsschlaf hinlegen, wie es ihre Gewohnheit ist.
Bei ihrem Freund kann Erika die Sache mit ihren Eltern schnell beiseite schieben. Nicht, weil sie ihrem Freund so zugetan ist, sondern, weil es dort so lebendig ist. Die Familie sitzt noch beim Mittagessen als sie dort ankommt. Ihr Freund hat jüngere Geschwister, Erika setzt sich dazu, alle reden freundlich miteinander. Später räumen alle zusammen die Küche auf, Erika will sich einreihen, bekommt aber keine Aufgabe, sie steht nutzlos im Türrahmen und schaut dem Treiben zu. Ihr Freund ist ganz nett, naja, solala, sie nennt das Beziehung, eigentlich ist das nur eine Bekanntschaft. Das ist schon bezeichnend, wie sie da im Türrahmen steht: die Familie lässt sie nicht richtig rein, auch ihre Beziehung geht nicht richtig ab, sie kommen nicht in die Tiefe, in Erikas Kopf schlummert die Frage, wie sehr das wohl an ihr liegt. Das Telefon klingelt, erstaunlicherweise ist es für Erika. Verwundert nimmt Erika den Hörer. Es ist Corinna: „Erika! Deine Mutter hat Tabletten geschluckt und ist auf dem Weg ins Krankenhaus, komm mal nach Hause!“
Ihr Freund hat ein Mofa. Erika hängt mit einer Hand an seiner Schulter die andere Hand am Lenker. So kommt sie mit ihrem Fahrrad schnell und ohne Anstrengung nach Hause. Den ganzen Weg über redet sie laut mit sich selbst: „das Schwein…“, „der Arsch“, „so ein Arschloch“

SIE GIBT IHREM VATER ALLE SCHULD

Zuhause wartet Corinna und erzählt ihr alles was sie weiß. Der Vater wollte um halb drei Kaffee trinken, aber die Mutter war nicht auf. Er ging zu ihrem Zimmer, aber es war abgeschlossen. Also klopfte er und sagte ihr durch die Tür, dass es Kaffeezeit ist und sie jetzt aufstehen muss. Da sie nicht reagierte, klopfte und rief er immer lauter. Erikas Vater bleibt dran, bei was immer er tut. Er klopfte und rief; und rief und schimpfte und klopfte; und er hätte wohl auf seine alten Tage auch noch die Tür eingetreten, aber das war nicht nötig. Die Mutter stand irgendwann auf und öffnete, legte sich aber gleich wieder hin. Der Vater sah die vielen leeren Tabletten Schachteln und rief gleich den Krankenwagen. Corinna hat aus ihrem Fenster den Krankenwagen gesehen und ist gleich rübergerannt um zu schauen, was los ist. Jetzt geht sie wieder nach Hause, der Vater ist mit ins Krankenhaus gefahren, Erika ist allein.
Die Brüder kümmern sich, Erika ist mal wieder die Kleine, sie fährt auch einmal mit ins Krankenhaus, aber sie muss abseits warten, während ihr ältester Bruder mit der Mutter spricht. Die Mutter verschwindet direkt aus dem Krankenhaus nach Köln, zu ihrer Schwester. Dort bleibt sie. Manches wird Erika erzählt, den Rest puzzelt sie sich alleine zusammen. Sie kommt der Wahrheit wahrscheinlich recht nah: Die Mutter hat sich zum Mittagsschlaf hingelegt, wie es ihre Gewohnheit ist. Aber sie war in einem ungewohnten Zustand. Sie haderte mit sich und ihrem Leben. „Was bin ich für eine schlechte Mutter, dass ich meine Tochter nicht trösten kann…“ Damit ist sie allein in ihr Zimmer gegangen und da hat sie weitergemacht, hart mit sich im Gericht, untröstlich. Das Leben vertan, nichts richtig gemacht, eine Aneinanderreihung falscher Entscheidungen…und so weiter. Irgendwann hat sie ihre Schlaftabletten zusammen gesucht und alles geschluckt was da war….und dann kam der Vater und hat geklopft…


Das ist jetzt ein neues Leben: Vater und Tochter allein in einem großen Haus. Nach kurzer Zeit wird Erika krank, Gehirnhautentzündung, sie kommt ins Krankenhaus, dort bleibt sie erst mal für drei Wochen. So löst man keine Probleme, aber es ist ein Aufschub. Sie kommt zurück in die gleiche Situation, sie ist allein mit ihrem Vater

Montag, 5. Oktober 2015

Roter Mond


Fatma und Erika, Erika schaut sich das gerne an. Da gibt es doch diese Geschichte von Aristoteles, oder war es Platon? Egal. Der Mensch, ursprünglich als Kreis, dann zerbrach er und nun sind die zwei Teile immer auf der Suche nacheinander. Fatma und Erika haben sich gefunden! Erika fühlt sich rund und voll, wenn sie an Fatma denkt, oder mit ihr zusammen ist. Die Unterschiede sind auch so faszinierend, Fatmas Herkunft, ihre Eltern, da gibt es viel zu bedenken. Erika hat eine ganz eigene Philosophie über Menschen: sie sind ein Puzzle. Da gibt es die Kinderpuzzle mit 100 Teilen, da gibt es die Tausender, die sind die Regel und es gibt Zehntausender. Sie  hält sich für ein 10000 er, Fatma ist ganz sicher einer und Erika puzzelt gerne. Jede noch so kleine Information, die sie von Fatma bekommt, wird zum Puzzlestein und vielleicht schon einsortiert. Erika kann die großen Löcher in dem Bild gut aushalten und hat viele Steine am Rand liegen.
Eva, die Mutter, der Hammer! Sie ist engstirnig, irgendwie kleingeistig, dabei trotzdem lebensklug. Wie das geht versteht Erika nicht, sie ist immer wieder verblüfft von Eva. Eigentlich findet sie Eva ja doof und dann muss sie doch anerkennend zurücktreten um Eva Platz zu machen. Diese Energie, so lebensfreudig, Eva baut ihren Weg mit Kopfsteinpflaster. Sie ist emsig dabei, schaut zuweilen stolz auf das Erreichte, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, geht sie beherzt an.  Der Vater, er sieht aus wie der 1a-Türke: dunkle Haare, großer, dunkler Schnurrbart, drahtig, samstags liegt er unter seinem 200er- Bauern-Mercedes, um ihn in Schuss zu halten. Er ist sehr zugeschlossen, Erika kann sich nur ein Bild von ihm machen, weil Fatma von ihm erzählt und sie hört das Gezänk, sein türkischer Bass dröhnt zwischen den schrillen Tönen von Eva. „Mama sagt, Sex ist das Wichtigste in einer Ehe.“ Der Satz ist von Fatma und verwirrt Erika noch mehr. Das sind doch alte Leute, warum haben die noch Sex und wie geht das mit dem vielen Streit. Dann ist da noch die Gewalt. Fatma wird gezüchtigt, wenn sie sich nicht fügt. Fatma hat einen unglaublichen Willen und bietet ihrem Vater immer wieder die Stirn, nimmt die Züchtigung in Kauf. Wenn Fatma Erika ihre Blessuren zeigt, spürt Erika nur Hass. Sie will Fatma schützen, fühlt Ohnmacht und schimpft endlos. Erika versucht Beistand zu leisten, indem sie Fatmas Eltern klein macht, sich herablassend über sie äußert, oder einfach Hasstiraden loslässt. Fatma lässt Erika labern, vielleicht tut ihr das gerade gut.

Oft hört Erika auch Stolz aus Fatmas Worten über ihre Eltern. Ja, es ist schon irgendwie nachvollziehbar, dass Fatma auf ihren Vater stolz ist. Er hat sich voll etabliert in der Gesellschaft, man könnte denken, er hat sich angepasst. Studium in Deutschland, guter Job, viele Freunde, die Ehefrau, die er liebt, zwei Kinder, die weitgehend auf der Spur sind. Soweit sieht das sehr gut aus. Dabei ist er aber auch er selbst geblieben und geht seinen eigenen, gut überlegten Weg zwischen Orient und Okzident. Die Gewalt an Fatma hindert Erika das zu bewundern. Acar pickt aus beiden Kulturen das für ihn Richtige heraus und lebt damit sein Leben. Fatma kann das an ihrem Vater sehen und anerkennen. Sie ist stolz auf ihn. Sie ist auch stolz auf ihre Mutter, auf deren Klugheit. Erika meint ja, dass Evas Gehirn höchstens die Größe einer Walnuss hat, manchmal stimmt Fatma ihr da zu und manchmal äußert sie sich eben doch stolz über ihre Mutter. Fatmas Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt, Fatma ist auch in Deutschland geboren. Dann haben sie aber doch erstmal einige Jahre in Istanbul gelebt. Erika mag das sehr, wenn Fatma von dieser fremden Welt erzählt. Eva hat damals mit ihrer Familie bei den Schwiegereltern im Haus gelebt. Das ist eine von Evas großen Stärken: aus widrigen Umständen das Beste machen, sich einfinden in ein System, in einer fremden Kultur. Sieben Jahre lang waren sie in Istanbul und es ist Eva zu verdanken, dass Fatma dann in Deutschland direkt ins Gymnasium gekommen ist. Sie hat Fatma gezwungen jeden Abend in der deutschen Fibel zu lesen.
Da ist aber nicht nur Stolz, Fatma ist mit ihren Eltern in Liebe verbunden und sie ist natürlich auch ein junges Mädchen, das in Deutschland heranwächst, ganz normal pubertär. Sie hat  Mittel und Wege gefunden, ihre Eltern zu leimen, wie mit den Kaffeebohnen, zum Beispiel. Ihr Familienleben spielt sich auf einem hohen Energielevel ab.
Erika vergleicht.
Die Energie bei ihr Zuhause scheint deutlich weniger, irgendwie ist alles viel subtiler. Ob subtil der richtige Ausdruck dafür ist? Oder ist es sublim? Oder einfach alt? Erikas Vater könnte Acars Vater sein, Erikas Vater ist einfach alt. Wenn die großen Brüder manchmal Geschichten erzählen, wie der Vater sich früher aufgeführt hat, dann ist Erika schon ganz zufrieden, dass er inzwischen einen schweren Herzinfarkt hatte und sich nicht mehr so aufregen darf.
 Sonntags, nach dem Mittagessen, passiert es, dass Alle sitzenbleiben müssen, weil der Vater von früher erzählen will. Erika kann diese Geschichten nicht interessiert anhören, weil sie sich so gezwungen fühlt. Er war als junger Mensch ein Draufgänger, amüsiersüchtig, lebenslustig. Von dieser Zeit, noch vor dem zweiten Weltkrieg, erzählt er gern. Wie sie damals, bevor sie zum Trinken und Feiern los wollten, erstmal eine Dose Ölsardinen aufgemacht haben. Nachdem sie die Ölsardinen gegessen haben, haben sie das Öl getrunken, nur damit sie mehr und länger trinken können. Wie sie in Friedrichshagen unterwegs waren, Köpenick unsicher gemacht haben, solche Geschichten. Wenn Erika mit ihrer Mutter einen alten Film im Fernsehen anschaut, dann sagt die Mutter manchmal: „guck mal, mit der Schauspielerin war dein Vater mal zusammen.“ Er war ein Hans Dampf in allen Gassen. Dann kamen die Nazizeit und der Krieg. Die Geschichten von der Zeit sind irgendwie schemenhaft. Er war wohl in Jugoslawien, hat da Fabriken gebaut. Für wen? Für die kroatischen Nazis? Da war doch auch Krieg, Kollaborateure, Widerständler, auch dort wurden Juden ausgerottet. Erika guckt mit ihren Eltern „Holocaust“ im Fernsehen. Der Vater scheint schockiert, er hat von alldem nichts gewusst, er war doch im Balkan. Die Mutter sagt „ja, ja.“ Erika kann sich keinen Reim darauf machen. Eine Auseinandersetzung geht anders, welche Rolle hatte ihr Vater? Kann er wirklich so unwissend gewesen sein, oder will er etwas für sich behalten? Erikas Interesse für ihren Vater ist so gering, dass sie nicht nachhakt.
Dann doch lieber die Mutter. Das kann Erika gut gebrauchen. Die Mutter ist ja protestantische Pastorentochter, bekennende Kirche, christlicher Widerstand. Das ist eine Herkunft, auf die kann Erika sehr stolz sein, aber ihre Mutter hindert sie daran und spricht von der allgemeinen, deutschen Schuld. Erika darf nicht aufs Podest und sich rühmen, aber so im Nebensatz kann sie das schon mal erwähnen, Bonhoeffer und so. Die Mutter ist sehr eindringlich: „wir alle tragen die Schuld.“ Das Thema ist für Erika besonders wichtig, immer wieder denkt sie darüber nach. Wie konnte das passieren? Welche Position würde sie einnehmen, wenn sowas wäre, würde sie „Heil Hitler“ brüllen? Sie träumt davon, dass sie im Widerstand wäre, das ist ja auch der Kontext aus dem sie kommt, aber sicher ist sie sich nicht. Der Holocaust, das ist ein Thema, das sie ganz nah an sich heranlässt. Da muss man hinspüren, meint sie, vielleicht ist es doch zu groß für sie, zum Spüren. Jedenfalls ist sie ganz und gar betroffen und ganz stolz auf ihre Herkunft, ihre Mutter, ihren Großvater, den sie nie kennengelernt hat, der aber auf dem Photo so ernst und freundlich aussieht.

Natürlich macht Fatmas Beziehung zu ihren Eltern einen Teil des Puzzles aus, an dem Erika bastelt. Bemerkenswert ist, wie viele unterschiedliche Gefühle Fatma zu ihren Eltern hat, sie gibt Erika immer wieder neue Steine in die Hand. Erika bastelt, gleichzeitig ist sie bemüht Fatma das nicht merken zu lassen, Fatma möchte nicht durchschaut werden, vom Durchschauen ist Erika allerdings noch weit entfernt und wird dieses Bestreben auch irgendwann aufgeben. Erika will sehen, sie will eine aufmerksame Zuhörerin sein, sie will Fatma einen guten Spiegel zeigen, das Bild soll Fatma nicht zu sehr reduzieren. Fatma ist ja wild, das findet Erika toll, manchmal aber auch beängstigend. Mit Kritik muss sie sehr vorsichtig sein. Dazu hat sie sich was Gutes überlegt, das klappt bisher hervorragend: wenn sie Fatma etwas über sie sagen will, was vielleicht nicht so toll ist, dann schickt sie viel Anerkennung voraus. Sie sagt also zum Beispiel: „weißt du, Fatma, was ich gut an dir finde, ist 1. blabla… außerdem 2. blabla… und dann kommt noch dazu , dass du 3. blabla… Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass deine ….blabla…vielleicht nicht so gut ist. So schützt Erika sich und wird gleichzeitig ihrem Anspruch an sich gerecht. Sie will eine gute Freundin sein, das hat viele Aspekte. Einer davon ist Ehrlichkeit, dass man auch mal was Negatives sagt, Kritik übt. Aber Erika hat auch Angst vor der wilden Indianerin mit dem Giftpfeilköcher, die in Fatma immer mal durchscheint. Die Pfeile dürfen schon gerne mal abgeschossen werden, aber bitte nicht auf Erika. Also balsamiert sie Fatma fett ein, bevor sie ihr Kritiklein abgibt. Fatma nimmt das so gerne hin, sie suhlt sich in der fetten Anerkennung und hat gleichzeitig die Ohren offen, um die Kritik noch zu hören. Sie fühlt sich nicht angegriffen, die Waffen ruhen, sie fragt nach und setzt sich mit Erika und ihrer Kritik auseinander.
Fatma und Erika haben unendlich viele Themen, das Gespräch ist eigentlich nie langweilig. Sie reden zum Beispiel gerne über Philosophie, Erika mag das sehr. Fatma hat Geschichte Leistungskurs, da wurden die griechischen Philosophen sehr ausgebreitet. Erika hat nur ganz privates Wissen über Philosophie, einfach weil sie gerne über das Leben nachdenkt, auch über die Menschen und warum wohl alles so ist, wie es ist. Dabei hat sie natürlich kein einziges Buch in die Hand genommen. Ohne den Begriff zu kennen, diskutiert sie den kategorischen Imperativ, das Moralkonzept aus ihrer Muttermilch. Fatma kann ihr angelesenes Wissen unaufdringlich erläutern, so kommen griechische und preußische Philosophie in den Vergleich. Das Thema macht beiden immer wieder Spaß. Auch über die neue deutsche Geschichte reden die Zwei. Bei diesem Thema wird Erika sehr emotional, ihre Herkunft, ihre Betroffenheit, sie diskutiert sehr eindringlich. „Wir sind verantwortlich, dass sowas nie wieder passiert. Fatma, sechs Millionen Juden wurden in Europa ausgerottet, das ist doch unfassbar…und alle behaupten, sie hätten davon nichts gewusst. Alle haben sich schön eingerichtet in dem System, warum sind sie nicht an ihre innere moralische Grenze gestoßen, wenn nebenan die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden? Nein, sie haben das Haus noch schnell zum Vorzugspreis gekauft! Innere Verrohung als Gemeinschaftsprojekt! Was waren das für Mechanismen, die da gewirkt haben? Aus aufrichtigen Menschen sind Kakerlaken geworden, die sich gegenseitig auffressen. Das Alles macht mich so fertig und ich stecke in der Schuld fest.“
 „Dann mach dich doch frei von der Schuld! Du hast damit doch gar nichts zu tun. Es geht doch darum, sich im Jetzt umzuschauen und darauf zu achten, dass sowas nicht wieder passiert, wie du eben ja selbst schon gesagt hast!“
„Nein! Wir müssen da ganz genau hinschauen: was ist passiert, wie konnte das passieren. Keine Distanz! Juden wurden ja schon vorher jahrhundertelang diskriminiert, da wurde von den Nazis ein Weg geteert, der schon lange ausgetreten war. Wie ist eigentlich meine innere Einstellung gegenüber Fremden? Muss ich da was überprüfen? Wir müssen uns in das Thema versenken, richtig einlassen; und immer mit der Schuld ganz vorne, um Distanzierungen zu vermeiden. Ich bin schuldig!“
Fatmas Gesicht verändert sich zu einer angewiderten Fratze: „Du gehst mir so auf den Keks mit deiner Schuld. Und im nächsten Moment schreist du –nicht schuldig- weil du dich zu deiner tollen bekennenden Kirche zurückziehst. Du drehst dir das alles immer hübsch zurecht, wie es für dich gerade passt. Lass mich in Ruhe mit der Scheiße!“
Erika läuft davon. Sie muss Weinen. Sie schwingt sich aufs Fahrrad und fährt weinend durch das Viertel, der Weg ist egal, sie braucht die Bewegung, sie braucht Entfernung vom Tatort. Fatma hat mit der Armbrust auf sie geschossen. Erika fühlt sich schwer verletzt und doch im Recht, weinend klagt sie Fatma hier auf dem Fahrrad an. Fatma versteht das alles nicht richtig! Sie ist ja nur zur Hälfte Deutsche, sie muss die Schuld nicht so schwer tragen, weil sie sich auf ihr Türkisch sein zurückziehen kann. Das ist keine Entlastung, sondern erklärt nur ihr Unverständnis. Ok! Was war denn mit ihrem deutschen Opa? Vielleicht ist das der Grund für den Schuss! Aber da wird Erika besser mal nicht nachfragen. Fatma ist so ungerecht, warum ist sie sooo verletzend? Vielleicht hat sie sich von Erika in die Enge getrieben gefühlt, oder hat Erika das mit der Schuld wirklich zu sehr geritten? Erika ist inzwischen auf leeren Feldwegen außerhalb der Stadt unterwegs. Der Wind trocknet die Tränen auf ihren Wangen. Plötzlich ist sie empfänglich für die Schönheit der Gegend. Raps und grüner Roggen, oder was für Getreide mag das sein? Schwarz-weiße Kühe auf fetten Wiesen, ein D-Zug nach Bremen rattert an ihr vorbei, dann ist es wieder friedlich, nur der Wind rauscht in ihren Ohren. Sie radelt weiter und hört zu, wie ihr innerer Dialog ruhiger wird. Sie hört Fatmas Erklärungen für den Ausraster. Die Wunde heilt, aber es wird eine Narbe bleiben. Wie wird sich Erika weiter verhalten? Sie wird sich weiter bemühen, dass Fatma friedfertig bleibt, aber sie wird sich dabei keinesfalls verbiegen. Nun ja, sie braucht nicht gleich morgen wieder mit Fatma über den Holocaust zu reden, aber vielleicht irgendwann. Dann vielleicht mit zitternden Knien, aber das ist ja egal. Sie mag Fatma, so wie sie ist. Es gibt diese gegenseitige Anerkennung, auch der Unterschiedlichkeiten. Einmal sagte Fatma: „Erika, du bist harmoniesüchtig.“ Das war eine gute Information für Erika, da war keine Wertung, einfach die Information. Fatma liebt Erika mit ihrer Harmoniesucht, Erika liebt Fatma mit ihrem Zorn.