Samstag, 26. September 2015

Der rote Mond Der Tanzkreisel

Mit Thomas, das ist einfach schön. Er hat Zeit für sie, er ist amüsant, er interessiert sich für sie. Sie ist zwar anfangs noch unsicher, aber er badet sie in Öl und sie kann immer mehr loslassen. Sie hält sich an Silke H.  „Wenn er dein Freund wäre…“ Sie will nichts riskieren, unterdrückt also konsequent ihren Beziehungswunsch und verhält sich nur freundschaftlich. Auf dieser Ebene kann sie sich sehr einlassen und er macht es ihr so leicht. Er hat immer Zeit für sie, ist immer liebevoll und akzeptiert alles, was sie von sich zugibt. Er sitzt auch ganz oft abends in der Kneipe, wenn sie kommt. Also auch dort wird er zum sicheren Hafen für sie. Er ebnet ihr den Weg, wenn er da ist, kann sie alle Sorgen über Bord schmeißen und ihre Freiheit genießen: einfach rauslassen, ohne zu überlegen! Ok. Genau, das ist ein Teil ihrer Freiheit: einfach agieren und sich selber dabei zuschauen, der Zensor ist im Keller eingesperrt. So ist Thomas, diese wunderbaren braunen Augen, so warm.

Nachmittags hören sie Musik bei ihm und unterhalten sich. Das ist meistens nicht besonders tiefschürfend, das Interesse gilt der Musik. Thomas unterrichtet sie in Musik, aber sie empfindet das nicht als Unterricht. Sie hören zusammen die Musik an, er macht sie auf besondere Beats oder Gitarrensoli aufmerksam, sie sagt was ihr gefällt. Dann mischt er ihr eine Kassette zusammen, die sie mitnimmt und zu Hause anhört, bis sie Bandsalat produziert. Er schult ihr Ohr, die Musik wird immer komplizierter. Sie merkt, dass er ihren Geschmack akzeptiert, trotzdem sagt sie ihm nicht, dass sie sich die Platte von Mothers Finest gekauft hat. Baby Love. Das haut rein. Das geht voll in die Beine, nein, in den ganzen Körper, sie kann sich zu dem Rhythmus schütteln wie eine Besessene. Da spürt sie Hingabe ohne Selbstverlust. Diese Musik ist so kraftvoll, so lebensbejahend und dadurch auch so befremdlich. Erika könnte das Lied ewig anhören. Sie spürt, dass ihre Sehnsucht dahingeht, sie möchte einen Mann so lieben, sich so hingeben, das so kraftvoll erleben. Und das macht so ANGST. Darüber möchte sie nicht mit Thomas reden. Also reden sie weiter über Eric Clapton und Steppenwolf, das ist auch interessant. Er erzählt ihr auch vom Kiffen. Sie ist sehr interessiert. Sie möchte ja am liebsten die ganze Welt probiert haben, noch bevor sie 20 ist. Wieder macht er ihr alles ganz angenehm. Sie sitzen bei ihr im Zimmer, er dreht den Joint, angenehme Musik, zu Essen, zu Trinken, er hat an alles gedacht. Sie ist natürlich ein bisschen aufgeregt, oder freudig erregt, auch ängstlich. Bei aller Sicherheit, die er ihr gibt, will sie natürlich immer noch gefallen. Freiheit, ja ja, aber das Gefallen steht weiter im Vordergrund. Drogen assoziiert sie mit Kontrollverlust, aber natürlich ist Thomas der sicherste Hafen, den man sich dafür vorstellen kann, also unterdrückt sie ihre Sorgen und zieht an der Tüte. Der Nachmittag wird super. Sie können sich über alles schlapplachen, es ist so kurzweilig, im Handumdrehen ist es Abend und sie gehen in die Kneipe, um den Rausch mit Bier abzurunden. Vom vielen Lachen hat sich eine grinsende Maske in ihrem Gesicht festgesetzt, die sie jetzt in die Kneipe trägt. Sie fühlt sich wissend und erfahren, sie kennt sich aus mit Drogen.
Erika liest den Steppenwolf von Hesse. Sie will sich bilden, mitreden können, hatte Thomas ihr das Buch empfohlen? Etwas atemlos kämpft sie sich durch die Seiten. Atemlos und gleichzeitig träge gelangweilt. Was ist mit diesem Haller/Wolf? Was will der eigentlich?  Genauso schlau wie vorher klappt sie das Buch am Ende wieder zu. Von eigenen Bildungsimpulsen nimmt sie erstmal wieder Abstand. Sie hat nicht gemerkt, dass sie in dem Buch eigentlich in den Spiegel geschaut hat

Jetzt hat sie doch eigentlich alles beisammen. Aus der Schaukel ist ein Netz geworden. Sie hat die Freunde, die sie will, mit Otto ist sie in guter Verbindung, die Welt könnte in Ordnung sein. Sie traut sich den Köpper in den Abgrund, sie weiß, da ist ein gutes Netz, das ihren Sprung sanft auffängt. Aber sie bleibt verhaftet in ihren Strukturen. Es bleibt dieses unstillbare Sehnen. Sie macht immer wieder neue Leute ausfindig, wo sie um Anerkennung kämpfen muss. Sie findet neue Gipfel, die sie erklimmen muss, immer sieht sie sich in einer Unzufriedenheit, im Mangel.

Ihre Beziehung zu Fatma hat sich sehr angenehm entwickelt. Erika ist sehr vertrauensvoll und hat den Eindruck, dass Fatma ein gutes Gespür für sie hat. Fatma selbst ist auch so lebenshungrig, dabei aber nicht so gierig wie Erika. Fatma hat zu vielem Lust: Kiffen, Ausgehen, neue Leute, neue Länder. Bei all dem aber, kennt sie ihr Maß und bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Eigentlich ist sie der Pflock und Erika der Gaul. Das Bild ist zu lustlos. Fatma ist die Sonne und Erika der Planet. Jedenfalls umkreist Erika Fatma, die geerdet ist und ziemlich klar ihren Weg geht. Fatma lässt sich von Erika gerne mitreißen, Möglichkeiten eröffnen, Horizonte verschieben, aber sie weiß immer was ihr guttut. Erika weiß das nicht, wie ein Tanzkreisel, der aus dem Lot ist, eiert sie immer größere Ellipsen, auf der Suche nach Grenzen, die sie nicht akzeptieren wird, durchbrechen will. Für diese Mauern, die sie unbedingt einreißen will, verbraucht sie ihre Energie. Fatma steht ihr bei, in dem Schlamassel, schaut zu, lässt sich unterhalten, sammelt Erika ein, wenn sie zu fertig ist fürs Leben

Samstag, 19. September 2015

Der rote Mond Die Kröte

Fatmas Worte schwingen noch lange in Erika nach. Der Schwerpunkt verschiebt sich langsam. Immer öfter denkt Erika daran, was Fatma über ihr Verhältnis zu Otto gesagt hat. „Otto ist in seiner Anmache beliebig…“ Wie genau Fatma hinschaut! Wenn Erika das Gefühl hat, dass ein Junge auf sie abfährt, dann schnappt sie zu wie eine Kröte. Wenn der nur halbwegs akzeptabel wirkt, dann ist sie dabei. Wie die Kröte trägt sie ihn auch auf dem Rücken, wenn das nötig ist. Aber anders als die Kröte lässt sie sich nicht wirklich ein. Alles Mögliche hindert sie. Äußerlich ist sie Beziehung, allerdings auch meistens nur für zwei bis drei Wochen. Dann ist der Zauber schon wieder vorbei. Der Zauber ist keineswegs zauberhaft. Wie geht Zweisamkeit? Welchen Anforderungen muss Erika da eigentlich gerecht werden? Sie müsste sich öffnen und einlassen. Wie üblich kommt sie gar nicht dazu, darüber nachzudenken. Sie agiert kräftig herum, folgt ihren Eingebungen, alles schmeckt irgendwie schal. Das Bild: „ Erika hat einen Freund“, bleibt schemenhaft. Da war Einer, den hatte sie im Schwimmbad aufgegabelt. Nicht schlecht, der wohnte ein Dorf weiter, hatte sonst mit ihrem Leben gar nichts zu tun. Da konnte sie sich ganz unauffällig probieren. Er wollte ständig ins Bett, Petting. Sie war da nicht lustvoll, sondern nur mit ihrer Scham beschäftigt. Er ja auch, aber sie schämte sich, oder nein, sie konnte die Blöße nicht aushalten. Anstatt darüber zu reden, ging sie einfach nicht mehr hin.

Ein Anderer war aus ihrer Klasse, ein blasser, langhaariger Hungerturm. Sie verbrachten einige Wochen miteinander, da kam nicht viel von ihm. Aber der ließ sich nicht so einfach abschütteln, Erika musste richtig Schluss machen. Das hatte sie noch nie und der Vorsatz allein trieb ihr schon den Schweiß aus den Poren. Die Sache zog sich hin, nur weil Erika es nicht auf die Reihe bekam, ihm zu sagen, dass es aus ist. Wenn sie zu ihm hinging, es ihm zu sagen, ging schon ihr Hals zu. Irgendwann presste sie dann die Worte aus dem zugeschnürten Hals. Es war in der Kneipe, er saß ganz entspannt neben dem Flipper auf dem Fensterbrett.  Die Luft war schnell weg: „Ich mag nicht mehr…ich mach Schluss!“ Die letzten drei Worte versiegten atemlos. Er schnellte vor, machte scheinbar ein bestürztes Gesicht: „was?“ Die Schuld, oder was war es? Erika konnte das nicht aushalten, sie rannte davon. Es dauerte nochmal einige Tage, bis sich herausstellte, dass er ihre Worte einfach akustisch nicht verstanden hatte. Sie musste also noch mal Schluss machen. Beim zweiten Mal ging es dann schon leichter und hat auch geklappt. Langsam dämmerte ihr, dass sie besser nicht alles mitnimmt, schon allein, weil es manchmal schwierig ist, da wieder rauszukommen. Aber natürlich steht sie auf dem Schlauch. Alle ihre Nöte: Anerkennung, geliebt werden, Zweisamkeit und so weiter, könnte sie mit einer Beziehung lindern. Aber eine Beziehung ist nun mal etwas Öffentliches. Wenn sie versucht mit dem „Fremdblick“ auf ihre Jungs zu schauen, dann kann keiner standhalten. Ihr Kerl muss eigentlich so sein, wie ihre Brüder, er muss was hermachen, er muss groß sein, dominant, ein Alpha-Wolf, ein Leittier. So gesehen sind das kleine Fuzzies, peinlich.

 Sie war bei ihrer Tante zu Besuch, in der Nähe von Nürnberg. Der Freund von ihrem Cousin hat sie angebaggert, da hat sie sich eingelassen. Das ist okay, der ist weit weg, das hat einige Vorteile. Es gibt keinen Fremdblick, sie muss sich nicht ständig Verhalten, sie kann sich sehnen. Er schreibt ihr viele Briefe, das ist schön, da fühlt sie sich geliebt, eigentlich. Die Anrede im Brief ist immer „Hallo Engelchen“. Aha. Das hört sich nett an, sie selbst fühlt sich schwerfällig, linkisch und burschikos. Das ist weit weg von „Engelchen“. Aber ein bisschen fühlt sie sich auch geschmeichelt. Und er sieht sie, manchmal mehr als ihr lieb ist. Nürnberg ist ja nun mal näher als Südtirol. Sie schafft es schon öfter mal dahin, auch übers Wochenende. Er holt sie am Bahnhof ab, ja, er ist sehr zugewandt. Schon nach wenigen Minuten, im Auto, sagt er: „was bist du denn schon wieder so kratzbürstig?“ Erstmal ist sie sprachlos, sie wird so sehr gesehen, dass es an Blöße grenzt. Sie kämpft ein bisschen um Kontrolle, dann ist sie noch kratzbürstiger, er lässt das liebevoll über sich ergehen. Noch bevor sie bei ihm zu Hause, oder bei ihrer Tante ankommen, ist sie glücklich. Sie fühlt sich gesehen und akzeptiert. Er kann sie lassen, sie braucht das Zurückweisende, Kratzbürstige, bevor sie sich öffnen kann. Das hat sie aber erst durch ihn erfahren. Er ist heilsam für sie und zu ihren Gefühlen für ihn mischt sich Dankbarkeit.

Da kann sie sich aufhalten, sie übt „Beziehung“ in homöopathischen Dosen. Sie empfindet das als nicht öffentlich und er gibt ihr viel Sicherheit. Unsicher ist immer nur der erste Moment, wenn sie bei ihm im Auto sitzt und konfrontiert ist. Nachher gewöhnt sie sich, sie verbringen einige Tage zusammen und dann fährt sie wieder nach Hause. Daheim kann sie sich sehnen, in ihren Träumereien kann er nichts falsch machen; und diesmal hat sie wirklich einen Freund. Daneben hat sie Zuhause ja immer noch alle Räume offen. Treue ist für sie wirklich ein Fremdwort, das ist ein leerer, bedeutungsloser Begriff. Sie hält die Augen offen. Sie glaubt, dass ihr Herz so groß ist, dass sie mehrere Jungs gleichzeitig lieben könnte. Mit Thomas geht es auch weiter, aber Erika verhält sich freundschaftlich. Das ist sicheres Terrain. Da kennt sie sich aus. Sie kann eine sehr gute Freundin sein.

Samstag, 12. September 2015

Der rote Mond 16.05.79

Der Platz am Schreibtisch, sie guckt aus dem Fenster. Der Blick über die Rasenfläche zur Straße. Wie immer passiert da gar nichts. Sie guckt weiter und streicht gedankenverloren über die Oberfläche ihres Schreibtischs. Innerlich ist sie mit ihrem Absturz ins Bodenlose beschäftigt. Nicht liebenswert, nichts Besonderes, Erika, das unförmige, leere Fass.  Doch heute ist etwas anders. Sie fühlt den Lack auf dem Holz des Schreibtischs. Den Schreibtisch hat Otto ihr zu Weihnachten geschenkt. Es ist ein kleiner, alter Zeichentisch, den der Vater schon vor langer Zeit aus seinem Büro aussortiert hatte. Eigentlich ist es nur eine Holzplatte, die auf einem soliden Bock liegt. Otto hat die Platte lackiert. Erika findet ihren Schreibtisch wunderschön, und wie sie über die Platte streicht, sieht sie Otto beim Herrichten. Sie sieht Otto lackieren und lächeln. Sie sieht, wie er sich drauf freut, ihr eine Freude zu bereiten. Sie kann sein großes Herz sehen. Sie spürt seine Liebe und ihre eigene. In ihrem bodenlosen Absturz ist da plötzlich eine Liane, an der sie sich halten kann. Sie kann kurz verschnaufen und sich orientieren. Fatma! Erika liebt Fatma und sie hofft, dass sie für Fatma wichtig ist. Schwups, da ist die nächste Liane. Aus zwei Lianen kann sie sich eine Schaukel basteln. Sie war schon immer eine Akrobatin. Sie schaukelt über dem gefährlichen Abgrund. Otto und Fatma! Es ist doch alles gut! Auch wenn sie sich in sich selbst verliert, die Beiden, die sie liebt, finden in ihr was, was sie nicht sehen kann. Aber sie kann doch vertrauensvoll sein.
Es ist eine Konstruktion, das ist ihr klar. Aber das ist völlig egal, Hauptsache sie findet Halt in ihrem Absturz. Da muss was sein, auch wenn sie es nicht weiß, wenn die Beiden sie mögen…das reicht doch. Da kann sie entspannt schaukeln.
Otto macht schon wieder eine Party. Heute können sie es ordentlich krachen lassen, die Eltern sind über Nacht außer Haus. Ein lauer Frühlingsabend, die Party steigt nicht im Keller, wie sonst meistens, sondern im Garten. Obwohl es keinen besonderen Anlass gibt, sind wieder alle Freunde und Bekannte anwesend. Es gibt Bier und endlos Wein aus des Vaters Weinkeller, auch über seine Schnapsbar hat der Vater keinen Überblick mehr, die Freunde können sich bedienen. Die Küche ist so voll mit Leuten, dass man kaum noch durchkommt, aber das kennt man ja, alle stehen am Trog. Michael ist mal wieder frühzeitig voll und kotzt ins Waschbecken. Tja, nicht schön, der Abfluss ist verstopft. Ekki rührt mit dem Finger das Erbrochene in den Ausguss, er lächelt und sagt jedem, dass ihm das nichts ausmacht. Glaubwürdig, er will Medizin studieren, da muss er mit Körperflüssigkeiten und sowas auskommen. Erika beteiligt sich ausnahmsweise nicht an der allgemeinen Aufregung. Sie schlendert mit Fatma durch den Garten. Fatma ist bei diesen Gartenfeiern zurückhaltend, ihre Eltern könnten hinter der Gardine stehen und alles beobachten. Erika passt das gut, sie will Fatma sowieso für sich haben, außerdem hat sie heute ein besonderes Anliegen: „du hör mal, Fatma, ich muss dich was fragen! Ich muss jetzt mal genau wissen, wie das ist, mit unserer Freundschaft!“      „Was soll sein, wir sind Freundinnen.“     „Ja, ja. Ist schon klar. Aber Freundin und Freundin ist nicht das Gleiche. Ich will wissen, welche Bedeutung ich für dich habe. Du bist mir wichtig. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, das bedeutet mir viel.“ Erika muss unauffällig dreimal tief atmen, um ihre Aufregung zu kontrollieren. So stellt sie sich einen Heiratsantrag vor. Sie hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt hat sie Angst vor der Antwort. Fatma überlegt nicht lange: „weißt du, Erika, für mich ist unsere Freundschaft was Besonderes, ich kann das aber nicht in Worte fassen.“  Erika pustet. Glück kribbelt durch ihren Körper, aber jetzt ist sie schon dabei, jetzt macht sie das noch zu Ende: „Okay, das ist gut. Jetzt will ich noch wissen, wie das mit Otto ist. Mal kommst du zu mir, mal zu Otto. Wer ist dir wichtiger?“   „Ja, der Otto. Mit Otto, das macht Spaß. Otto ist lustig und das Gekuschel mit ihm ist nett und prickelt angenehm. Aber Otto ist beliebig in seiner Anmache. Er probiert nur so ein bisschen herum, ich fühle mich nicht wirklich gemeint. Dein Bruder ist toll, klar, aber er ist nicht der Typ Mann, auf den ich abfahre. Wir probieren ein bisschen herum mit Körperlichkeit und Nähe, und da ist auch was Eigenes, Otto und Fatma. Aber das steht in keinem Vergleich, zu der Bedeutung, die unsere Freundschaft hat. Du und ich.“   Erika ist still. Sie überlässt sich dem Kribbeln. Fatmas Sätze schwingen angenehm durch ihr Gehirn…du und ich…..kein Vergleich….Das tut gut. Erika schwebt über den Rasen. Das ist auch sowas schönes an Fatma: sie muss nicht quatschen. Sie kann Stille aushalten, oft redet sie nur, wenn sie wirklich was zu sagen hat. Erika kann sinnloses Gequatsche nicht ausstehen. Davon wird ihr manchmal ganz flau im Magen. Erika gibt sich ganz dem Wohlgefühl hin, immer noch lässt sie die süßen Sätze durch ihr Hirn wabern. 16.05.79, vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.               
Beide gehen zurück auf die Terrasse und überlassen sich dem Partygewusel. Da sind genügend interessante Jungs. Erika amüsiert sich großartig, ein wunderbarer Abend. Fatmas Worte haben sich wie Schlagsahne auf ihre Seele geschmiegt.

Als Erika am nächsten Morgen in die Küche kommt, ist Otto schon da und hat schon mit dem Aufräumen begonnen. Wortlos gesellt sich Erika dazu. Sie würde zwar viel lieber ihren Kater pflegen und erstmal in Ruhe frühstücken, aber sie weiß genau, was Otto jetzt von ihr erwartet. Sie setzt Kaffee auf und sammelt leere Flaschen ein. Dabei verschafft sie sich einen Überblick über das Chaos. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schnarcht Michael, sonst sind keine weiteren Schnapsleichen auffindbar. Auf dem grünen Teppich ist ein großer Rotweinfleck, da muss eine Flasche umgefallen sein. Erika holt als erstes Wasser und Salz um dem schon angetrockneten Fleck beizukommen. Alles muss relativ schnell gehen. Gegen Mittag wird Tante Erna hier aufschlagen. Sie kommt immer am Sonntagmittag, sie ist die Schwester vom Vater und liebt es ihn mit Informationen zu versorgen. Wenn bis dahin nicht alles fertig ist, wird sie wortlos den Lappen nehmen und helfen. Das macht einen netten Eindruck, sie ist ja auch nett, aber Otto und Erika wollen unbedingt alle Spuren beseitigen bevor sie kommt. Also Konzentration und Eifer! Mit dem Schädel ist das gar nicht so einfach. Die gröbsten Spuren zuerst, dann die Kreise immer feiner ziehen, kleine Unregelmäßigkeiten können ja schon mal sein. Nach zwei Stunden sieht alles schon ganz gut aus, Erika weiß, dass sie Ottos Anforderungen entsprochen hat, jetzt kann sie sich ganz entspannt der Zweisamkeit mit ihm beim Frühstück hingeben. Was für ein wundervolles Wochenende                                                                                                                                                                                     

Montag, 7. September 2015

Herbstsonate

Ich muss gerade dran denken, wie meinem Kind damals fast etwas zugestoßen wäre. Oh, Mann, das war knapp. Wenn ich daran denke wird mir ganz komisch, Herzklopfen, Druck im Hals, da will was in mir platzen… Naja. Es war ja nichts, die Anderen hatten gut auf sie aufgepasst… ich muss dankbar sein. Die Vorstellung, dass ihr etwas zustößt, ist viel schlimmer, als was immer mir zustoßen kann. Ich möchte ihre Seele einbalsamieren, auch für alles, was ich ihr angetan habe. Unwillentlich, unaufmerksam, getrieben von unguten, unreflektierten Gefühlen. Die eigene Mutter ist der größte Feind des Kindes. Nicht Feind, Antuer. Wenn ich diese These in meinem Freundeskreis aufstelle, besonders bei Müttern, ernte ich keine Anerkennung. Ich werde niedergemacht. Alle gegen Einen. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit mein Statement angemessen auszubreiten, die Empörung ist zu groß.
Und doch, die meisten Narben, die sie hat, werden wohl von mir sein. Wenn sie mal älter ist, stelle ich mir das vor wie bei der „Herbstsonate“, dem Film von Ingmar Bergmann. Ich kann mich gar nicht so genau an den Film erinnern, aber vielleicht wird es auch mal so eine richtige Auseinandersetzung geben. Wohlmöglich bekomme ich dann irgendwas vorgehalten, an das ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann, das sich ihr aber tief eingegraben hat. Ich sollte mir den Film mal wieder anschauen,  ich habe das Equipment nicht, sonst würde ich ihn direkt jetzt einschalten. Vielleicht fände ich ihn strunz langweilig. Wie das so ist, mit alten Filmen, manchmal. Ich erinnere mich jedenfalls, dass meine  Mutter den Film damals furchtbar fand: „hach…schrecklich!“ Das  allein macht mich ganz neugierig. Ist der Film wohl nah an der Wirklichkeit? Meine Mutter hatte es ja nicht so mit der Wirklichkeit, sie liebte die Illusion, fand immer jemanden, der sie ihr bestätigte. Ja, kann sein, der Film war desillusionierend: eine Mutter, die ihr Bestes gibt, alles versucht, und das dann von der Tochter um die Ohren gehauen bekommt. Und warum bin ich da so eifrig neugierig? Ich bilde mir wohl mal wieder ein gut abzuschneiden. „Ach, Mama, du bist doch die Beste!“ Jede Mama, egal was sie macht, ist zeitweilig die beste Mama der Welt. Kinder werden kritiklos geboren, distanzlos auch und eben auch schutzlos. Sie sind ungeschützt ihrer Mutter ausgeliefert. Ich weiß, ich erzähle keine Neuigkeiten, vor Jahrzehnten hat Alice Miller das schon alles geklärt. „Am Anfang war Erziehung“ , ein toller Titel. Jetzt amüsiert es mich, in der Erinnerung, wie sehr sie sich über das vierte Gebot ausgekotzt hat. Danach, viel später, kam dann Hellinger: ohne Wurzeln keine Flügel. Beides finde ich wahr, zusammen ist es wahr. Ich stehe in der Mitte. Ich habe eine Mutter und eine Tochter. Beide Beziehungen versuche ich klar zu sehen. Mit der Mutter scheint es schon ordentlich abgearbeitet. Ich fühlte mich so lange so liebevoll angebunden. Ich war schon einiges über 20 und brauchte auch noch Hilfe von Freundinnen um mal genauer hinzuschauen. Ein Prozess, von dem ich immer noch nicht das Gefühl habe, dass er abgeschlossen ist. Klarheit, über das, was sie mir angetan hat, im besten Gewissen; und gleichzeitig die Drehung zur liebevollen Zuwendung. Ich sehe eine verknorzte Wurzel, das ist eine Turnübung für Schlangenmenschen! Oder ein eineinhalbfacher Rittberger von 10 Meter Turm. Klarheit beim Absprung, dann die Wurzelübung, Eintauchen in der liebevollen Zuwendung. Das unfassbar Traurige ist, meine Mutter lebt zwar noch, ist aber nicht mehr erreichbar, jedenfalls nicht für solche Gespräche. Ich bleibe mit all dem für mich. Ich kann sie auch mit meiner Liebe nicht mehr finden, oder ich kann meine Liebe kaum noch finden. Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum: Wir saßen hoch über dem Meer, schauten auf das sonnige Blau, ich war erbost über meinen Bruder. Meine Mutter machte mitfühlende Grunzlaute, an denen ich erkennen konnte, dass sie meine Gefühlslage versteht. Gleichzeitig wusste ich, dass sie sehr alt ist und bald sterben wird. Von meinem verzweifelten Schluchzen wachte ich auf. Ich musste noch ein bisschen in meinem Bett weinen. Dann verblasste das Bild. Meine Mutter ist sehr alt und wird hoffentlich bald sterben. Sie wünscht sich das, ich wünsche ihr das. Ihr Leben strengt sie an und bereitet ihr keine Freude mehr. „Es ist einfach ekkelhaft…“, sagt sie. Ihre Demenz kommt unauffällig aus allen Ecken, macht sie klein, sie kämpft um Kontrolle. Komplexe Gedanken kann sie schon lange nicht mehr denken, oder verstehen. Wie lange, weiß ich nicht, aber ich habe den Moment verpasst. Nach Vaters Tod hatte ich mir geschworen, dass mir das nicht wieder passiert: dass mir ein Mensch wegstirbt, ohne dass die wichtigen Dinge ausgesprochen wurden. Schon vor einiger Zeit musste ich mir eingestehen, dass es wieder passieren wird: sie wird sterben, ohne dass wir über die wichtigen Dinge gesprochen haben.

Eifrige Neugierde habe ich das vorhin genannt. Falsch. Dieses Gespräch habe ich mit meiner Mutter verpasst. Mit meiner Tochter soll es stattfinden. Das wünsche ich mir. Eifer wird mir da nicht helfen, ich denke, den Zeitpunkt legt sie fest. Und neugierig bin ich auch nicht. Ich wünsche es mir einfach