Samstag, 25. Juli 2015

Der rote Mond Corinna hat einen Freund

Da ist was, was sie nur Corinna erzählen kann, es brennt so sehr. Sie war doch wieder bei ihm, in Südtirol. Sie kam wieder vorfreudig erregt zur Tür rein, wieder machte er ein nettes Gesicht und erzählte ihr gleich von einer Reise, die er kürzlich mit seinen Freunden gemacht hat. Er sprach so beiläufig davon, als wäre es ein kleines Geschichtchen: Sie waren in Deutschland unterwegs, und nicht nur das, sie waren bei ihr um die Ecke. Sie sind durch ihren Ort gekommen und haben ein paar Kilometer weiter Urlaub gemacht. Sie verstand die Nachricht. Sie redete noch ein paar Sätze mit ihm, um ihr Gesicht zu wahren, sie war auch freundlich und unverbindlich. Die Nachricht hatte sie sofort in ihrem Bauch in dickes Eis eingefroren. Sie quatschten noch kurz, dann konnte sie gehen, ohne davonzurennen. Nachts lag sie allein in ihrem Bett, das Eis in ihrem Bauch brach auf, die Neuigkeit verbrannte ihr Herz. Eigentlich hätte sie stöhnen müssen, aber ihr Bruder und seine Freundin schliefen auch in dem Zimmer. Sie musste das alles lautlos erleben, der Schmerz war so… sie hatte das Gefühl, sie müsse sich das Herz herausreißen. Da lag sie, ganz allein in einem fremden Bett, übermannt vom schlimmsten Gefühl der Welt. Die folgenden Tage erlebte sie wie ein Zombie, allein mit ihrem Schmerz, den sie wieder einfrieren musste. Sie fühlte sich wie Glas, das gesplittert ist. Sie musste ihre Einzelteile erstmal zusammenklauben, nichts vergessen. Sich selbst wieder zusammenbauen… später, jetzt aufpassen, dass sie alles mitnimmt. Keine Teile von sich hierlassen, alles was Erika ist, muss mit nach Hause. Sie hat den Rest des Lebens Zeit, sich wieder zusammenzupuzzeln. Es gibt keinen Trost. Ihr großes Herz liegt nutzlos in ihrem Bauch herum, blass und wächsern, vom Kreislauf abgehängt.
Corinna hat einen Freund. Gut. Toll. Sie hat was erreicht, was Erika hier so nicht schafft. Ihr stehen Glückwünsche und Anerkennung zu. Tja. Das ist der Überidiot, den sie sich da geangelt hat. Eigentlich ist Erika nur schockiert. Der Typ war ihr schon manchmal aufgefallen. Wenn sie abends in die Kneipe ging, saß er auf der Treppe vor der Tür. Zu betrunken um nach Hause zu kommen. Das war alles, was sie von ihm mitgekriegt hat. Ein Haufen Elend. Jetzt sitzt er meistens bei Corinna, wenn Erika nachmittags zu Besuch kommt. Kaum dass sie zur Tür herein ist, bekommt Erika von ihm das Gefühl zu stören. Warum macht der sich gleich so breit? Erika ignoriert ihr Gefühl und plaudert mit den Beiden über Alltägliches, wie sonst auch. Das Gespräch kommt aber nicht so richtig in Gang, auch Corinna verhält sich anders und ist angespannt. Der Typ sitzt nur dabei, hält den Arm um Corinnas Schultern und sagt nichts. Erika gibt bald auf, verabschiedet sich und geht. „Bleib sauber!“ schreit er ihr hinterher. Was soll die Scheiße? Was will er denn damit sagen? Jedesmal, wenn Erika die zwei Worte von ihm hört, ist sie genervt. Und es bleibt dabei, sie hört immer nur die beiden Worte, sonst guckt er nur, beteiligt sich nicht am Gespräch. Erika zieht sich das immer wieder rein. Sie geht weiter zu Corinna,  in der Hoffnung, dass er mal nicht da ist. Aber er ist da. Erika stellt sich ans Fenster, schaut auf Haus und Garten, aber nicht mal diesen Anblick von hier oben kann sie noch genießen. Sie stört. Also geht sie nach kurzer Zeit wieder. „Bleib sauber!“
Erikas Innenleben ist oftmals träge. Die Veränderung bei Corinna ist da, unübersehbar und ja auch irgendwie willkommen, aber Erika braucht ihre Zeit. Dass sie sich nicht mehr so schuldig fühlen muss, das ist gleich klar. Das ist das Willkommene. Aber ihre treueste Begleiterin ist ihr genommen worden. Das ist doch ein Verlust. Erika geht immer noch hin, wohl um Corinna ihre Wichtigkeit zu zeigen, auch in der Hoffnung, dass Corinna sich von dem Blödmann wieder trennt. Nach einer Weile gibt Erika auf. Da wird zwar nichts ausgesprochen, trotzdem ist es einvernehmlich. Erika stöbert die Zwei nicht mehr auf, wenn Corinna Zeit und Lust hat, kommt sie rüber. Fatma steht schon länger zwischen Erika und Corinna, aber Erika träumt davon, dass Corinna das nicht gemerkt hat. Nun trennt sie dieser Kasper. Also gut. Erika kann sich unschuldig fühlen, das ist gut. Schuld dreht den Hals zu. Corinna hat diesen Typ gerettet. Erika sieht ihn kaum noch in der Kneipe, auf der Treppe sitzt er gar nicht mehr. Corinna hat ihn ins Leben zurückgeholt, aber Erika hat keine Lust über den Knallkopp nachzudenken. Das war eine feindliche Übernahme, er hat Corinna für sich genommen, Erika aus Corinnas Leben rausgeschmissen. Das ist alles so furchtbar, Erika müsste auch darüber nachdenken, dass Corinna das mit sich machen lässt. Danach käme die Frage, wie sehr Erika Corinna dominiert hat, ob sie ihr auch   nicht gut getan hat? Nein, nein, nein. Solche Gedanken? Nein.
 Die Mutter ist traurig. Erikas Mutter und Corinna waren ein Herz und eine Seele. Die Beiden konnten sich gegenseitig was geben. Nun kommt Fatma mehr ins Haus. Aber Fatma himmelt Erikas Mutter nicht so an, wie die das mag.

Alle lieben Erikas Mutter. Sie wirkt aufgeschlossen, modern und herzlich. Sie hat schon lange die Ansichten ihrer Söhne übernommen. Dadurch wirkt sie überhaupt nicht altbacken. Alle Freunde, die ins Haus kommen, werden akzeptiert, egal wie sie aussehen oder sich verhalten. Die Mutter geht freundlich und offenherzig auf sie zu und ergattert so ihre Zuneigung im Handumdrehen. Eigentlich könnten Alle eine Art Fanclub gründen. Immer wieder hört Erika: „boah, deine Mutter, ist die toll...“ Sowas in der Art. Aber zwischen Corinna und Erikas Mutter war es noch mehr, noch inniger. Jetzt klingelt Fatma an der Tür, nicht mehr Corinna. Fatma steht nicht auf Rattenfänger. Fatma macht sich ganz in Ruhe ihr eigenes Bild. Soviel Zeit hat Erikas Mutter nicht, sie braucht gleich unbedingte Anerkennung. Fatmas Langsamkeit verunsichert sie, da ist doch hintendran ein Schneckenhaus, in das sie sich zurückzieht. Erika wundert sich, dass Fatma aus der Reihe fällt, findet das aber gar nicht so schlimm. Sie findet Eva zum Kotzen, Fatma hat ein reserviertes Verhältnis zu ihrer Mutter, das passt doch.

Samstag, 18. Juli 2015

Der rote Mond Geburtstagsparty

Sie hat Geburtstag. Ist das nun was Tolles? Naja, jedenfalls ist es der Weg zur Freiheit, irgendwann ist sie 18, dann muss sie ja frei sein. Es klingelt leise in ihrem Hinterkopf: äußere Freiheit ist nicht gleich innere Freiheit. Den Gedanken will sie heute aber nicht denken, sie will den Tag genießen. Im Mittelpunkt stehen! Früher hatte sie Erlaubnis an diesem Tag im Mittelpunkt zu stehen. Das hat ihr den Tag versüßt. Beim Frühstück lag immer Flieder um ihren Teller. So schön! Sie durfte sich aussuchen, was es zu Essen gibt, solche Sachen. Das hat jetzt alles keine Bedeutung mehr. Das Geburtstagsgefühl ist nicht mehr groß. Sie muss selber was hermachen. Die Mädchen aus ihrer Klasse werden kommen und Corinna. Das wars.
Ihre treue Corinna kommt bald. Sie unterhalten sich und warten auf die Anderen. Das Warten wird lang, da kommt schon wieder Unsicherheit, ob die Mädchen sie wohl versetzen werden. Erika ist immer noch ängstlich und unsicher mit den Mädchen. Sie fühlt sich nicht fest verankert, sondern nur geduldet, das realisiert sie hier beim Warten mal wieder. Dieser Gedanke ist so unerträglich…. Immer nur geduldet sein…sich immer so anstrengen müssen….da gibt es kein gemütliches Abfläzen und sich bräsig in der Beziehung ausruhen….immer auf der Hut…sie muss immer was tun um Akzeptanz zu ergattern…das fühlt sich aber nie anhaltend an…da sind überall Fetttröge und Abgründe…
Mit Corinna ist das anders. Hier fühlt sie sich ganz aufgehoben, ganz erkannt. Sie spürt ihre Dankbarkeit. Aber, was soll sie tun? Corinna reicht ihr eben nicht. Sie kann das nicht erklären, auch sich selbst nicht. Sie kann es nur spüren. Mit Corinna ist alles gut, aber es ist nicht wichtig.  Dabei ist Corinna so freundlich, sie lässt sich auf Erika ein. Das Warten, die Unsicherheit wird so zum Thema. Sie gehen zusammen zum Gartentor und schauen die Straße hinunter in Erwartung der Mädchenclique. Während sie hier stehen und angestrengt versuchen die Mädchen mit den Augen herbeizuzaubern, unterhalten sie sich zum x-ten Mal über Erikas letzten Urlaub in Südtirol.
Nach den herausragenden Herbsttagen hatte Erika von ihrem Peter einen Brief bekommen. Den trug sie natürlich ständig bei sich, wie eine Trophäe. Immer wieder blätterte sie ihn vorsichtig auf, um ihn zu lesen (obwohl sie ihn natürlich längst auswendig konnte), oder auch um ihn nur anzuschauen, die Handschrift bewundern und so. Immer wieder suchte sie nach Liebeshinweisen in seinem Text, aber das brauchte sie ja gar nicht, der Brief an sich war der ultimative Liebeshinweis. So fuhr sie wieder voller Zuversicht und Vorfreude dorthin, sie fühlte sich sicherer als zuvor. Für Erika ein ungewohntes Gefühl. Sicherlich sehr angenehm, aber irgendwo seitlich nagte Zweifel, weil sie sich sicher fühlte. Der Urlaub verlief nicht anders als sonst: tagsüber wandern, abends unauffällig wegstehlen und die Zeit mit Peter genießen. Erikas ältester Bruder war diesmal dabei, sie schliefen in einem Zimmer, er deckte ihre Unternehmungen. Sie war ihm dankbar, genoss auch die Verschworenheit mit ihm. Er achtete darauf, dass sie morgens rechtzeitig aus dem Bett kam und beim Frühstück einen aufgeräumten Eindruck machte. Nachts war sie lange unterwegs, glückselig. Zum Ende des Urlaubs wurde ihre Müdigkeit immer bleierner. Den letzten Abend gestaltete Peter recht romantisch. Sie waren nur zu Zweit unterwegs, Zeit für Nähe, Vertrautheit, die Beziehung noch mal bestätigen, damit die kommende Trennungsphase besser überstanden wird. Aber Erika war so schrecklich müde. Die Zwei saßen im Auto, mit Blick über das weite Tal, nachts blinkten die Lichter da unten so hübsch, die Berge setzten sich behütend gegen den Nachthimmel ab. Nur Peter und Erika. Und Erika nickte ständig ein. Sie hat eigentlich kaum Erinnerung an den Abend, weil sie so fertig war.
All das ist Thema der Unterhaltung mit Corinna am Straßenrand, wie sie da stehen und angestrengt spähen. Eine Neuigkeit hat Erika noch zu Erzählen: sie hat schon wieder erfolgreich arrangiert! Ihr zweitältester Bruder, auch ein Südtirol-Begeisterter, wird im Sommer einige Tage mit seiner Verlobten dorthin fahren. Erika hat schon mal klar gemacht, dass sie in den Sommerferien zwei Wochen in Bayern bei der Familie der Verlobten zu Besuch ist. So kann sie mitfahren! Das ist bald, das ist aufregend, das ist viel wichtiger als Geburtstag haben.
 Komisch eigentlich, dass Fatma noch nicht da ist. Die wohnt doch nebenan. Die könnte wirklich selbstständig kommen. Wahrscheinlich hat sie sich wieder mit ihren Eltern angelegt, Hausarrest. Sie wird wohl gar nicht kommen, Schade. Aber so kann Erika Corinna mal den Platz einräumen, der ihr eigentlich zusteht. Langweilig, ohne Fatma, aber einfach.
Otto ist der Partymeister. Er organisiert tolle Treffen, auch ganz spontan. Bei ihm sind immer alle ganz aufgedreht, machen lustige Sachen und lassen sich richtig volllaufen. So soll das heute Abend auch werden. Erika hat das schon mehrfach probiert, es klappte bisher nicht, warum ist ihr nicht klar. Sie verhält sich entsprechend, sie ist immer ganz aufgedreht, versucht lustige Sachen zu machen und lässt sich ordentlich volllaufen. Solange sie noch geradeaus gucken kann, bemerkt sie, dass die Mädchen sich über die ewig gleichen Themen unterhalten und zurückhaltend an ihren Getränken nippen. Sie lassen sich nicht mitreißen, Erika muss alleine Party machen, die Anderen schauen zu, reserviert, dann gehen sie wieder nach Hause. Am Ende ist Erika betrunken und beschämt. Die Scham spürt sie nicht so richtig, weil sie ja betrunken ist. Sie will sie mitreißen, sie will Anführerin sein, sie will auch bewundert werden. Sie will wichtig sein. Das alles gesteht sie sich aber nicht ein. So wenig, dass sie es gar nicht weiß. Auch ihr Mittelpunktsstreben ist ihr nicht bewusst. Das alles macht ihren Antrieb aus und ist gleichzeitig tabuisiert. Erika meint, sie verhielte sich ziellosen, spontanen Eingebungen folgend. Möglicherweise ist ihr Verhalten für Andere durchschaubar, sogar vorraussehbar. Erika selbst kann sich so wenig sehen, dass ihr Verhalten sie überrascht, oft auch amüsiert. Sie hält sich für vielschichtig, vielleicht sogar tiefgründig.

Endlich ist es soweit. Ganz am Ende der Straße wird eine Gruppe Fahrradfahrer sichtbar. Sie kommen Alle zusammen. Kein Hereinplätschern und sich einzeln einlassen, nein, Alle zusammen. Das findet Erika doof. Sie hat noch etwas Zeit sich darauf einzustellen. Sie geht mit Corinna zurück zum Haus. Sie schenken sich ein Getränk ein und tun so, als hätten sie niemals gewartet, als es klingelt und sie die Tür öffnen.

Samstag, 11. Juli 2015

Der rote Mond Geld ist genug da

Abends um halb zehn sagt sie gute Nacht zu ihren Eltern, manchmal schon im Schlafanzug, dann geht sie in ihr Zimmer und zieht sich wieder an. Aus dem Fenster steigt sie auf den kleinen Sockel über dem Garagentor. Von dort sind es wenige bequeme Schritte zu ihrem Fahrrad. Wenn sie dann losfährt ist sie ihrer Freiheit ganz nah. Die Nachtluft ist kühl und frisch, sie ist in Bewegung, sie macht was sie will. Das Gefühl ist wunderbar, aber eigentlich müsste sie weiterradeln, denn wenn sie an der Kneipe ankommt, wird alles wieder ganz eng. Dort ist oft niemand mit dem sie gut auskommt. Eine Clique von Mopedfahrern ist fast jeden Abend da, die schneiden sie. Aber da möchte sie dazugehören. Wahrscheinlich möchte sie dazugehören weil sie geschnitten wird. Das treibt sie an, sie will sich wohl beweisen. Oder will sie Anerkennung, oder geliebt werden? Sie macht sich keine Gedanken über ihre Motive, sie macht einfach. Jetzt sitzt sie hier in der Kneipe, auf der Suche nach Anregung, oder Ablenkung, aber hier ist nichts aufregend. Nach Hause geht sie aber noch lange nicht. Sie trinkt Pernod-Cola, oder Bier, beides schmeckt ihr nicht. Eigentlich ist sie ganz gefangen. Ihre Möglichkeiten sind wenige, so vieles könnte peinlich enden. Aber sie bleibt, zu Hause wartet nur das Bett und die Schule morgen, sie könnte was verpassen, vielleicht kommt ja noch jemand.
Am liebsten würde sie hier mit Fatma sitzen. Das wäre lustig. Fatma hat immer lustige Einfälle, sie würden sich bestimmt köstlich amüsieren. Außerdem hätten sie die Aufmerksamkeit der Jungs. Erika ist da neidisch, das muss sie sich eingestehen. Fatma hat starke Wirkung auf Jungs, ok, ja, sie ist klein und schlank, aber das ist nicht alles. Fatma hat das, was Erika fehlt, dieses gewisse Etwas. Dabei ist sie nicht die Überschönheit. Es ist wohl eher ihr Verhalten. Sie macht knicks-knacks bei den Jungs, oder klingel-klingel. Erika kann das nicht sehen, aber sie weiß dass es passiert. Fatmas Mutter ist auch so. Eva, die ist ja schon 40, oder so. Also eine alte Frau, sie hat einen dicken Hintern, keine Schönheit.  Aber trotzdem ist immer noch erkennbar, dass sie sehr lebendig und sehr weiblich ist. Diese Eva, die geht Erika so richtig auf den Keks. Sie unterdrückt ihre Tochter, lässt Fatma kaum Luft zum Atmen, so sieht Erika das; und dann mischt sie sich auch noch überall ein. Ungefragt gibt sie Erika Tipps, wie sie sich ihrem Vater gegenüber verhalten soll. „Du musst ihm mal so richtig nett und mädchenhaft kommen, dann kannst du ihn um den Finger wickeln!“ Sagte sie kürzlich zu Erika. Erika konnte nur schweigend den Kopf schütteln. Die spinnt doch! Mädchenhaft! Die hat keine Ahnung! Annäherung ist völlig unmöglich! Jeder Schritt auf ihn zu macht verletzlich! Aber, aber! Manchmal, am Gartenzaun, oder so, treffen Eva und Erikas Vater aufeinander. Eva spricht ihn dann freundlich an, plinkert mit den Augen und verwickelt ihn in irgendein Gespräch. Erika hat das schon manchmal beobachtet. Ihr Vater ist dann toll. Er wird charmant, männlich und dabei auch warmherzig. Nachdem er sich verabschiedet hat macht er wieder zu. Dabei hat Fatmas Mutter, die Nachbarin, gar keine Bedeutung für ihn, sie drückt einfach nur auf einen Knopf. Erika kann diese Fähigkeit aber nicht anerkennen. Für sie ist Eva einfach eine saublöde Kuh, die ihre Tochter tyrannisiert. Fatmas Vater, Acar, kommt bei Erika nur wenig besser weg. Acar, was für ein schöner Name. Aber meistens wird er Atscha ausgesprochen, naja, unwichtig. Atscha ist der Obertyrann, findet Erika. Wie er die Gratwanderung zwischen den beiden Kulturen begeht, bleibt ihr verschlossen. Sie hat nicht nur den rein deutschen Blick, sondern sie ist überlagert von ihrer Freiheits Fata Morgana. Eltern sind für sie grundsätzlich Einenger. Mit denen geht man keine Beziehung ein. Das sind die Feinde. Meistens.

Fatma zeigt manchmal  einen differenzierten Blick auf ihre Eltern. Dann ist Erika verwirrt. Das ist unmöglich. Bei ihr gibt es nur gut=ihre eigene Mutter und böse=Vater und viele andere Eltern. Erika findet sie hat einen tollen Weg gefunden ihren Vater fertig zu machen, ohne dass er es weiß. Abends wenn er die Nachrichten im Wohnzimmer guckt, schleicht sie sich in sein Bürozimmer. Sie weiß schon lange wo sie seine Brieftasche im Schreibtisch suchen muss. Sie schlägt sie auf, schaut wieviele Scheine darin sind und nimmt sich dann das, wovon sie meint, dass es ihr zusteht. Manchmal nimmt sie 50 Mark manchmal nur 10, es soll ja nicht auffallen. Früher, als sie klein war, erlebte sie, dass ihr Vater brüllend aus dem Büro hervorkam: „mir fehlen 50 Pfennig! Wer hat mir 50 Pfennig geklaut?“ Naja, das ist schon wieder zehn Jahre her. Ihr Vater ist alt geworden. Eigentlich war er schon alt, als sie geboren ist. Aber jetzt ist er richtig alt. Er hat nicht mehr den Überblick wie früher. Erika kann sich mit dem regelmäßigen Diebstahl mehrere Wünsche erfüllen. Sie kann ihren Vater verletzen. Sie kann sich rächen. Sie hat genug Geld. Das mit dem Geld ist ja auch lustig. Ihre Mutter kommt öfter mal zu Erika, um sich Geld zu leihen. Nicht für sich, es ist anders. Erikas Brüder gehen zur Mutter und fragen nach Geld, wenn sie klamm sind. Die Mutter kommt dann zu Erika. Erika ist großzügig, sie geht zu der kleinen Vase, in der sie das geklaute Geld aufbewahrt, zieht einige Scheine hervor und hält sie der Mutter hin. „Reicht das?“ Fragt sie dann. Die Mutter nimmt das Geld und trägt es zum Bruder. Die Sache ist doch irrsinnig. Erika hat keinen Schülerjob, oder so. Dazu wäre sie viel zu faul. Sie bekommt Taschengeld von ihrem Vater, der als Geizknochen bekannt ist. Erikas Mutter nimmt das Geld, fragt aber nie, wo es herkommt. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. So sagt man.

Montag, 6. Juli 2015

Der rote Mond Mädchenliferant

Wie so oft sitzt sie in ihrem Zimmer, tatenlos, beschäftigt mit ihrer Befindlichkeit. Die Hausaufgaben sind aufgeschlagen, sie hat sich kurz damit abgegeben, nun gibt sie sich der üblichen Verweigerung hin. Sie ist gelangweilt und überlegt zum Bäcker zu gehen, was Süßes könnte helfen. Vor ihrem inneren Auge tanzen Rumkugeln und Mandelhörnchen, in ihrem Ohr läuft die Platte vom großen Bruder: „du bist zu dick, du bist zu dick!“ Sowas nennt sich wohl Konflikt, sie kämpft ein bisschen, dann gewinnt die Gier. Zum Bäcker. Wieder in ihrem Zimmer stopft sie alles freudlos in sich rein. Sie hat verloren, Hunger hatte sie sowieso nicht. Jetzt ist sie wieder streng mit sich. Sie ist nicht liebenswert, sie bringt nichts auf die Reihe, sie sieht nicht gut aus. Das einzige, was sie wirklich kann, ist schwimmen, aber auch da ist sie nur gut, nicht spitze. Diese Muskelpakete aus der DDR sind auf 100 Metern gut 15 Sekunden schneller als sie. Bei Wettbewerben ist sie immer nur im Mittelfeld. Also Schwimmen ist keine Option für einen zukünftigen Beruf. Was könnte sie sich denn vorstellen? Der Vater sagte mal Goldschmiedin. Hmm. Komisch, ziemlich unvorstellbar, aber von ihrem Vater erwartet sie ja auch nichts Gutes. Die Mutter meint Erika heiratet mal einen netten Arzt. Oh mein Gott! Irgendwie kommt ihre Mutter auch aus einer anderen Zeit. Erika kann sich zwar keinen Beruf für sich vorstellen, aber die Idee, einfach einen Versorger zu heiraten, findet sie völlig abwegig. Abhängigkeit ist nicht vorstellbar. Hubschrauberpilotin! Ja! Das wär was! Aber wie geht das? Was muss man dafür alles können? Die wollen sie bestimmt nicht! Das ist bestimmt unerreichbar. Aber schön wär es gewesen.
Es klingelt an der Tür! Als Erika hinläuft hat Otto schon geöffnet. Es ist Fatma. Otto nimmt sie direkt in Beschlag, Fatma mag das. Die Zwei setzen sich im Wohnzimmer auf die Couch und lassen es prickeln. Erika weiß, dass sie erstmal abgesagt ist. Sie geht zurück in ihr Zimmer und überlegt, ob sie eifersüchtig sein soll. Das Problem ist ja nicht neu. Es ist auch nicht nur Fatma. Es klingelt in letzter Zeit häufiger an der Tür. Da stehen „Freundinnen“, Klassenkameradinnen, Bekannte aus Parallelklassen. Vordergründig wollen sie Erika besuchen. Aber Erika ist zu Recht misstrauisch. Die Mädels lauern auf Otto. Otto weiß das. Wenn er in Erikas Zimmer Stimmen hört, platzt er gerne mal rein und zieht seine Show ab. Er ist charmant, er sieht gut aus, Erikas Freundinnen, meistens drei Jahre jünger als er, sind genau sein Geschmack. Die kann er leicht beeindrucken, die himmeln ihn an, Erika findet das zum Kotzen. Naja, so ganz schlecht findet sie es auch nicht. Sie war ja oft dabei, wenn Otto sich mit seiner Clique trifft. Sie war gänzlich bedeutungslos und nur geduldet. Jetzt hat sie zumindest Bedeutung: sie ist „Mädchenlieferant“. Das gibt ihr Berechtigung ständig dabei zu sitzen. Aber sie ist ein Neutrum! Alle anderen Mädchen sind interessant, sie ist Ottos Schwester. Fatma ist das größte Thema. Sieht Fatma so gut aus? Das kann Erika nicht gut beurteilen. Aber sie merkt, die Jungs finden Fatma  unheimlich interessant. Fatma ist manchmal dabei, aber nicht ständig. Ihr Vater funkt immer mal wieder dazwischen, dann hat Fatma Hausarrest und kann nicht bei den abendlichen Treffen dabei sitzen. Wenn sie nicht dabei ist, wird über sie geredet. Frank, Ottos Busenfreund, hat die absurde Idee, ihr einen neuen Namen zu geben, Ökmül. Dann, so sagt er, können sie auch über sie reden, wenn sie anwesend ist. Erika findet das unglaublich. Ökmül, was für ein bekloppter Name, Erika assoziiert Müll, was will Frank damit ausdrücken? Überhaupt, wie doof über einen Anwesenden reden zu wollen, ohne dass er es merkt, spinnt doch! Aber eigentlich wünscht sich Erika, selbst diese Bedeutung zu haben. Sie möchte wichtig sein, aber sie ist immer nur dieses Schwester-Neutrum. Das Schwester-Neutrum-Dasein hat immerhin bewirkt, dass sie jetzt viele Kontakte hat. Alle möglichen Mädchen buhlen jetzt um ihre Freundschaft. Erika ist ja nicht blöd, einerseits genießt sie es jetzt so angesagt zu sein, andererseits ahnt sie, dass sie nicht gemeint ist. Sie öffnet ihr Herz nicht so schnell für die Mädchen, sie schaut erstmal, worum es geht. Sie verbringt Zeit mit ihrem Besuch in Haus und Garten und wartet auf Ottos Auftritt. Erst danach entscheidet sie, was sie weiter von dem jeweiligen Mädchen erwartet. Sie gewöhnt sich daran, dass die Mädchen ihre eigentlichen Motive verbergen, so übt Erika hinter die Kulisse zu schauen. Erika selbst ist so unglaublich gerade heraus. Das empfindet sie meistens als Nachteil. Sympathie und Antipathie kann sie überhaupt nicht verbergen. Ihre Empfindungen posaunt sie ungefiltert heraus. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge, wie man so sagt. Damit eckt sie ständig an, immer wieder wird sie zurechtgewiesen, ja, sie ist ja auch sehr wütend, sie ist oft verletzend und ihre Klassenkameraden haben schon Recht mit der Kritik.
Bei Fatma ist alles anders. Fatma ist ja auch so grade. Fatma macht das gradeheraus zum Thema: Ja, sie findet Otto interessant, mag die Spielchen mit ihm, das Prickeln und so weiter, aber sie will auch zu Erika. Das ist wichtig. Erika und Otto sind zwei verschiedene Beziehungen. So kommt Erika zu dem Schluss, dass sie nicht eifersüchtig ist. Sie liebt beide. Otto ist in letzter Zeit sehr zugewandt. Erika weiß, dass das nicht nur an der Mädchenconnection liegt. Zwischen Otto und Erika hat sich eine tiefe, tragende Beziehung entwickelt. Sie genießen es, das sie sich so gut kennen und aufeinander verlassen können. Mit Fatma ist das ganz ähnlich. Fatma meint was sie sagt, sie ist auch ganz verlässlich. Erika braucht das um zu vertrauen. Erika vermittelt dafür, ungefragt, dass sie immer für Fatma da sein wird
 So viele Jahre war Erika auf Zugehörigkeit in ihrem Klassenverbund aus. So lange hat sie gekämpft und gelitten und nun löst sich alles von alleine, eigentlich ohne ihr Zutun. Das ist komisch. Hier fühlt sich Erika als Kämpferin, sie will sich nach jeder Runde in die Ecke setzen und ihren Teilsieg begutachten. Freundschaften sind etwas woran man arbeitet: sich zeigen und gesehen werden, wieder zeigen und erkannt werden. Von dem Gegenüber etwas gezeigt bekommen, behutsam damit umgehen, Akzeptanz und Aufmerksamkeit. Das ist ihre Philosophie von Freundschaft. Nun hat sie das Gefühl in einem Stromkanal zu schwimmen. Das Wasser überholt sie, die Mädchen kommen zu ihr, alle wollen mit ihr zu tun haben, sie steht im Zentrum, wo sie immer hin wollte, aber es ist nicht ihr Verdienst, sie ist einfach nur die Schwester.

Sie antwortet darauf indem sie noch weiter ins Extrem geht. Sie fischt aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter komische alte Klamotten heraus, die sie nun austrägt. Ihren neuen Spitznamen, Schrottliese, trägt sie gerne. Auch in ihren Ansichten wird sie noch extremer. Sie äußert Sympathien für Baader-Meinhof, alles Normale findet sie Scheiße, gegen jede Position, die in ihrer Klasse eine Mehrheit findet, muss sie anreden.