Sonntag, 28. Juni 2015

Der rote Mond Südtirol im Herbst

 Sie fahren nach Südtirol! Das Hochgefühl, die Vorfreude sind unbeschreiblich. Erika ist selig. Nur Vater, Mutter Kind sind unterwegs. Erika hat viel Platz sich auf der Rückbank des Autos einzurichten. Es sind einige Umwege abzuarbeiten. Der Vater hat geschäftliche Ziele und danach wollen sie für 2 oder 3 Tage nach Südtirol. Zuerst fahren sie nach Basel. Erika verläuft die Wartezeit auf Basels Strassen. So am lichten Vormittag im Herbst ist in Basel nicht viel los. Aber Erika geht es gut. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in den Schaufenstern und findet zum ersten Mal, dass sie gut aussieht. Tja, sie sieht ja auch nur sich selbst, da stehen nicht noch Freundinnen, oder Klassenkameradinnen, die schlanker sind, oder gefälliger. Sie braucht sich nicht zu vergleichen. Nachmittags fahren sie weiter nach Grenoble, die nächste Etappe des Vaters. Wie immer entscheidet sich der Vater für ein billiges Hotel in einer kleinen Vorstadt. Der Nachmittag ist unfassbar heiß und drückend. Erika läuft wieder durch fremde Strassen, aber hier gibt es so gar nichts zu sehen. Es wirkt fast wie eine ausgestorbene Westernstadt. Erika schläft in einem erstaunlichen Zimmer. Es ist in einem kleinen Turm, deswegen sechseckig. Es ist ein recht großer Raum, aber darin stehen nur ein großes, altes französisches Bett, ein Nachtschrank und ein Stuhl. Alles ist ziemlich ranzig. Nachts wird Erika wach, es stürmt und gewittert. Im Zimmer knackst und rumpelt es ordentlich, die vielen Ecken sind bedrohlich und ihre alten Kindheitsängste schwappen wieder ins Großhirn. Erika versucht eine Weile auszuhalten, dann gibt sie auf und tapst die Treppe runter zum Zimmer ihrer Eltern. Sie darf ins Bett, dort liegt sie, der Sturm hat sich gelegt, die Eltern atmen ruhig und sie sieht wie der Himmel aufklart und der Mond rund und silbern hervorkommt. Die Welt wirkt gereinigt.
Am nächsten Tag fahren sie durch die Seealpen nach Nizza. Der Vater nutzt im Ausland ja nur im Notfall die Autobahn, die Maut ist ihm zu teuer. Also juckeln sie die Nationalstrasse runter und Erika hat viel Zeit die Landschaft anzuschauen. Sie lungert auf ihrer Rückbank, es ist fast wie in einem Taxi. Sie ist weitgehend abgeschottet von ihren Eltern vorne, beschäftigt mit ihrer Befindlichkeit und der Landschaft. Die vielen Felsformationen sind aufregend und abwechslungsreich. Erika ist beeindruckt von der rauhen Schönheit dieser Landschaft. Innerlich ist sie so ungewohnt friedlich mit sich. So eins, so abgrundlos, ihre Vorfreude und Zuversicht geben ihr wohl viel Halt. Sie genießt das Gefühl sehr, sie genießt die Landschaft, sie genießt das Wissen, dass sie ihrem Ziel immer näher kommt.
Nizza ist ja immer schön. Erika läuft die Promenade rauf und runter. Die kleinen Palmen auf dem Mittelstreifen, das Meer, das heute recht aufgewühlt ist, Nizza fand sie schon immer toll. Es sind nur einige Stunden Wartezeit zu vertrödeln, dann will der Vater noch schnell weiter. In Nizza ist es nicht leicht eine günstige Unterkunft zu finden. Also fahren sie in der Dunkelheit noch nach Italien hinein und halten Ausschau nach einem passenden Hotel. Es gibt nicht viel zu sehen, der Vater ist wohl ziemlich zufrieden mit dem Ergebnis seiner Arbeit, er ist nämlich bestens gelaunt. Erika sitzt in der Mitte ihrer Bank, zwischen den beiden Vordersitzen nach vorne gelehnt. So sind die Drei so nah beieinander wie nur selten. Sie unterhalten sich, der Vater macht Scherze. Den Zauber der Situation bemerkt wohl keiner von ihnen, jeder ist auf seine Art zugeknöpft und einzementiert. Da müsste schon jemand mit einer Hilti kommen um etwas zu bewegen.
Nach dieser Übernachtung ist der Tag X erreicht. Heute Abend werden sie in dem putzigen Dorf ankommen, das Ziel, nach einem halbes Jahr Wünschen und Sehnen. Auf dem Weg kommen sie durch Seveso. Hier war vor einem Jahr das Dioxinünglück passiert. Erika liest mit Schaudern das Ortsschild, der Vater erinnert an die Nachrichten damals. Das alles war im Fernsehen, Seveso, Italien, das wirkte nah und doch mittels der Mattscheibe immer weit weg. Seveso war der erste Supergau nach dem Vietnamkrieg, den Erika wahrgenommen hat. Nun fahren sie durch den Ort. Alles wirkt gespenstisch, sie halten die Fenster geschlossen und atmen alle drei tief durch, als sie die Stadt hinter sich lassen. Ob es wirklich gespenstisch war, oder das nur Erikas Einbildung war? Egal. Hauptsache sie lassen es hinter sich. Südtirol, malerisch, hübsch, nett und adrett liegt vor ihnen. Seveso hat Erika schnell wieder vergessen.
Da sind sie! Alles ist unfassbar, phantastisch gut. Der Ort ist ausgebucht. Erika bekommt ein Zimmer in einem Hotel, die Eltern müssen in ein anderes. Ist das zu fassen? Das Glück ist mal auf Erikas Seite. Sie kann sich bewegen, ohne dass der Vater das ständig kontrollieren kann. Und das Wetter! Sie waren noch nie zuvor im Herbst hier. Es ist so schön! Der Himmel ist tiefblau, keine Wolke, die Kammlinie der Berge setzt sich scharf gegen den Himmel ab. Erika findet das so herausragend, dass sie immerzu hinschauen muss. Die Luft ist jetzt am Abend kühl und kristallin, es atmet sich so leicht. Über Erikas Befindlichkeit braucht man sich wohl nicht auszulassen, sie ist in Hochstimmung, versucht aber auf dem Weg zu dem Gasthof von Peters Eltern den Überschwang einzufangen. Mit einem dusseligen Grinsen und voller Erwartung tritt sie durch die Tür. Peter ist überrascht und die Freude ist ihm schön im Gesicht anzusehen. Er sagt Bescheid und verlässt schnell die Theke hinter der er arbeitet. Sie fahren zusammen zum Minigolf, dort kann man Eis essen, oder was trinken. Sie setzen sich an den kleinen Tisch, unterhalten sich und vergessen die Welt.

Tagsüber wandert Erika mit ihren Eltern durch die Berge, die Zeit nach dem Abendessen gehört ihr allein. Sie ist mit Peter und seinen Freunden im Dorf unterwegs. Sie gehört dazu, die Einheimischen fangen an sie zu grüßen. Ein gutes Gefühl. Zugehörigkeit steht wohl auch auf ihrer Mängelliste. Sie sitzen in Restaurants und Kneipen, trinken Bier und Rotwein, machen Armdrücken. Erika gewinnt gegen alle Jungs. Sie ist stolz auf ihre Kraft, aber sie merkt auch, dass das nicht sehr mädchenhaft ist. Wenn sie dann den nächsten Gegner hat kann sie sich doch nicht zurückhalten, muss alles geben und gewinnt wieder. Die Tage erlebt sie sehr intensiv, es ist schon sicher: das sind die schönsten Tage ihres Lebens. Aber sie sind dann doch vorbei und sie sitzt wieder auf der Rückbank, auf dem Weg in dieses Kaff in Niedersachsen. Natürlich, Trauer. Unermessliche Trauer. Trauer füllt jedoch aus, es ist auch erstmal ein abgrundloser Zustand. Ostern werden sie wohl wieder hinfahren. Aber ein halbes Jahr ist schon lang. Sie weiß schon, sie wird wieder auf ihrem Bett liegen und 10CC ablaufen lassen, bis die Platte aufgibt.

Samstag, 20. Juni 2015

Der rote Mond Schwerelos im Orbit

Schon als Kind hatte sie sich manchmal vorgestellt in den Bergen zu wohnen. Das stellte sie sich so toll vor. Dass sie dann immer rauf und runter laufen müsste hatte sie  allerdings nicht bedacht. Ihren Augen war zu langweilig. Es gab immer nur die Häuser rundherum und den Himmel. Sie kann sich erinnern, wie sie als Kind im Garten auf dem Rücken lag, in den blau-weißen Himmel starrte und sich vorstellte, dass die Wolken schneebedeckte Berge seien. Südtirol! Das war es schon damals und ist jetzt natürlich noch mehr ihr Sehnsuchtsziel, nur, dass sie sich jetzt nicht mehr im Garten still auf den Rücken legen würde. Südtirol sieht aus wie eine große Puppenstube: die schönen Häuser mit den dunklen Balkonen, überall Geranien, die Berge, alles so anheimelnd, wohlig, nett und sauber. Die Menschen sind alle freundlich und sprechen diesen niedlichen Dialekt, den sie zwar schlecht versteht, der sich aber auch so freundlich anhört. Hier ist alles so nüchtern und schnörkellos. Der Garten vor ihrem Haus ist schön, aber sie ist zu alt um auf Bäume zu klettern und sich dort ihrer Phantasie hinzugeben. Schön an dem Garten ist auch das Offene, aber eben, wenn sie im Garten ist, kann sie gesehen werden, von Nachbarn, Passanten, ihrem Vater. In dem Garten kann man arbeiten, Rasen mähen, zum Beispiel,  oder Federball spielen, aber es findet sich nicht mal ein Versteck, wo man in Ruhe eine Zigarette rauchen könnte. Es ist ja eine typische Kleinstadt, in der Erika aufwächst: die Bürgersteige sind hochgeklappt, es passiert einfach gar nichts auf der Straße, aber man spürt, dass tatenlose Hausfrauen hinter den Gardinen sitzen und auf Neuigkeiten lauern. Erika gibt schon genügend Stoff für Tratsch in der Nachbarschaft her, sie muss sich nicht in den Garten legen.
Von Corinnas Fenster aus kann man die Planung des Vaters am besten erkennen. Die große grüne Rasenfläche, daneben die Auffahrt, die mit rotem Kies ausgelegt ist, das moderne Haus ist champagnergelb gestrichen. Die Farbcombi ist toll, eigentlich Italien, oder Penne Primavera, aber Erika schenkt ihrem Vater grundsätzlich keine Anerkennung. Die Mutter hat, trotz ihrer chronischen Unlust, gegenüber der Eingangstür wunderschöne Rosen gezogen, die den ganzen Sommer über üppig blühen und wunderbar duften. Zur Tür sind es nur vier Stufen, ein Mäuerchen mit Windfang grenzt zum Kellergang ab. Der Aufgang ist gerundet. Das hat was Einladendes, noch einladender ist die Tür, die fast nie abgeschlossen ist. Jeder könnte einfach eintreten. Nachts, oder wenn niemand zu Hause ist, wird natürlich abgeschlossen, aber es ist ja meistens jemand zu Hause. Die Mutter geht ja nicht arbeiten, sie ist fast immer da, wenn sie mal einkaufen ist, schließt sie doch ab, legt den Schlüssel aber unter die Mülltonne.
Erika lebt also in einem großen, schönen Haus, mit einem üppigen Garten, es ist eigentlich immer jemand da und trotzdem fühlt sie sich verloren und einsam und sie wünscht sich ein anderes Leben. Abends, manchmal, wenn sie im Dunkeln unterwegs ist, schaut sie in die erleuchteten Fenster der Wohnzimmer. Alles erscheint ihr lebenswerter und wohliger als ihr eigenes Dasein. Sie hat sich schon immer weggewünscht, jetzt wünscht sie sich nach Südtirol. Sie verbringt viel Zeit damit. Wegwünschen und Sehnen. Sie liegt sie auf ihrem Bett, hört 10CC, oder auch mal andere Musik und sehnt sich weg, bis sie Bauchschmerzen hat. Irgendwann wird sie schon mal wieder nach Südtirol kommen, der Vater hat Lust dort Urlaub zu machen. Den Zeitpunkt entscheidet er. Das ist nicht auszuhalten, dass ihr Wohlbefinden wieder von seinen Launen abhängt. So ist es völlig unklar, wann und wie sie diesen Jungen wiedersehen wird.  Ihr Sehnen läuft ins Leere. Sie hat von ihm nichts gehört, sie selbst hat ihm ein oder zwei Briefe geschrieben. Das ist alles. Sie gibt da viel Energie hin. Der Junge ist ihre große Liebe, da ist sie festgelegt. Aber ihre Liebesenergie verpufft ziellos im Orbit, das muss sie sich leider eingestehen. Ihr Leben entwickelt sich zweigleisig: die Festlegung auf diesen Südtirol-Susi, der eigentlich Peter heißt, das „Susi“ wird ihr immer blöder, bleibt bestehen und gleichzeitig hält sie auch in ihrem Kaff die Augen offen, ob sich nicht doch beziehungstechnisch was machen lässt. Ihr starkes Bedürfnis über ihre kosmischen Gefühle zu reden, kann sie bei Corinna und besonders bei Fatma stillen. Corinna war ja dabei, sie kennt ihn, sie hat auch diesen aufregenden Urlaub erlebt. Aber Corinna kommt schnell in ihre Wirklichkeit zurück. Sie ist Realistin und arrangiert sich mit ihren Möglichkeiten. Ja, es ist bekannt, Corinna ist eine gute Zuhörerin und sie ist immer geduldig mit Erika, aber bei Fatma fühlt sich Erika mit ihren ständig gleichen Befindlichkeiten doch besser aufgehoben. Erstaunlich eigentlich: bei Fatma ist Erika ja immer noch sehr vorsichtig. Es gibt schon so ein Gefühl, ein falsches Wort, eine falsche Bewegung und Fatma zieht wie Lucky Luke schneller als ihr Schatten und Erika steht mit dem Rücken an der Wand. Fatma ist eine Indianerin mit fiesen Giftpfeilen im Köcher. Das macht Erika vorsichtig, aber sie findet Fatma unheimlich spannend. Außerdem ist Fatma empathisch und inspirierend im Gespräch. Erika spürt wie sie sich immer mehr Fatma zuwendet.  Zehn Jahre lang war Corinna ihre beste Freundin und wie es bei kleinen Mädchen üblich ist, hatten sie sich geschworen für immer beste Freundinnen zu bleiben. Die Wendung zu Fatma geht mit Schuldgefühlen gegenüber Corinna einher. Das ist zu schwer für Erika, sie spürt da einfach nicht hin und versucht sich Corinna gegenüber unverändert zu verhalten.

Erika steht also zwischen Corinna und Fatma ohne sich ihre Gefühle einzugestehen, sie hält einfach mal still. Ihre scheinbar so großen Gefühle schickt sie in den Orbit. Mit den Jungs in ihrer direkten Umgebung versucht sie in Beziehung zu kommen, aber sie gibt immer nur einen kleinen Teil von sich. Der Rest ist reserviert für den wunderbaren Peter, der 1000 Kilometer weit weg ist und so nichts falsch machen kann und sie nicht enttäuschen kann. Sie ist kaum präsent, gegenüber den Mädels erstarrt und wundert sich, dass sie sich mit dem Leben nicht in Kontakt fühlt

Freitag, 12. Juni 2015

Der rote Mond Kaffeebohnen

Äußerlich verbesserten sich die Dinge, das war unübersehbar, aber innerlich wurde bei Erika nichts besser. Immer war sie gedanklich mit ihrer Freiheit unterwegs. Sie stellte sich vor, wenn sie groß ist, will sie fünf Kinder haben, aus fünf Kontinenten. Dass das dann auch fünf verschiedene Väter sind, fiel ihr gar nicht auf. Sie wollte berühmt werden. Irgendetwas Besonderes machen, was anderen nicht einfällt, oder was andere nicht können. Ein ganz normales Leben konnte sie nicht phantasieren. Sie konnte sich auch mit der jetzigen Normalität nicht abfinden. Immer musste etwas besonderes sein. Jeder Tag musste ein Highlight bieten, sonst war sie unzufrieden. So war sie fast immer unzufrieden. Sie bediente sich am Alkohol, der fast überall im Haus herumstand. Bei ihrer Mutter in der Küche fand sie Eierlikör. Der schmeckte schon ganz gut. Im Kühlschrank gab es Bier, im Keller Wein. Sie trank nachmittags Alkohol, ohne zu wissen warum. Mit Corinna ging sie nachmittags in eine Kneipe, in der Nähe der Schule, dort tranken sie Bier oder Apfelkorn. Erika suchte die Nähe der Jungs, die dort waren, es ging aber gar nicht um Beziehung, dafür hatte sie ja ihren Jungen in Südtirol, es ging immer nur um Anerkennung und dabei sein. Abends, wenn Erika allein in ihrem Zimmer saß, war sie mit Sehnen beschäftigt. Sie sehnte sich so sehr nach diesem Peter, den alle Susi nannten. Dann lag sie auf ihrem Bett und hörte immer das gleiche Lied auf ihrem Plattenspieler: I´m not in Love, von 10CC. Sogar ihr Englisch reichte um zu wissen, dass der Text nicht passte. Aber dieses Sehnsuchtsvolle, wie er das sang, da konnte sie mitschwelgen. Scheinbar Stunden verbrachte sie hier, mit ewiger Wiederholung des einen Liedes. Sie beamte sich weg, in die Erinnerung an die aufregenden Tage im Urlaub, oder sie phantasierte von einer beglückenden Zukunft mit ihm. Jedenfalls war sie nicht da. Zukunft oder Vergangenheit, beides war recht. Im Jetzt kam sie nur an, wenn es an der Tür klingelte und jemand zu Besuch kam, der sie aus ihren Träumereien holte. Das konnte gerne auch ein Freund von Otto sein, dann blieb sie dabei, wenn Otto das zuließ. War es Corinna, dann wollte Erika was losmachen, wieder in die Kneipe gehen, oder so, Corinna akzeptierte fast jede Idee von Erika. Wenn es Fatma war, die jetzt öfter mal vorbeikam, dann saßen sie in Erikas Zimmer, rauchten und unterhielten sich. Ja, das war eine erstaunliche  Entwicklung, Fatma schaute jetzt nachmittags öfter mal rein, vormittags war ihre Beziehung eine ganz andere. Vormittags war Fatma so etwas wie ihre Feindin. Fatma wies Erika öfter zurecht, war eine Art Sprachrohr der Mädchengruppe. Erika schlug ja gerne mal über die Stränge. Sie brauchte fast ständig Aufmerksamkeit. Dadurch war sie oft laut, oder sie äußerte extreme Ansichten, oder sie war verletzend gegenüber einzelnen Mädchen, von denen sie meinte, sie hätten keine starke Position in der Gruppe. Fatma gab Widerworte, ohne Rücksicht auf Erikas Befindlichkeit. Solche Geradlinigkeit traf Erika immer mal wieder ins Mark. Umso überraschter war Erika, wenn sie nachmittags die Tür öffnete und Fatma dort stand, ganz unbefangen. Erika war ganz sicher angenehm überrascht, aber gar nicht unbefangen. Sie konnte das nicht nachvollziehen: Fatma war morgens unfreundlich und nachmittags freundlich. Daraus ergab sich für Erika eine sehr gute Übung. Sie musste lernen aufzupassen, was sie redet. Fatmas Gradlinigkeit war Erika sehr sympathisch, machte sie aber auch sehr vorsichtig. Sie wollte nicht nachmittags in ihrem Zimmer auch noch Eins übergebraten bekommen. Sie wollte die Nachmittags-Freundschaft mit Fatma nicht riskieren. Also lernte sie das, was ihre Brüder ihr schon seit Jahren sagten: erst denken, dann reden. Fatma war spannend, unkonventionell, sie konnte von einer ganz fremden Welt erzählen. Erika war neugierig auf Fatmas Familiensituation. Außerdem verband die beiden das Herz-Schmerz-Thema.
Rauchen war beiden verboten. Erika liebte es ja, verbotene Dinge zu tun und ihrem Vater eine Nase zu drehen. Der Rauch quoll bestimmt unter ihrer Zimmertür hervor. Sie meinte ihr Vater merke nichts. Ihr Vater hatte wohl eher meistens nicht die Energie seine Verbote durchzusetzen. Fatma war mit ganz anderer Energie konfrontiert. Ihre Eltern standen beide mitten im Leben und waren mit Energie bis zur Unterlippe angefüllt. Kurz bevor Fatma wieder nach Hause gehen wollte holte sie etwas aus ihrer Hosentasche. Meistens waren es einige Kaffeebohnen. Es konnte aber auch mal ein Stengelchen Petersilie, oder eine geschälte Knoblauchzehe sein. Das steckte sie sich dann in den Mund, verließ Erika und zerkaute auf dem kurzen Heimweg die Bohnen, oder was auch immer. Zuhause, das hatte sie Erika eindrücklich beschrieben, würde sie ihrer Mutter sagen, dass sie nach Rauch riecht, weil Erika geraucht hat. Ihre Mutter, die Spionin, würde an ihrem Mund riechen, zur Kontrolle. Sie hatte also immer ein stark riechendes Lebensmittel in der Tasche, um ihre Kontroll-Mutter zu leimen. Fatma ging also zu Erika um Rauchen zu können. Außerdem wollte sie Otto abpassen, der hatte eine charmante Art Mädchen zu umgarnen, sah ganz gut aus und war eben auch drei Jahre älter. Ein echter Hecht.

Erika liebte es, wenn Fatma auftauchte. Fatma erzählte Erika sehr vertrauliche Dinge, von denen sie immer wieder betonte, dass Erika das für sich behalten soll. Sowas war ganz neu für Erika. Sie war noch nie Geheimnisträger. Sie war noch nie diskret. Wenn sie etwas erfuhr, dann üblicherweise als Letzte. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt durch Fatmas Vertrauen und wollte das keinesfalls gefährden. Ihre nachmittäglichen Treffen hatten auch so etwas geheimes, weil die anderen Mädchen davon keine Ahnung hatten. Es war irgendwie exklusiv. Fatma erzählte auch viel von Zuhause. Da war viel die Rede von Raserei und Gewalt. Fast unvorstellbar für Erika. Bei Erika waren ja alle gegen den Vater verbündet, dadurch wurde ihm viel von seiner Gefährlichkeit genommen. Bei Fatma waren die Eltern verbündet, so kam es Erika vor. Da schien fast alles gefährlich. Fatma hatte einen jüngeren Bruder, aber, so wie Erika das verstand, stand Fatma alleine ihren übermächtigen Eltern gegenüber. Ihre Findigkeit, mit der Situation umzugehen, wie zum Beispiel mit den Kaffeebohnen, beeindruckte Erika sehr und sie beschloss für sich, Fatma gegen ihre Eltern immer zu unterstützen.

Mittwoch, 3. Juni 2015

Der rote Mond Fatmas Geburtstag

Bei jeder Versetzung wurde die Klasse neu gemischt. Angela, Helke und andere Mädchen sind verschwunden, abgegangen von der Schule. Vereinzelte andere Mädchen kamen hinzu.  Aber nach der Versetzung saßen auf jeden Fall die Mädchenreihe und Erika wieder in gleichen Raum. So hat also das Schicksal zugelassen, dass Erika dazu gehört. Sie kam am ersten Schultag rechtzeitig ins Klassenzimmer und nahm einfach selbst in der Fensterreihe Platz. Sie wurde nicht mehr vertrieben, sie fühlte sich geduldet, so wie bei Otto. Aber sie rückte näher ran und damit war sie schon zufrieden.
Es gab etwas, was die Mädchen mehr und mehr zusammenschweißte. Sie entwickelten sich zur Clique und Erika war dabei. Sie standen alle zusammen zum Rauchen auf der Mädchentoilette, oder, wenn eine Geburtstag hatte, legten alle zusammen und kauften ein gemeinsames Geschenk. Es gab eine unausgesprochene Sicherheit, dass nicht ausgeschlossen wird. Erika spürte bei einigen, dass sie sie nicht mochten, sie wurde kritisiert, oder auch angefeindet, aber eben nicht ausgeschlossen, sie konnte dabei sein. So kannte sie es schon von Otto, der Rest würde sich fügen.
Alle sitzen in Fatmas Zimmer, eng beisammen. Fatma hat Geburtstag, wie üblich sind alle eingeladen. Es ist kurz nach den Osterferien und Erika erzählt von ihrem Urlaub. Alle hängen an ihren Lippen, so wie sie das mag, sie ist eigentlich eine ganz gute Erzählerin. Was sie zu Erzählen hat brennt ihr auch auf der Zunge. Sie sucht dringend nach Zuhörern, sie will diese Geschichte erzählen, will hören, was andere dazu sagten.
„Ich war mit meiner Freundin Corinna im Urlaub. Das war toll, wir waren zum ersten Mal zusammen im Urlaub und haben das sehr genossen. Wir sind mit meiner Mutter und meiner Tante nach Südtirol gefahren, dahin, wo wir eigentlich immer Osterurlaub machen. Mein Vater war nicht dabei, ein Glück, so war alles ganz entspannt. Das Wetter war ganz gut und Corinna und ich hatten es richtig schön. Den Tag haben wir mit meiner Mutter und meiner Tante verbracht, abends, wenn es dunkel wurde sind wir noch durch das Dorf gestromert. Auf dem Dorfplatz saßen eines Abends einige einheimische Jungs, die uns angesprochen haben. Sie haben uns im Cafe zu einer Brause eingeladen und wir haben uns unterhalten. Da gab es einiges zu reden und zu vergleichen, wie so die Jugend in Südtirol verläuft, oder eben in einer niedersächsischen Kleinstadt. Als wir auseinander gingen, waren wir für den nächsten Abend verabredet. Den ganzen Tag verbrachten Corinna und ich in einem Hochgefühl, wir fühlten uns attraktiv und interessant. Ständig mussten wir uns darüber unterhalten, welcher von den Jungs uns gefällt. Wir haben sie sozusagen unter uns aufgeteilt. In bester Stimmung gingen wir am Abend zu unserer Verabredung. Es waren mehr Jungs da. Aufregend! Wieder saßen wir im Cafe, bis es zu machte, unterhalten, flirten, schauen, welcher Junge sich für wen interessiert. Am folgenden Abend gingen wir mit den Jungs nach dem Cafe noch durch das Dorf spazieren. In einer dunklen Ecke wurde ein bisschen rumgeknutscht, Corinna mit Mario, der ihr sehr gut gefiel, ich mit dem Josef. So vergingen die Tage, es war der tollste Urlaub der Welt, wir fühlten uns großartig. Abends, wenn wir auf den Dorfplatz kamen, waren immer wieder auch mal neue Jungs da. Corinna und ich kamen um die Ecke am Dorfplatz, da saß ein Junge, da blieb mir der Atem stehen. Blonde, lange Haare, lebendige Augen, auf der Gitarre spielte er smoke on the water, aber natürlich nur die ersten vier Takte. Ich war sofort hingerissen und hatte kein Auge mehr für den Josef. Der Junge, der wegen seiner Frisur Susi genannt wurde kam mit ins Cafe und machte mir so richtig den Hof. Ich war begeistert und konnte vor lauter Glück überhaupt nur noch überquellen. Der Josef saß auch dabei, aber das war völlig zweitrangig. Vom Cafe aus gingen wir in den Gasthof, der Susis Vater gehörte, dort spielten wir ein Würfel-Sauf-Spiel. Bei sieben muss man einen Schnaps trinken, Corinna und ich waren ruck-zuck besoffen und wurden von den Jungs nach Hause gebracht. Josef war draußen, für immer. Was zwischen den Jungs an Konkurrenz abging, interessierte mich nicht. Ich war für immer und ewig verliebt in Susi, das war schon klar. Der bekannte Ablauf, den Abend fröhlich verbringen, nach Hause gebracht werden mit Zwischenhalt in irgendwelchen dunklen Ecken, rumknutschen. Ungefährlich und schön. In meinem Bauch explodierten Glitter-Glanz-Sternenraketen. Ich schwebte. Aber leider vergeht Zeit und unser Urlaub war bald zu Ende, ich bin soooo verliebt und klar, der Susi mag mich auch, aber er ist 1000 Kilometer weit weg. Das ist mein Problem. Ich habe so Sehnsucht nach ihm und ich will nicht hier sein.“
Es gibt ein kurzes Schweigen, als Erika mit ihrem Bericht fertig ist, dann fängt Susanne an von ihrem Urlaubserlebnis zu berichten. Sie hat im Schwimmbad einen Jungen kennengelernt und mit dem angebändelt. Erika hört ernsthaft zu, aber es ist eine fadenscheinige Geschichte und nach und nach fangen alle an zu kichern. Erika fühlt sich verarscht, Susannes Geschichte ist eine Antwort auf ihre, sie glauben ihr nicht. Als alle aufbrechen, bedeutet Fatma Erika noch zu bleiben. Kein Problem für Erika, sie wohnt ja sowieso nebenan.

„Mach dir nichts draus, Erika, die sind albern, weil sie keine Ahnung haben. Ich habe in der Türkei einen Jungen, an den ich mein Herz verschenkt habe. Ich kann dich gut verstehen. Aber das bleibt unter uns!“ Erika ist beeindruckt. Sie sieht Fatma in einem neuen Licht. Fatma, die Nase, meistens still, manchmal schießt sie einen Torpedo auf Erika ab, wenn sie sie blöd findet. Sowas ist Erika ja gewöhnt, wegen ihrer vorlauten Art muss sie Zurechtweisungen in Kauf nehmen. Aber jetzt gibt es ein Band zwischen ihr und Fatma, dass die Anderen nicht sehen können.