Dienstag, 26. Mai 2015

Der rote Mond Erika ist schuld

Erika hatte schon eine Menge Freiraum. Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihre Mutter ihr enge Grenzen setzte. Ihren Vater versuchte sie sowieso zu ignorieren. Wenn er sich einmischte, was sehr selten vorkam, hebelte Erika die Einmischung zusammen mit ihrer Mutter wieder aus. Mit der Mutter gab es eine gute Gesprächsebene, sie einigten sich darauf, dass des Vaters Ansichten aus einem anderen Jahrhundert stammten, und dass man sie so oder anders umgehen kann, und dass Erika schon machen konnte, was sie wollte. Erika und ihre Mutter hatten eine Art Geheimbund gegen den Vater geschlossen. Sie waren Verschwörerinnen, so war von Erika Ehrlichkeit gefordert, dafür erlaubte ihre Mutter ihr eigentlich alles. Erika dachte, das sei für sie ein guter Deal und ihre Mutter sei sehr cool. Sie dankte es ihrer Mutter mit ewiger Liebe.
Inzwischen hatte Erika klarere Vorstellungen von verliebt-sein-Verhalten entwickelt. Der Sommer ging dem Ende entgegen und ihr Schwimmtrainer hatte eine Party für den Verein organisiert. Eine Party! Die erste Party zu der sie ohne Otto gehen würde. Den ganzen Abend saß Erika bei Heiner und unterhielt sich mit ihm. Wenn er sich mal woanders hinsetzte, verfolgte sie ihn nach kurzer Zeit, um sich weiter mit ihm zu amüsieren. Erika hatte großen Spaß an diesem Abend und achtete gar nicht auf die Zeit. Sie ging erst nach Hause, als Heiner sie schon mehrfach gefragt hatte, ob sie nicht endlich nach Hause müsste.
Als sie zu Hause zur Tür reinkommt, es ist ungefähr halb zwei morgens, kommt ihr ihr ältester Bruder entgegen. „Wo kommst Du denn jetzt her, bist Du völlig verrückt geworden? Mutter ist mit dem Fahrrad unterwegs und sucht Dich!“
Erika ist verstört und geht schlafen. Aber an Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Sie sitzt in ihrem Bett und beobachtet das Tor zur Straße in Erwartung ihrer Mutter. Ja, jetzt fällt es ihr auf, sie hatte ihrer Mutter nicht gesagt, wo die Party steigt. Ja, jetzt, wo sie sich in ihre Mutter hineinversetzt, kann sie verstehen, dass halb zwei schon etwas spät ist. Die Vorstellung, wie ihre Mutter durch das Nachbardorf radelt, auf der Suche nach ihr…. wie ihre Mutter sich sorgt. Schrecklich. Erika fühlt sich so schuldig, das Gefühl dröhnt in ihrem Bauch, sie schaut zum Tor und wünscht sich ihre Mutter herbei. Das alles ist so unnötig. Sie ist ja zu Hause, alles ist gut, aber die Mutter weiß das nicht…
Irgendwann sieht sie ihre Mutter um die Ecke biegen. Sie war auf dem Fahrrad im Schlafanzug unterwegs, nur eine Jacke darüber, nackte Unterschenkel. Was für ein Bild. Die Sorge um die Tochter, die Verzweiflung, springen Erika an. Sie fühlt sich so schuldig. Gleich, wenn die Mutter verzweifelt zur Tür hereinkommen wird, wird der Bruder die Situation lösen und der Mutter sagen, dass Erika zu Hause ist. Erika kann sich jetzt hinlegen, entspannen kann sie sich noch lange nicht. Ihrer Mutter in die Augen schauen will sie auch frühestens morgen
Wie sie so daliegt und wartet, dass sich der Knoten in ihrem Bauch löst, fällt ihr eine andere Geschichte ein, die noch gar nicht so lange her ist. Sie waren in Südtirol, im Urlaub, nur Erika und ihre Eltern. Wie immer wurde viel gewandert. Auf dem Rückweg von einer Hütte wollte Erika etwas ausprobieren. Sie hatte gehört, dass die Einheimischen den Talweg eher springen als gehen, das wollte sie jetzt mal versuchen. Sie verabschiedete sich von den Eltern und sprang voraus. Dieses Springen oder Hüpfen klappte eigentlich ganz gut und sie war bald wieder im Dorf in der Pension. Nun wartete sie auf ihre Eltern. Irgendwann kam der Vater zur Tür rein. „Wo ist Mutter?“ Fragte Erika. „Die irrt durch den Berg und sucht dich!“ Heiß siedete es durch Erikas Körper. Ja , sie hatte gesagt „vielleicht warte ich ja irgendwo auf euch“, das hatte sie dann aber schnell vergessen. Nun rannte sie den Berg wieder hinauf. Sie weinte, rannte, rief laut nach ihrer Mutter. Die Schuld gab ihr große Energie. Sie verließ die Serpentinenwege und kürzte gerade hoch ab. Sie rannte, stolperte bergauf, weinte und rief. Ein einheimischer Wanderer kam ihr entgegen und sprach sie an. Sie schilderte kurz ihr Problem. „Da ist deine Mutter nicht. Ich komme ja gerade von oben. Da ist niemand. Deine Mutter ist bestimmt schon im Dorf.“ Erika ließ sich überzeugen und lief zurück zur Pension. Ihre Mutter war da. Das Schuldgefühl fiel von ihr ab. Erschöpft ließ sie sich von ihrer Mutter den Hergang erzählen: „Wir kamen an die Wegkreuzung, Vater wollte geradeaus die Straße laufen, dazu hatte ich keine Lust. Ich sagte, dass Du auf dem Waldweg vielleicht irgendwo wartest und ich deswegen dort lang laufe. Ich war schon bald hier im Dorf und entschied mich in Ruhe einen Cafe zu geniessen.“
Den Rest der Geschichte kann Erika sich leicht vorstellen. Der Vater war enttäuscht, dass er alleine laufen musste. Er wurde immer ärgerlicher, dass seine Frau sich abgesetzt hat. Auch er war ein Spezialist darin, Schuldige zu suchen. Bis er wieder im Dorf war, hatte er Erika ausgemacht und einen Satz formuliert, der eine Waffe war: „sie irrt durch den Berg und sucht dich.“ Das war seine Rache, Rache an Erika, weil seine Frau nicht gerne mit ihm auf Asphalt läuft.
Ja, diese Geschichte geht Erika durch den Kopf, als sie im Bett liegt und sich ganz langsam entspannt, weil ihre Mutter wieder zurück zu Hause ist. Das heute ist anders als damals. Erikas Gefühle sind sehr ähnlich. Heute fühlt sie sich schuldig und das stimmt so auch. Damals fühlte sie sich auch schuldig, aber sie wurde nur als Blitzableiter benutzt. Der Vater brauchte das öfter mal, Wut konnte in ihm leicht überkochen

Schuld! Was für ein Stachel! In dieser Familie wurde dieser Stachel immer wieder benutzt. Ist das in anderen Familien eigentlich auch so? Erika ist leider nicht in der Lage das zu durchschauen. Sie hat sich ja als kleines Mädchen immer eine kleine Schwester gewünscht. Vielleicht um auch mal mit diesem Stachel überlegen zu spielen, um auch mal jemanden manipulieren zu können? Wer Schuld hat, hat ja auch Macht. Aber auch dieser Gedanke ist ihr nicht klar, als sie hier im Bett liegt und immer noch versucht sich zu entspannen. Sie weiß nur, sie fühlt sich schuldig. Mit diesem Gefühl schläft sie irgendwann ein.

Samstag, 16. Mai 2015

Der rote Mond Trampolin

Erikas Leben bestand aus Einsamkeit und Langeweile, so war ihr subjektives Empfinden. Wenn man jetzt mal genau hinschaut, dann wurde sie eigentlich doch ganz nett bespaßt. Zweimal die Woche ging sie zum Schwimmtraining, das machte sie schon seit Jahren, mit den Leuten dort war sie vertraut, aber nicht eng. Dann gab es ja ihre Freundin Corinna, von gegenüber, diese Freundschaft nahm langsam wieder Fahrt auf, Corinnas Mutter hatte ihren Widerstand vielleicht aufgegeben, keiner weiß warum, jedenfalls wurde der Kontakt wieder zugelassen. Dann gab es noch Otto und seine Clique. Otto wollte normalerweise nicht, dass Erika dabei war, wenn er sich mit seinen Freunden traf, aber irgendwie schaffte Erika es immer wieder dabei zu sein. So gesehen kann man also sicher nicht sagen, dass das arme Kind zuviel allein war.
 Seit ihrer frühesten Kindheit lief Erika Otto und seinen Freunden hinterher. Sie wollte immer dabei sein, immer mitspielen. Natürlich wollte der Bruder sich seiner kleinen Schwester oftmals entledigen.  Die ewigen Freunde von Otto waren schon freundlicher zu Erika als Otto, beteiligten sich aber oft auch an Ottos sadistischen Spielchen mit Erika, die ja verständlich waren, da Erikas ständige Anwesenheit ihm mächtig auf die Nerven ging. So lernte Erika früh auf sich aufzupassen, rechtzeitig abzuhauen, aber auch, dass sie dabei sein kann um ignoriert zu werden. Sie war wohl daran gewöhnt, geduldet zu werden, aber nicht gemocht, nicht gesehen und nicht gewertschätzt.
Wenn Erika nachmittags tatenlos vor ihren Hausaufgaben saß, fühlte sie sich aber einsam. Sie spürte nach innen und stolperte in einen tiefen Abgrund. Dort fand sie keinen Halt und keinen Boden. Sie musste raus aus ihrem Zimmer, raus aus dem Gedankenkarussell um wieder auf die Spur zu kommen. Aber oft war sie schon so gefangen in ihrem traurigen Abgrund, dass ihr nichts mehr einfiel. Die Rettung war, wenn sie Corinna den Weg zum Haus kommen sah. Corinna, ihre Busenfreundin, da hatte sie  viel vertrauen.
Die Situation in der Schule veränderte sich schleichend. Erika hat sich wohl mit ihrer Isolation abgefunden, als sie den Hinweis bekam, dass alle Mädchen zum Trampolin springen gehen. So ein Hinweis war für Erika schon eine Einladung. So stand sie mit den Mädchen in einer fremden Turnhalle um ein Trampolin herum. Das Springen machte ihr großen Spaß, noch viel besser war natürlich mit den Mädchen aus ihrer Klasse einen gemeinsamen Termin zu haben. Der Trampolin-Termin überschnitt sich mit ihrem Schwimmtraining. Also machte sie schnell Nägel mit Köpfen und ging nicht mehr zum Schwimmen. Es dauerte nur wenige Wochen, bis alle Mädchen wegblieben, bis auf Jutta. Jutta war ein ganz stilles Strebermädchen. Das Trampolinspringen machte Erika schon Spaß, aber nach kurzer Zeit merkte sie, wie sehr ihr das Schwimmen fehlte. Dieses Einschlagen auf das Wasser, dieses Auspowern, das brauchte sie. Zurück ins Training, der Weg war ihr unangenehm. Viel einfacher war es zum Verein im Nachbardorf zu wechseln. Dort wurde sie mit offenen Armen empfangen, weil sie ja auch ganz gut schwimmen konnte. Die hatten dort die gleichen Trainingszeiten wie ihr alter Verein. Also entschied sie sich nach kurzer Überlegung das mit dem Trampolin doch sein zu lassen. Das war ein bisschen Schade, aber nicht schlimm. Das ganze hin und her hätte sie sich sparen können. Aber doch, alles war gut, die neuen Leute waren offen für sie und da gab einige ältere Jungs. Das neue Bad war auch nicht schlecht. Es war ein Freibad, ziemlich neu gebaut, mit Sprungturm und extra Becken. Das war schon alles ganz schick.
Es ist ein schöner Tag im Sommer, Erika übt sich am Sprungturm. Sie hat sich selbst einiges erarbeitet. Salto, eineinhalbfacher Salto. Das macht ihr Spaß, sie hat dabei ein super Körpergefühl. Die großen Jungs sind auch da, Erika ist mit denen in ganz selbstverständlichem Kontakt. Da ist nichts schwieriges, das sind einfach nette Jungs. Mit dem Einen ist es besonders nett. Den ganzen Nachmittag. Sie haben sich geneckt, gejagt, gespielt. Die Sonne scheint, das Bad ist toll, ein schöner Tag.  Silke, eine ihrer Vereinskolleginnen steht bei Erika, sie schauen zu den Jungs rüber, sie fragt: „bist Du in den Heiner verliebt?“
Die goldene Spätnachmittagssonne liegt über dem Bad. Erika weiß keine Antwort. Die Frage prickelt ihr durch den Körper, der Blick auf Heiner und den ganzen Nachmittag verändert sich in dem Moment. Bilder aus dem Fernsehen gehen ihr durch den Kopf. Die Frage verändert hier und jetzt ihr Leben. Da drüben steht Heiner, golden von der Sonne bestrahlt schaut er erwartungsvoll zu Erika, lächelt verschmitzt, was würde sie als nächstes tun. Er reagiert noch auf die Erika von eben. Aber Erikas Leben hat sich eben verändert. Sie ist jetzt in Liebesdingen unterwegs. Nun nähert sie sich Heiner als Frau, nicht mehr als Kind. Nähert sie sich noch? Der neue Zustand legt sich wie eine Fesselung um sie. Sie ist nicht mehr frei und fröhlich, sondern sie muss sich in einen Verhaltenskodex  fügen, den sie nicht kennt. Trotzdem fühlt sie sich beschwingt und beflügelt, sie phantasiert von einem neuen Lebensabschnitt. Der vermeintlich neuen Situation mit Heiner fühlt sie sich aber gerade gar nicht mehr gewachsen. Also geht sie nach Hause.
Auf dem Weg nach Hause braucht sie sich nicht mehr verhalten, sie kann sich Vorstellungen hingeben. Das ist schön, spannend und aufregend. Also, es ist entschieden, sie ist verliebt und Heiner sollte doch auch in sie verliebt sein, oder? Ja, doch, unbedingt. Der Gedanke besetzt sie immer mehr, steht in ihrem Kopf ganz im Vordergrund. Sie platzt fast vor Neuigkeiten. Im Wohnzimmer trifft sie ihre Mutter. „Mutter, ich glaube, ich bin verliebt…!“

„Ach, meine Kleines, ich freue mich!“ Antwortet die Mutter und nimmt Erika fröhlich in den Arm. Erika beschließt ihrer Mutter nie wieder etwas Intimes mitzuteilen. Die Worte, die Umarmung, das scheint zu passen, aber Erika spürt etwas ganz Unpassendes. Es ist nicht fassbar, Erika ist ganz unangenehm berührt von der Situation, deswegen auch ein bisschen verwirrt. Das scheinbar so passende Verhalten ihrer Mutter, dazu dieses befremdende Gefühl. Nie wieder!

Sonntag, 10. Mai 2015

Der rote Mond Das Schambein

Os pubis ist das Schambein, dann ist die Pubertät die Schamzeit, ja? Für Erika bestimmt. Sie muss sich ständig schämen, oder wird beschämt. Wenn sie sich schämt, so ganz frisch, dann kann sie immer nichts mehr sehen. Sie ist dann nicht blind, sie findet ihren Weg, aber sie sieht nur noch rot und ihr Kopf ist hohl. Der letzte Satz schwingt wie ein Pendel in ihrem hohlen Kopf hin und her, stößt am Knochen an, kommt zurück. So geht das, bis sie sich irgendwo in sich verkrochen hat, dort kann sie ihre frische Wunde lecken, kurz die anderen Narben überprüfen und dann kommt sie wieder vor. Nun könnte man denken, dass sie sich vorsichtig verhält, weil Scham ihr so viel ausmacht. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Erika akzeptiert keine Grenzen, keine Konventionen und keine Moral. Das enge Halsband der ungeschriebenen Gesetze, dass Zwölfjährige sich gegenseitig umlegen, nimmt Erika den Atem. Keinesfalls kann sie sich anpassen. Auch das pastorale Moralkorsett, das ihre Mutter ihr überstülpen will, ist ihr zuwider. Sogar ihre Helden, ihre großen Brüder, mit ihren Verhaltenskodexen, sind ihr zu kleingeistig. In sich drin kann sie manchmal, wie einen kurzen Hauch, Freiheit spüren. Freiheit, richtige Freiheit, ganze Freiheit. Dieser Hauch treibt sie an. Scham ist egal. Das wird in Kauf genommen. Sie macht einfach was sie will. Das hört sich jetzt vielleicht gut an, ist es aber nicht, denn sie ist einsam und unzufrieden. Ihr Ziel ist eine Fata Morgana, ein Luftflimmern, meistens nicht sichtbar, es gibt ihr keinen Halt. Sie fühlt sich wie eine Getriebene, unwissend, was sie treibt und sie steht fast immer allein.
Wieder fuhren sie ins Landschulheim. Es war das gleiche wie vor zwei Jahren, als gäbe es nur ein Landschulheim in der Welt. Der Harz im Herbst war so trostlos wie Erikas Situation in der Klasse. Es gab nur zwei Räume für Mädchen. Der eine war schon besetzt als Erika hineinging. Die Mädchen von der Fensterreihe hatten sich rechtzeitig abgesprochen und schon alle Betten besetzt. Erika musste in den anderen Raum. Dort sammelten sich also die Übriggebliebenen. Die ganz braven, die prolligen und Erika. Sie fühlte sich so wenig zugehörig wie noch nie in ihrem Leben. Aber da war natürlich kein Platz für Heimweh, oder irgendwelche Gefühlsäußerungen. Die Proll-Mädels organisierten Flaschendrehen und hatten Jungs ins Zimmer eingeladen. Erika war froh mal dabei zu sein, sie war auch neugierig, sie hatte noch nie einen Jungen geküsst. Die Flasche drehte sich und genauso drehten sich die Ängste in Erikas Bauch. Wird die Flasche auf sie zeigen? Wird sie Widerwillen von dem Jungen spüren, wenn er sie küssen soll, wie wird ihr das schmecken? Allmählich überwogen die Ängste die Neugierde. Außerdem merkte Erika, dass sie sich gegenüber den Proll-Mädels abgrenzen muss. Da wollte sie keinesfalls in Kontakt. Fatma hatte solche Bedenken übrigens gar nicht, sie hat Erika später mal erzählt, dass sie mit Helke, der Proll-Zentrale, zusammen  ihren BH mit Taschentüchern vollgestopft hat, um dann solange an einer Baustelle auf und ab zu flanieren, bis die Bauarbeiter ihnen hinterher gepfiffen haben. Fatma hatte also keine solchen Berührungsängste, außerdem konnte sie sich auf dem Niveau amüsieren. Bei aller demonstrativen Nonkonformität hätte Erika das niemals gemacht und auch bestimmt keinen Spaß daran gehabt. Erikas Muttermilch war mit No-goes getränkt, solche Amüsements gehörten ganz sicher dazu.
Erika hatte Ziele, ganz klar wollte sie bei dieser Fenster-Mädchengruppe dazu gehören. Sie wollte eigentlich gut in der Schule sein. Aber sie ließ sich wie ziellos treiben. Sie hatte nicht das Gefühl Herr ihres Schicksals zu sein. Oder sie konnte den Zusammenhang zwischen Tat und Ergebnis nicht sehen. Wahrscheinlich meinte sie, dass sie sowieso immer das Falsche tut. Das Leben hatte aber sogar für Erika ab und an mal eine Überraschung parat:
Fatma zog in das Nachbarhaus.
Fatma, die Nase. Erika interessiert sich für das Mädchen. Warum, weiß sie nicht. Erika muss  immer mal mitfühlen mit Fatma. Fatma, an sich ein recht einfacher Name. Aber die Lehrer tun sich doch schwer. Sie schaffen es beständig diesen Namen falsch auszusprechen. Den Vogel abgeschossen hat der Chemie Lehrer. Er spricht den Namen englisch aus. Fettme macht er daraus. Das tut Erika regelmäßig weh. Jedesmal, wenn Fatmas Name falsch ausgesprochen wird, spürt Erika das körperlich, späht hinüber zu ihr und sieht Fatma scheinbar so unbeteiligt. Nun wohnt Fatma also neben ihr. Wenn Erika in ihrem Zimmer mit offenem Fenster sitzt, kann sie hören was bei Fatma so los ist. Die ganze Familie ist, gelinde gesagt, temperamentvoll. Sie streiten oft und das nicht geflüstert. Inhaltlich weiß Erika gar nichts, es wird meistens auf türkisch gestritten, aber trotzdem entwickelt sich ein Bild, wie es bei den Leuten so zugeht. So wird Erika Mitwisser, morgens ist sie Mitfühler, es entwickelt sich eine ganz eigene Nähe zu Fatma.

Diese Nähe ist aber unbeantwortet. Eben eigene Nähe. Erika hat keine Ahnung was Fatma spürt, oder ob diese Nachbarschaft für sie Bedeutung hat. Morgens haben sie jedenfalls gar nichts miteinander zu tun, abgesehen von Erikas Mitgefühl, für das sich Fatma offensichtlich nicht interessiert. Nachmittags ist es still bei den Nachbarn, abends beginnt ein unfassbares Geschrei. Wenn Erikas Vater so oft rumschreien würde, dann würde Erika ständig mit wackeligen Knien herumlaufen. In ihrem Kopf entstehen ganz viele Bilder über die Verhältnisse bei den Nachbarn, sie wird neugierig, wie es dort wohl wirklich zugeht. Erika hört ja nicht nur Fatmas Vater, auch die Mutter schreit schrill herum. Erikas Mutter ist still, verletzt und beleidigt, wenn der Vater wütet. Nach anfänglichem Entsetzen überwiegt bei Erikas Mitwisserschaft immer mehr die Neugierde. Diese Leute verhalten sich so anders als  Erika es kennt. Sie muss ihre Bilder im Kopf ständig berichtigen. Anfänglich ist sie bei Chaos und häuslicher Gewalt, sie wechselt zu ernsthaften, wichtigen Auseinandersetzungen, die hitzig ausgetragen werden, schließlich entscheidet sie sich für Lust am rumschreien, Luft ablassen, Druckausgleich. Sie wird noch eine ganze Weile mit ihrer Phantasie alleine bleiben, bis sie die Verhältnisse bei Fatma kennenlernt.

Freitag, 1. Mai 2015

Der rote Mond Fatma die Nase


Erster Schultag in der neuen Klasse. Neu ist für Erika immer gut. Es ist ein neuer Anfang, das sind für sie unbegrenzte Möglichkeiten. Da sind ganz viele neue Mitschüler. Erika hat Französisch gewählt und aus ihrer alten Klasse ist niemand dabei. Sie hat sich heute früh ein schönes Kleid aus dem Schrank gefischt, das sie nun austrägt. Die Freundin ihres großen Bruders hat ihr einige Kleider geschenkt, die sie nicht mehr anzieht. Für Erika ist das Kleid neu und da sie sonst meistens die alten Hosen ihrer Brüder aufträgt fühlt sie sich sehr gut gekleidet. Erika findet einen freien Platz, weit hinten, das ist gut, dann braucht sie keine Blicke im Nacken auszuhalten. In der ersten Stunde hört sie der Lehrerin nicht zu, sondern schaut sich in Ruhe die neuen Gesichter an. Am Fenster gibt es eine lange Tischreihe, da sitzen lauter Mädchen. Die gehören alle zusammen, das sieht Erika sofort. In Zentrum sitzt ein Mädchen, sehr still. Das Gesicht ist hinter vielen langen braunen Haaren versteckt, heraus schaut nur eine Nase. „Aha, eine Türkin“ denkt Erika. Was Erika für sich in dem Moment nicht realisiert, ist, das Fatma, die Türkin, genau an dem Platz sitzt, an den Erika möchte. Eingebettet, in der Mitte einer Mädchenreihe.
Erika ist beschwingt. In ihrer alten Klasse ging es ihr nicht gut. Sie hat nicht verstanden, was sie getan hat, dass sie ausgegrenzt wurde. Nun die neue Chance. Auch die vielen leeren Hefte erfreuen sie. Lauter Chancen. Wenn sie erstmal einige Seiten mit ihrer krakeligen Schrift bearbeitet hat, ist die Chance vergangen. Dann ist sie wieder eingefangen in ihrer Unzufriedenheit. Was ist das Gegenteil von emsig? Erika ist es, sie will es gut machen, theoretisch, sie will ihre Hefte mit schöner, ebenmäßiger Schrift und zufriedenstellenden Hausaufgaben bemalen, aber wenn sie dann nachmittags da sitzt und ihren eigenen Ansprüchen nachkommen sollte, dann reicht ihre Energie nicht. Dann macht sie entweder gar nichts, oder sie krakelt halt schnell mal was hin. Dafür gibt es immer einen Grund, jetzt ist es die Jahreszeit. Es ist Spätsommer, es wird Herbst, Rollschuhfahrjahreszeit. Da darf sie nicht fehlen. Sie ist die Meisterin, aber Meisterschaft macht auch einsam. Kaum hat sie die Hausaufgaben hingeschludert, greift sie sich ihre Rollschuhe, die sie mit einem Einweckgummi an ihren Füßen befestigt, weil die vordere Halterung schon lange kaputt ist. Dann rollt sie vor, zum kleinen Platz an der Sparkasse. Hier treffen sich alle Mädchen des Viertels zum Rollschuhfahren. Erika ist die Beste. Sie kann als Einzige rückwärtsfahren, sie kann sich im Kreis drehen, fährt am schnellsten und die besten Kurven. Hier stört sie ihre Einsamkeit nicht. Hier fühlt sie sich gut mit ihrem Körper, mit ihren Fähigkeiten. Auf dem Platz stehen große Kübel mit Blumen und kleinen Bäumchen, den ganzen Nachmittag dreht sie immer neue Runden um diese Hindernisse. Wenn der Himmel fahl wird und die Luft frisch, rollt sie nach Hause, beseelt und zufrieden. Ihre Hausaufgaben sind ihr dann völlig egal.
Ihren schönen Sitzplatz in der hintersten Reihe verliert Erika in kurzer Zeit. Ihre Sitznachbarin möchte, dass ein anderes Mädchen neben ihr sitzt. Erika fühlt sich so zurückgewiesen, dass sie den Platz kampflos aufgibt. Ihr neuer Platz ist jetzt genau vor dem Lehrerpult. So im Visier des Lehrers und die ganze Klasse im Rücken, das gefällt ihr überhaupt nicht, aber da war nichts anderes mehr frei. Nun sitzt sie neben so einem Brav-Mädchen. Sie ist sehr groß, hat schon Busen, sieht aber so sehr wie ein braves Mädchen aus, dass sie bei den Jungen gar kein Thema ist. Sie ist ihre neue Sitznachbarin, also tauscht Erika sich mit ihr aus, aber dabei kommt einfach gar nichts herum. Das Mädchen ist gar nicht ihr Typ. Eigentlich sitzt sie da vorne alleine. Auch in den Pausen kommt Erika nicht so in Kontakt mit ihrer neuen Klasse, wie sie sich das wünscht. Die Mädchenreihe ist in sich geschlossen, mit Jungs geht gar nichts. Erika schlendert auf dem Pausenhof herum, immer darauf bedacht, dass ihr Allein-sein nicht zu auffällig ist.

 Es ist die Zeit der Briefchen. Ständig kommen kleine Briefchen während der Unterrichtsstunde an, mit der Aufforderung zur Weiterleitung. Der Empfängername steht außen auf dem zusammengefalteten Papierchen, natürlich darf man nur weiterreichen, nicht lesen. Völlig unerwartet kommt mal ein Briefchen an, das an Erika adressiert ist. Das ist ja mal eine Freude, da will jemand was von ihr. Aufgeregt faltet sie das Zettelchen auseinander, sie soll nach der Stunde mal zu Angela kommen. Oh, Angela, da ist Erika aber gespannt, den Rest der Stunde kann sie sich kaum noch konzentrieren, sie rätselt, was Angela wohl von ihr will. Mit erwartungsfrohem Lächeln läuft sie durch die Klasse nach hinten. Es ist nur eine kleine Pause, die meisten Mitschüler sind auf ihren Plätzen geblieben. Erika fühlt sich linkisch und beobachtet. Nun steht sie bei Angela, an den Pult gebeugt fragt sie: „so, was gibt’s denn?“ Angela posaunt quer durch die Klasse: „hast du heute früh vergessen dein Nachthemd auszuziehen, oder was ist das, was du da anhast?“ Es ist eines von den Kleidern von Thomas´ Freundin. Es ist weiß, mit ganz vielen kleinen Blumen darauf, Erika mag sich in dem Kleid. Wortlos und gequält geht Erika zurück an ihren Platz. Sie kann nicht denken, die Feindseligkeit hat sie überrascht, sie schämt sich und hat das Gefühl, dass alle sie anschauen. Eigentlich mag Erika es gern, wenn sie im Mittelpunkt steht, aber natürlich nicht so. Angela wird sie in Zukunft aus dem Weg gehen und sich nicht mehr von solchen Briefchen lackmeiern lassen. Aber geht sie nicht sogar allem aus dem Weg? Den Mitschülern, dem Unterricht. Sie scheint eine bewegliche Puppe zu sein, die eigentliche Erika ist irgendwo in den Keller gesperrt, das hört sich schlimm an, ist aber nur zu ihrem Schutz.