Samstag, 25. April 2015

Der rote Mond Erika im Spiegel

Endlich ist mal richtig was los zu Hause. Nicht Besuch, oder so, sondern es ist Bewegung da, Veränderung hängt in der Luft. Der große Bruder Thomas hat eine tolle Freundin. Sie kommt von ganz weit weg, China oder so und spricht ihr deutsch weich. Erika findet das schön und würde den Akzent am liebsten imitieren, weil es sich so nett anhört. Erika findet die Frau sowieso ganz toll. Zeitlebens hatte sich Erika eine Schwester gewünscht, eigentlich eine Jüngere aber nun bringt der Bruder eine Frau ins Haus, die ab jetzt irgendwie dazu gehört. Die Frau ist nicht nur nett, sie ist auch zugewandt. Sie redet mit Erika, nicht viel, aber Erika merkt immerhin, dass sie wahrgenommen wird. Und boah, sieht die toll aus. So schlank! So schlank wird Erika nie sein. Der große Bruder mahnt Erika bei jedem Sonntagsessen, dass sie weniger essen soll, weil sie schlanker sein soll, schon seit Jahren. Das bewirkt leider nicht, dass Erika weniger isst, sondern nur, dass sie mit einem schlechten Gefühl viel isst. Manchmal, wenn sie allein ist, steht Erika vor dem Spiegel und beguckt ihren dicken Bauch. Das kann sie nur, wenn sie allein ist, denn der Blick in den Spiegel ist nur zum Haare bürsten erlaubt, alles weitere ist Eitelkeit. Da steht Erika aber auf dem Schlauch. Sie will sich lange und in Ruhe anschauen. Sie würde gerne sehen, was andere sehen, wenn sie sie ansehen, sie würde gerne probieren, wie sie hübscher aussehen könnte. Das macht sie also nur, wenn sie allein ist. Dann schaut sie sich ihre Figur an, dazu muss sie den Spiegel von Haken nehmen und vorsichtig auf einen Stuhl lehnen. Mit entsprechendem Abstand, kann sie sich bis zu den Knien betrachten. Das reicht, von den Knien runter sehen alle Mädchen gleich aus. Sie schaut sich an, dann ist sie unzufrieden und muss ihrem Bruder recht geben, sie sollte weniger essen. Der Spiegel kommt wieder an den Haken, nun nimmt sie sich Zeit für ihr Gesicht. Eine zugeschlossene, misstrauische Maske schaut aus dem Spiegel zurück. Die Haare sind seitlich streng mit einer Klemme festgemacht, genauso scheint ihre senkrechte Stirnfalte in dem Gesicht festgeklemmt. Was Erika da sieht ist unattraktiv und langweilig. Sie kann den Blick in den Spiegel  nicht länger ertragen.
Erika sollte sich besser nicht mit der schönen und freundlichen Frau vergleichen, die der große Bruder immer mitbringt. Wenn Erika es schafft, den Vergleich zu vermeiden, genießt sie es sehr, dass noch eine weitere Frau da ist. Alle mögen die Frau, außer dem Vater natürlich. Erika findet daran nichts besonderes, der Vater mag ja sowieso fast niemanden. Der große Bruder ist noch gar nicht so sehr alt, aber trotzdem will er die Frau heiraten. Jetzt versteht sogar Erika, dass die Meinung des Vaters  wichtig ist. Der Vater ist eigentlich nicht ausländerfeindlich, aber eben sehr misstrauisch. Die Frau kommt ja von sehr weit her, der Vater misstraut ihren Gefühlen und wittert niedere Beweggründe für ihren Heiratswillen. Er ist dagegen. Erikas Mutter ist da ganz anders. Natürlich ist sie eine Mutter, wie alle Mütter. Alle Mütter haben Angst vor Schwiegertöchtern, Sohnräuberinnen. Aber die Mutter ist klug, sie empfängt die junge Frau mit offenen Armen, so bleibt der Weg zum Sohn offen. Der Mutter ist es auch ganz egal, aus welchem Land die Schwiegertochter kommt, sie spürt die starken Gefühle des Sohnes und ist einverstanden. Dadurch gerät die Mutter in offene Konfrontation mit dem Vater. Die beiden ziehen ja eigentlich nie an einem Strang. Oft sieht die Mutter die Dinge anders als der Vater, Harmonie ist für beide ein Fremdwort, aber durch den heiratswilligen Sohn gerät die Ehe der Eltern in Gefahr.

Eines Nachmittags fährt die Mutter zum Bruder in die große Stadt, sie will mit ihm reden. Erika darf mit. Erika weiß, die Mutter hat ein wichtiges Anliegen. Erika darf mit, aber nicht stören. Erika will ja immer, überall dabei sein, also ist sie zufrieden. Die Zwei reden lange miteinander, Erika wird schnell langweilig, sie hört nur noch mit einem Ohr zu und schaut sich lieber in der fremden Wohnung um. Als die Mutter das Wort „Scheidung“ ausspricht, spitzt Erika dann doch wieder die Ohren. Es ist Erikas großer Wunsch, vom Vater getrennt zu Leben. Das stellt sie sich großartig vor: die Restfamilie würde ihre Zeit in ewiger Harmonie und Sonnenschein verbringen, wenn der Vater nicht mehr dabei wäre. Der Vater ist ja auch schon sehr alt, oft wünscht sich Erika, dass er tot sei, das wäre auch eine gute Lösung. Nun also „Scheidung“, Erika hört den Bruder antworten: „dann kommt der Vater, verspricht Erika das Blaue vom Himmel und sie zieht zu ihm, willst du das, Mutter?“ Was für ein Schwachsinn, denkt Erika, um nichts in der Welt würde ich zu dem ziehen, ich würde immer bei meiner geliebten Mutter bleiben. Aber sie kann es nicht sagen, sie wird sowieso nicht gehört und sie hatte fest versprochen nicht zu stören. Wenn der große Bruder das sagt, dass sie für ein paar kleine Versprechungen käuflich ist, dann glauben das Alle, egal was Erika dazu sagen würde. Erika ist mal wieder entsetzt und verzweifelt, wie ihre Familie über sie denkt. Sie versteht nicht, dass der Bruder sie nur vorschiebt, weil er die Verantwortung nicht tragen will. Diese lustige Familie: die Mutter will die Verantwortung auf den Sohn abschieben, der schiebt sie weiter, an die kleine Schwester. Da ist niemand mehr, an den Erika weiter schieben könnte, Erika versteht das alles zwar noch nicht, aber sie trägt. Sie weiß nicht was das ist, aber es ist schwer.

Samstag, 18. April 2015

Der rote Mond Erika und Corinna


Sie sitzt in ihrem Zimmer und übt den täglichen Kopfsprung in den Abgrund. Es ist die immer gleiche Übung: Sie sitzt in ihrem Zimmer, eigentlich sollte sie Hausaufgaben machen, aber das gelingt ihr nicht. Anstatt dessen denkt sie über ihre Situation nach. Nein, es ist nicht ihre Situation, damit fängt sie nur an und das ist schon schlimm, aber dann denkt sie über sich selbst nach und da tut sich der Abgrund auf. Sie stürzt ins Bodenlose. Sie findet keinen Halt in sich, findet aber auch keinen Boden.
So sitzt sie da, schaut aus den großen Fenstern, über den Garten zur Straße. Der Vater hatte das Haus an eine damals sehr untypische Stelle gesetzt. Es steht nicht vorn, an der Straße, sondern am hinteren Ende des Grundstücks. So muss jeder, der zu Besuch kommt, erstmal den langen Weg laufen, bevor er an der Tür klingeln kann. Da ist für Erika und andere, die im Haus aus dem Fenster schauen, viel Zeit den Besucher zu betrachten. Zum Beispiel ihre Freundin Corinna, wenn die von gegenüber kommt, hat sie meistens den Blick auf den Boden gesenkt. Sie weiß, dass sie beobachtet wird und wundert sich schon lange nicht mehr, dass Erika ihr öffnet, bevor sie klingelt. Der Garten vor dem Haus hat etwas protziges, ist aber auch wunderschön. Wie ein Park, mit den großen Bäumen, Erika bewundert den Garten jedesmal, wenn sie bei Corinna zu Besuch ist. Corinna wohnt  genau gegenüber, sie hat ihr Zimmer im zweiten Obergeschoss, von dort hat man einen wunderbaren Blick auf Haus und Garten. Oft steht Erika dort am Fenster und schaut auf ihr zu Hause. Mit Abscheu und Bewunderung. Von hier oben hat sie mal ein bisschen Distanz. Erika quatscht Corinna  mit ihren Problemen voll. Corinna ist ein freundlicher Mensch, sie lässt das zu, es interessiert sie ja auch. Die zwei sind beste Freundinnen. Endlich wieder sind sie beste Freundinnen. Das waren sie schon in der Grundschule, das war lustig, damals, sie hatten immer die gleichen Noten. Auch im Zeugnis, absolut identische Noten, aber Erika sollte weiter auf das Gymnasium, Corinna auf die Realschule. Die Beiden wollten nicht getrennt werden. Mit den Zeugnissen in der Hand, aber nur wenig Hoffnung,  sind sie vorgegangen, zur Lehrerin, um zu fragen, wie das geht: identische Zeugnisse, verschiedene Schulzuweisungen. Die Lehrerin war ungehalten, natürlich hatte sie keine Erklärung  für die Mädchen, „das ist eben so“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Erika und Corinna waren traurig über die Trennung, aber sie wohnten ja so nah beieinander, dass sie zuversichtlich waren, ihre Freundschaft würde eben nachmittags weiter gehen. Corinna wohnte im zweiten Stock. Die Wohnung der Familie war im ersten Stock, aber sie war klein, also wurde für Corinna im Dachgeschoss ein Zimmer hergerichtet. Erika hätte sich an der Wohnung vorbeischleichen können und einfach im Treppenhaus weiter nach oben zu Corinna gehen können. Aber das war verboten. Corinnas Mutter hatte Ohren wie ein Luchs und die Treppe knarzte. Es war besser das nicht zu probieren. Corinnas Mutter hatte sowieso was gegen Erika. Corinnas Mutter entschied über gut und böse. An ihr hing Erikas Wohl. Scheinbar nach Lust und Laune entschied sie Corinna hat Zeit- hat keine Zeit. Also schwitzte Erika jedesmal, wenn sie da stand, vor der Tür. Sie wurde oft abgewiesen, oder es wurde gar nicht geöffnet. Das war schlimm. Erika wusste, dass Corinna da war, aber ihre Mutter wollte nicht, dass die Zwei miteinander spielten. Oftmals unterhielten sie sich nur, oder Corinna wollte Stadt-Land-Fluss spielen. Da verlor Erika immer. Manchmal  schauten sie sich die Bravo an, die Corinna  kaufte. Oder Erika stand am Fenster, mit dem Blick auf zu Hause und sprach ihre Gedanken laut aus. Das reinigte sie. Corinna war eine gute Zuhörerin.

Es gab eine Zeit, da wurde Erika an der Tür ständig abgewiesen. Sie hatte dafür keine Erklärung. Irgendwie passte Corinnas Mutter der Kontakt ihrer Tochter mit Erika gar nicht mehr. Nach der Abweisung an der Tür ging Erika dann aber nicht nach Hause, sondern sie stellte sich an ihren Gartenzaun, mit Blick auf Corinnas Fenster. Dafür musste sie den Kopf ganz in den Nacken legen. Jeder ältere Mensch hätte einen steifen Nacken bekommen. Erika stand da nämlich richtig lange. Sie fixierte Corinnas Fenster, als könne sie dadurch Corinnas Erscheinen am Fenster erzwingen. So stand sie da, auf dem Fußgängerweg, an den heimischen Zaun gelehnt, scheinbar stundenlang. Es gab keine Alternative. Wenn sie nach Hause ginge, würde ihre Einsamkeit sie überwältigen. So stand sie da, sie war sich der demonstrativen Blödheit ihres Verhaltens bewusst. Die Passanten sahen sie da jeden Nachmittag stehen, den Kopf im Nacken, still wie eine Skulptur. Dort stehen war furchtbar, heimgehen noch viel schlimmer.

Samstag, 11. April 2015

Der rote Mond Erika bei den Ratten


Alles hat sich verändert. Aber auch alles. Alles zum Schlechten. Das wird Erika nach und nach klar. Sie fühlt sich jetzt zwar präsenter in der Welt, dadurch fühlt sie ihre Ohnmacht aber nur mehr. Man könnte eine lange Veränderungsliste schreiben. Sie ist auf das Gymnasium gekommen. Neues Spiel- neues Glück? Nein, keinesfalls. Sie ist kein Spieler, sie ist eine Figur, die willkürlich hin und her gerückt wird. Sie hat sich gefreut mit Otto auf derselben Schule zu sein. Aber da sind so viele, sie findet ihn gar nicht, außerdem weiß sie ja, dass sie ihm nicht hinterher rennen soll. Die Klassenkameraden sind komisch. Nene, ist schon klar, die Klassenkameraden finden sie komisch. Sie versteht aber gar nicht warum. Sind es ihre Anziehsachen? Sie muss ja immer die alten Sachen von ihren Brüdern auftragen. Das findet sie auch nicht so toll, sie würde sich lieber schöne, bunte Mädchensachen anziehen. Aber, kann das ein Grund sein, dass sie ausgeschlossen wird? Oder mag es ihre Art sein? Sie kann sich da kaum sehen, aber ja, sie ist verdrießlich und gleichzeitig vorlaut. Schon eine komische Mischung. Ach ja, und wenn man sie lässt, ist sie eine Besserwisserin. Tja, ja, kommt wohl nicht so gut an, aber in der Grundschule hatte sie diese Probleme überhaupt nicht. Sie war immer so zufrieden mit ihrer Position in der Klasse, dass sie das Thema gar nicht kannte. Und jetzt ausgeschlossen. Die blöde Kuh, die immer falsch ist, egal, was sie macht. Schon vor den Herbstferien fuhren sie ins Landschulheim. Dort haben sich dann noch alle über ihren Schlafanzug beölt. Was ist daran so komisch? Schlafanzüge bekommt sie immer zu Weihnachten von ihrer Tante aus der DDR. Da ist noch eine extrem lästige Veränderung: die Schule fällt ihr nicht mehr so leicht. Erika war gewohnt, dass sie alles gut mitkriegt und sich um nichts kümmern braucht. Jetzt müsste sie Hausaufgaben machen, sich richtig hinsetzen, Vokabeln lernen. Das erscheint ihr anstrengend. Sie kann sich dazu nicht aufraffen. Also rutscht sie ab, mit den Noten. Die Versetzung ist immer wieder gefährdet. Wie gesagt, extrem lästig, aber Hausaufgaben macht sie nicht.
Als sie zurückkommen aus dem Landschulheim steht ihre Mutter da, um sie abzuholen. Noch im Bus erkennt Erika am Gesicht ihrer Mutter, dass etwas passiert ist. Der Vater hatte einen Herzinfarkt. Das findet Erika erstmal nicht so schlimm, wie das Gesicht ihrer Mutter. Erika ist so zugeschnürt gegenüber ihrem Vater, dass sein Schmerz und seine Krankheit ihr gar nichts ausmachen. Aber das dicke Ende kommt bald. Der dritte, ganz große Punkt auf der Veränderungsliste. Obwohl, vorher, doch, doch, wie der Vater da liegt, im Krankenhausbett, so klein, so schwach, leise und fast zart, das findet Erika komisch, befremdlich, berühren lässt sie sich davon aber nicht. Das übliche Brimborium, Krankenhaus, Kur, der Vater kommt wieder auf die Füße, aber er verändert sein Leben völlig. Er ist nicht mehr so viel unterwegs. Er arbeitet jetzt von zu Hause aus. Erika war daran gewöhnt, dass er fast immer weg war. Für sie war die Welt zweigeteilt: Vater weg-gut. Vater da-schlecht; abtauchen, verstecken. Jetzt gibt es nur noch Vater da. Wie ein dunkler Schatten überlagert er ihre Welt. Er ist ja fast immer schlecht gelaunt und dann gibt es noch häufige Wutanfälle. Der Vater ist immer misstrauisch, er erwartet  nichts Gutes. Erika sucht gar nicht erst nach einem guten Weg zu ihm. Da gibt es auch keine Vorbilder in der Familie. Alle versuchen abzutauchen, wenn der Vater auftaucht. Jetzt ist er immer da. Erika kann nicht immer tauchen. Sie versucht es mit Unauffälligkeit und ihm aus dem Weg gehen. Bei jeder Mahlzeit sitzen sie jetzt zusammen am Tisch. Oft betrachtet sie ihn. Er scheint so konzentriert auf seinen Teller, dass er das nicht merkt. Wenn sie ihn so betrachtet, fühlt sie immer nur Abscheu. Bei ihren Mahlzeiten sitzen sie jetzt  nur noch zu Viert. Das ist die weitere große Veränderung. Die großen Brüder sind weg. Erst zum Bund und dann zum Studieren. Das Haus ist so viel stiller geworden. Erika hat keine breiten Schultern mehr, hinter denen sie in Ruhe gelassen wird. Ihre großen Brüder sind doch ihre Helden. Die eigentlichen Autoritäten, die ihr sagen wo das Leben lang geht.
Manchmal kommen die Brüder nach Hause. Dann ist das Leben ein Fest. Alles ist wieder fröhlich, ausgelassen, laut. Auch die Mutter taut auf, wenn ihre großen Jungs kommen. Sonst verbringt sie ihr Leben in der Warteschleife. Alle Pflichten empfindet sie lästig und nicht lustig. Wenn sie die abgearbeitet hat setzt sie sich mit Cognac und Zigarette. Das ist wohl ihre einzige Freude. Oder eben, wenn einer Ihrer Jungs auftaucht. Dann wird sie lebendig. Erika will dann überall dabei sein und genießt auch alles. Das Zuhause wird dann vorübergehend sonnig, alles ist gut. Das Licht wird wieder ausgeschaltet, wenn der Bruder wieder abreist. Alles versinkt wieder in Lethargie, Monotonie, Lieblosigkeit.

Thomas  wohnt ja in der nächsten großen Stadt. Er hat keinen weiten Weg, kommt öfter mal vorbei. Eines Abends ist er mit seiner Freundin da, als Erika vom Schwimmtraining nach Hause kommt. Nach dem Schwimmen hat Erika immer riesigen Hunger, naja, eigentlich hat sie immer Hunger.  Jetzt, für den Bruder hat die Mutter richtig lecker gekocht. Erika genießt das Essen und sagt dann: „wenn ich groß bin ziehe ich ganz weit weg, damit Mutter für mich auch richtig lecker kocht, wenn ich dann mal nach Hause komme. Wegen euch gibt es hier so lecker, für mich kocht Mutter nur den letzten Scheiß.“ Oohh. Eklat. Die Mutter zerrt Erika in die Küche und schimpft auf sie ein. Sie soll sich beim Bruder und der Freundin entschuldigen. Hää? Warum? Erika versteht das nicht. Aber sie ist erschrocken über die starke Reaktion, die ihre Worte ausgelöst haben. Sie ist eigentlich gewohnt, dass ihre Äußerungen scheinbar ungehört verpuffen. Also gut, betroffen und doch eher ferngesteuert geht sie zurück ins Wohnzimmer. Die Frau sitzt auf Thomas´ Schoß, beide schauen Erika erwartungsvoll an. Erika geht hin und sagt die entschuldigenden Worte, die sie nicht spürt. Damit löst sich die Situation, aber Erika bleibt irritiert davon. Sie fühlt sich nämlich weiterhin im Recht. Sie hat einfach nur wahre Worte ausgesprochen. Die Mutter kocht in letzter Zeit oft richtigen Mist. Kürzlich gab es Reste. Klar, Reste müssen schon mal sein, aber die Mutter hatte Blumenkohl mit Sauce hollandaise einfach mit Bolognese Soße gemischt. Das geht doch zu weit. Der Hunger treibt es rein. Ja. Die Mutter hatte jetzt die Talsohle ihres Daseins erreicht und dort würde sie noch einige Jahre verbringen. Die Freudlosigkeit der Mutter wirkte sich direkt auf Erikas Lebensgefühl aus. Sie war schon im Keller, der Zustand der Mutter zieht sie noch weiter runter, zu den Ratten. 

Samstag, 4. April 2015

IG Farben das Telefon ist kaputt

Heute ist ihr Geburtstag. Im Haus wird kein großes Gedöns darum gemacht, das ist ihr recht. Bei 25 Leuten wäre das rein statistisch alle 2 Wochen Gedöns, das wäre ja auch ein bisschen viel. Sie verbringt einen schönen, ruhigen Tag. Sie fühlt sich ausnahmsweise mal ganz wohl mit sich selbst. Was auch ganz gut ist: das Telefon ist kaputt, es kann sie keiner anrufen. Zwischendurch überlegt sie mal, ob sie zur Telefonzelle laufen sollte, um zu Hause anzurufen: „wolltet ihr mich vielleicht anrufen und gratulieren, dann tut das jetzt, weil unser Telefon ist kaputt.“ Ne, keine Lust, sie genießt den lauschigen Abend. Morgen wird das Telefon repariert und dann ist noch früh genug für Gratulation. Am folgenden Mittag, kaum ist das Telefon fertig repariert, da klingelt es schon. Roth geht ran, es ist ihr Lieblingsbruder. „Norbert, hallo, Du möchtest mir wohl gratulieren…“ blökt sie aufgedreht ins Telefon. „Nora…warte mal, ich hole Mutter!“ Roth hat einen Augenblick Zeit sich zu wundern. Der Weg zum Telefon ist bei ihr zu Hause sehr weit, es steht im Arbeitszimmer ihres Vaters, das ist ziemlich abgelegen. Warum hat er nicht zuerst gratuliert? Warum war seine Stimme so komisch? Sie kann sich keinen Reim darauf machen und wartet auf ihre Mutter am Telefon. „Nora!“ „Hallo Mutter?“ Jetzt aber Glückwünsche und Segen. „Vater ist heute früh gestorben!“ Die Kellertür geht auf. Roth fängt sofort an zu heulen. „Nein… nein…. Ich komme!“ Das Gespräch ist beendet. Roth ist völlig überwältigt von dem Durcheinander in ihr drin. Die Kellertür steht offen und er fehlt ihr und er ist weg! Sie kann ihn nie wieder erreichen, sie wird ihm nichts mehr sagen können. Plötzlich spürt sie seine Bedeutung. Ihr Haus ist auf seinem Rücken gebaut. Er ist der Atlas, der ihre Welt trägt. Alles um sie herum fällt in sich zusammen und in ihrem Kopf öffnet sich ein riesiger Abgrund wie nach einem Erdbeben. Ihr Vater war ihr Schutz, ihre Sicherheit. Diese verwüstete Brachfläche, die sie in sich drin ausmacht, war befüllt von ihrem Vater. Bis eben hat sie das alles nicht gewusst. Die Kellertür war immer gut geschlossen. Zeitlebens war sie der Ansicht, dass sie ihren Vater hasst. „Am liebsten wäre mir, er wäre tot.“ Das hat sie oft gesagt, nicht zu ihrer Familie, die hätten das missbilligt, aber zu Freunden, es war ihre ehrliche Meinung. Sie hat ihren Vater immer nur als übellaunigen Störenfried wahrgenommen. Er war schon alt, als sie geboren wurde, er war immer alt, unnahbar, unerreichbar. Sein Tod war eine naheliegende und, aus ihrer Sicht sehr wünschenswerte, Idee.
Nun ist er tot! Da sind auch Schuldgefühle, weil sie sich das immer gewünscht hat, aber im Vordergrund steht der Verlust. Sie hatte mit ihm telefoniert. Ja! Das ist jetzt das Hälmchen, an dem sie sich festhält. Das war am Karfreitag, auch schon wieder einige Monate her. Ihre Mutter hat ja geschätzte 150 Pastoren in der Ahnenreihe, Karfreitag ist der größte Feiertag. Roth hat zu Hause angerufen und hatte ihren Vater am Apparat, was eingangs eigentlich immer der Fall ist. „Hallo Vater“ „Mutter ist nicht da, willst Du nachher nochmal anrufen?“ war seine Antwort auf die Begrüßung. Aus völlig unerfindlichen Gründen sagte Roth: „nee, lass mal, ich kann ja genauso gut mit Dir reden.“ Also redeten sie. Nicht lange, auch nichts Besonderes. Belanglosigkeiten, Alltäglichkeiten. Aber! Sie hat freiwillig mit ihm gesprochen! Das hatte sie noch nie, oder zumindest ewig nicht gemacht. Jetzt, nach seinem Tod ist das ihr Rettungsanker. Sie hat einmal freiwillig mit ihm gesprochen. Ja, sie hatten sich ganz nett unterhalten. So dies und das halt. Aber sie hat seine Stimme jetzt wieder im Ohr. Er war freundlich. Er war wahrscheinlich genauso überrascht wie sie, dass sie mit ihm reden wollte. Angenehm überrascht. Diese angenehme Freundlichkeit in seiner Stimme wird sie für den Rest ihres Lebens begleiten. Die Kellertür wird auch offen bleiben und die immense Bedeutung, die er in ihr hatte, wird ihr noch lange zu schaffen machen.

Abends ist sie zu Hause, bei ihrer Familie. Es ist tröstlich gemeinsam mit den Brüdern zu trauern. Sie stöbert im Schreibtisch ihres Vaters herum. Das hat sie früher öfter gemacht, meistens in feindlicher Absicht, um ihm Geld zu klauen, oder so. Sie schaut in sein Tagebuch. Sie ist erwähnt! Gestern Abend hat er versucht sie anzurufen, sie hatte ja Geburtstag, er hat sie nicht erreicht. Ja genau, das Telefon war ja kaputt. Gestern Abend…das war in einem anderen Leben