Freitag, 6. Februar 2015

IG Farben Trockenzeit


Es ist jetzt der dritte Tag ohne Alkohol. Alles ist völlig normal, nur das Feiern klappt halt nicht so gut. Dafür ist ihr Zimmer aufgeräumt, alle Bücher für das Seminar gelesen, was noch? Sie hat soviel Zeit! Morgens springt sie energiegeladen aus dem Bett, könnte Bäume ausreißen, aber keiner ist wach, der das mit ihr zusammen macht. Sie kann mit sich nichts anfangen, sie hat keine Hobbies, nichts wofür sie sich interessiert. Sie könnte spazieren gehen, das hat sie gestern früh gemacht, das war ganz lustig: sie lief ziellos durch die Straßen. Eigentlich ganz schön, die Sonne schien silbrig, die Temperatur war angenehm, nur ihre Ziellosigkeit war störend. Immer stärker bekam sie das Gefühl, das etwas  anders ist als sonst. Suchend schaute sie sich um. Leichte Verwirrung, da ist etwas deutlich anders, aber sie konnte es nicht ausmachen. Sie bog um eine Ecke und die Sonne blendete sie. Ok, ja, die Sonne steht im Osten, sehr verwirrend, das kennt sie nicht. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist sie nicht mehr vormittags aufgestanden oder aus dem Haus gegangen. Ganz neu: die Sonne geht im Osten auf.
Ja ja, so war das, aber was nun? Sie sitzt hier am Schreibtisch. Nichts zu tun. Sie geht zum Spiegel und betrachtet sich. Alles bekannt und auch nicht sonderlich erbaulich, sie will jetzt nicht anfangen mit ihren Äußerlichkeiten, also weiter zum Fenster. Da ist aber auch nicht viel zu sehen. Der Dachfirst gegenüber, ein Stück Himmel, einige Wolken werden vom Wind getrieben und verändern im Vorbeiziehen ihre Form. Das wirkt lebendig, immerhin lebendiger als ihr Leben. Sie fühlt sich wie Rilkes Panther. Oder wie ein Gepard im Zoo. Der Weg : Schreibtisch-Spiegel-Fenster-Schreibtisch. Ihr erscheint er wie ein ausgetretener Pfad. Aber nein, sie ist ja nicht eingesperrt in diesem Zimmer. Aber sie fühlt sich eingesperrt in ihrem Leben. Sie möchte ausbrechen, aus sich. Aber sie schafft es nicht, versucht hat sie es bestimmt schon hundertmal. Die Stille. Die Stille in ihr ist laut. Roth braucht immer Lärm um diese Stille zu übertönen. Und wenn sie angetrunken ist, dann ist sie so enthemmt, dass sie selbst auch noch viel Lärm machen kann, dann beherrscht sie die Stille. Sie ist wohl gar nicht süchtig nach Alkohol, das denkt Bionda. Roth ahnt, sie ist süchtig nach Gesellschaft, nach action. Sie will ständig mächtig bespaßt werden, damit sie ihre Verlorenheit in sich selbst nicht spüren muss. Nun beackert sie ihren Pfad, ihr Zimmerdreieck und wartet, dass die Zeit vergeht. Um Geldbeschaffung braucht sie sich jetzt auch nicht mehr zu kümmern. Vor einiger Zeit war sie mal wieder zu Hause, also in dem Kaff, wo sie herkommt. Am letzten Tag wollte ihr Vater mit ihr sprechen, das ist erwähnenswert, sie sprechen eigentlich nie miteinander. Mit einer Menge Scheine in der Hand erzählte er ihr eine Geschichte:
„Mädchen, kürzlich habe ich einen alten Bekannten getroffen. Der fragte mich: wie geht es Ihren Kindern? Ich antwortete, also, mein Ältester, der ist Ingenieur und hat eine gute Anstellung bei Esso. Mein Zweiter hat Mathematik studiert und ist jetzt als Systemanalytiker bei BMW angestellt. Mein jüngster Sohn studiert Jura und ist damit bald fertig…..    ….   Ja aber, fragt mich der Bekannte, sie haben doch auch noch eine Tochter? Ja, hmm, meine Tochter,… ich weiß nicht, was die macht, antwortete ich. Mädchen! Das ist so peinlich! Bitte, nimm das Geld und studier wieder!“
So war das. Mit einem schiefen Grinsen nahm sie das Geld und jetzt hat er auch wieder einen Dauerauftrag eingerichtet. Da Roth keine Miete bezahlt, kommt sie mit den paar Kröten, die ihr Alter locker macht ganz gut aus. Sie hat die Geschichte schon verstanden, er hat sie verleugnet. Aber sie weigert sich, das zu spüren. So, wie sie sich überhaupt weigert, irgendwas zu ihrem Vater zu spüren.
Aber da denkt sie jetzt mal gar nicht drüber nach, Kellertür bleibt zu, abgeschlossen, gesichert, verbarrikadiert, gepanzert.

 Ach ja, die Geschichte mit ihrem ersten Vollsuff hängt auch mit ihrem Vater zusammen. Sie waren im Urlaub in Österreich. Es war Sommer, die Mutter kaufte für Roth und ihren Bruder ein kleines Gummiboot. Das war der absolute Renner, eigentlich waren sie schon viel zu alt für ein Gummiboot. Nicht mal einer von beiden konnte darin sitzen ohne unter zu gehen. Roth hätte schon immer gerne so ein Gummiboot gehabt. Jedenfalls spielten sie den ganzen Tag im Wasser mit dem Gummiboot. Der Vater wollte nun auch mit Großzügigkeit  hervorkommen: er lud ein zu einem zünftigen Abend. Sie fuhren mit dem Auto auf einen Hügel, dort war ein sehr volles Lokal. Sie fanden einen Tisch und nun wollte der Vater mit ihnen feiern. Es gab Heurigen, also jungen Weißwein. Ihre Mutter trinkt grundsätzlich keinen Weißwein und Roth kann sich auch nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals gerne mit dem Vater gefeiert hätte. Ihr Bruder wollte auch nichts trinken, Roth war verblüfft. Warum wollte ihr Bruder nicht? Der Vater wollte großzügig sein und konnte nun seine Großzügigkeit gar nicht an den Mann bringen. Also sprang Roth in die Bresche, sie hatte noch nie Weißwein getrunken, sie wusste also gar nicht, ob sie das Zeug runterkriegt, trotzdem sagte sie zum Vater: „ich trinke mit dir!“ Der Vater ließ sich darauf ein, Vater und Tochter waren eine Art Notgemeinschaft. Roth hatte große Probleme mit ihrem Vater mitzuhalten und das Zeug zu schlucken, aber sie hatte das Gefühl, dass der Frieden von ihren Schluckfähigkeiten abhängt. Irgendwann hatte ihr Vater genug und sie wollten nach Hause. Roth übersah die Situation überhaupt nicht mehr. Sie wurde angewiesen sitzen zu bleiben, ihr Bruder und die Mutter wollten zuerst den Vater zum Auto bringen und dann Roth abholen. Das hatte Roth aber ganz schnell vergessen und rannte den anderen hinterher. Raus aus dem Lokal, dann eine Holztreppe hinunter, hier war sie sehr vorsichtig, dann kam ein abschüssiger Vorhof, der mit Kieselsteinen ausgelegt war. Am Ende des Hofes standen die Autos und dort erspähte sie auch ihre Familie. Also rannte sie. Dann stolperte sie. Liegend rief sie nach ihren Leuten. Ihre Mutter sammelte sie ein, schimpfend, dass sie nicht im Lokal gewartet hatte. Im Auto betrachtete Roth ihre Hände, mit denen sie ihren Sturz gebremst hatte. Blut lief in langen Rinnsalen herunter, in ihren Handflächen steckten etliche Kieselsteine. Roth sah eine schwere Verletzung, aber sie spürte überhaupt keinen Schmerz. Ihre Mutter verband ihr ihre beiden Hände später notdürftig. Ein Glück war das Wetter nicht mehr so toll, sie hätte nicht mehr baden können. Noch lange Zeit konnte sie die Narben ihres ersten Vollsuffs an ihren Händen betrachten. Besoffen war sie später oft, aber nie wieder ihrem Vater zuliebe. Überhaupt erinnert sie sich eigentlich gar nicht, sonst jemals irgendetwas ihrem Vater zuliebe gemacht  zu haben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen