Es ist jetzt der dritte Tag ohne Alkohol. Alles ist völlig
normal, nur das Feiern klappt halt nicht so gut. Dafür ist ihr Zimmer
aufgeräumt, alle Bücher für das Seminar gelesen, was noch? Sie hat soviel Zeit!
Morgens springt sie energiegeladen aus dem Bett, könnte Bäume ausreißen, aber
keiner ist wach, der das mit ihr zusammen macht. Sie kann mit sich nichts
anfangen, sie hat keine Hobbies, nichts wofür sie sich interessiert. Sie könnte
spazieren gehen, das hat sie gestern früh gemacht, das war ganz lustig: sie
lief ziellos durch die Straßen. Eigentlich ganz schön, die Sonne schien
silbrig, die Temperatur war angenehm, nur ihre Ziellosigkeit war störend. Immer
stärker bekam sie das Gefühl, das etwas anders
ist als sonst. Suchend schaute sie sich um. Leichte Verwirrung, da ist etwas
deutlich anders, aber sie konnte es nicht ausmachen. Sie bog um eine Ecke und
die Sonne blendete sie. Ok, ja, die Sonne steht im Osten, sehr verwirrend, das
kennt sie nicht. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist sie nicht mehr vormittags
aufgestanden oder aus dem Haus gegangen. Ganz neu: die Sonne geht im Osten auf.
Ja ja, so war das, aber was nun? Sie sitzt hier am
Schreibtisch. Nichts zu tun. Sie geht zum Spiegel und betrachtet sich. Alles
bekannt und auch nicht sonderlich erbaulich, sie will jetzt nicht anfangen mit
ihren Äußerlichkeiten, also weiter zum Fenster. Da ist aber auch nicht viel zu
sehen. Der Dachfirst gegenüber, ein Stück Himmel, einige Wolken werden vom Wind
getrieben und verändern im Vorbeiziehen ihre Form. Das wirkt lebendig, immerhin
lebendiger als ihr Leben. Sie fühlt sich wie Rilkes Panther. Oder wie ein
Gepard im Zoo. Der Weg : Schreibtisch-Spiegel-Fenster-Schreibtisch. Ihr
erscheint er wie ein ausgetretener Pfad. Aber nein, sie ist ja nicht
eingesperrt in diesem Zimmer. Aber sie fühlt sich eingesperrt in ihrem Leben.
Sie möchte ausbrechen, aus sich. Aber sie schafft es nicht, versucht hat sie es
bestimmt schon hundertmal. Die Stille. Die Stille in ihr ist laut. Roth braucht
immer Lärm um diese Stille zu übertönen. Und wenn sie angetrunken ist, dann ist
sie so enthemmt, dass sie selbst auch noch viel Lärm machen kann, dann
beherrscht sie die Stille. Sie ist wohl gar nicht süchtig nach Alkohol, das
denkt Bionda. Roth ahnt, sie ist süchtig nach Gesellschaft, nach action. Sie
will ständig mächtig bespaßt werden, damit sie ihre Verlorenheit in sich selbst
nicht spüren muss. Nun beackert sie ihren Pfad, ihr Zimmerdreieck und wartet,
dass die Zeit vergeht. Um Geldbeschaffung braucht sie sich jetzt auch nicht
mehr zu kümmern. Vor einiger Zeit war sie mal wieder zu Hause, also in dem
Kaff, wo sie herkommt. Am letzten Tag wollte ihr Vater mit ihr sprechen, das
ist erwähnenswert, sie sprechen eigentlich nie miteinander. Mit einer Menge
Scheine in der Hand erzählte er ihr eine Geschichte:
„Mädchen, kürzlich habe ich einen alten Bekannten getroffen.
Der fragte mich: wie geht es Ihren Kindern? Ich antwortete, also, mein
Ältester, der ist Ingenieur und hat eine gute Anstellung bei Esso. Mein Zweiter
hat Mathematik studiert und ist jetzt als Systemanalytiker bei BMW angestellt.
Mein jüngster Sohn studiert Jura und ist damit bald fertig….. ….
Ja aber, fragt mich der Bekannte, sie haben doch auch noch eine Tochter?
Ja, hmm, meine Tochter,… ich weiß nicht, was die macht, antwortete ich.
Mädchen! Das ist so peinlich! Bitte, nimm das Geld und studier wieder!“
So war das. Mit einem schiefen Grinsen nahm sie das Geld und
jetzt hat er auch wieder einen Dauerauftrag eingerichtet. Da Roth keine Miete
bezahlt, kommt sie mit den paar Kröten, die ihr Alter locker macht ganz gut aus.
Sie hat die Geschichte schon verstanden, er hat sie verleugnet. Aber sie
weigert sich, das zu spüren. So, wie sie sich überhaupt weigert, irgendwas zu
ihrem Vater zu spüren.
Aber da denkt sie jetzt mal gar nicht drüber nach,
Kellertür bleibt zu, abgeschlossen, gesichert, verbarrikadiert, gepanzert.
Ach ja, die
Geschichte mit ihrem ersten Vollsuff hängt auch mit ihrem Vater zusammen. Sie
waren im Urlaub in Österreich. Es war Sommer, die Mutter kaufte für Roth und
ihren Bruder ein kleines Gummiboot. Das war der absolute Renner, eigentlich
waren sie schon viel zu alt für ein Gummiboot. Nicht mal einer von beiden
konnte darin sitzen ohne unter zu gehen. Roth hätte schon immer gerne so ein
Gummiboot gehabt. Jedenfalls spielten sie den ganzen Tag im Wasser mit dem
Gummiboot. Der Vater wollte nun auch mit Großzügigkeit hervorkommen: er lud ein zu einem zünftigen
Abend. Sie fuhren mit dem Auto auf einen Hügel, dort war ein sehr volles Lokal.
Sie fanden einen Tisch und nun wollte der Vater mit ihnen feiern. Es gab
Heurigen, also jungen Weißwein. Ihre Mutter trinkt grundsätzlich keinen
Weißwein und Roth kann sich auch nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals gerne
mit dem Vater gefeiert hätte. Ihr Bruder wollte auch nichts trinken, Roth war
verblüfft. Warum wollte ihr Bruder nicht? Der Vater wollte großzügig sein und
konnte nun seine Großzügigkeit gar nicht an den Mann bringen. Also sprang Roth
in die Bresche, sie hatte noch nie Weißwein getrunken, sie wusste also gar
nicht, ob sie das Zeug runterkriegt, trotzdem sagte sie zum Vater: „ich trinke
mit dir!“ Der Vater ließ sich darauf ein, Vater und Tochter waren eine Art
Notgemeinschaft. Roth hatte große Probleme mit ihrem Vater mitzuhalten und das
Zeug zu schlucken, aber sie hatte das Gefühl, dass der Frieden von ihren
Schluckfähigkeiten abhängt. Irgendwann hatte ihr Vater genug und sie wollten
nach Hause. Roth übersah die Situation überhaupt nicht mehr. Sie wurde
angewiesen sitzen zu bleiben, ihr Bruder und die Mutter wollten zuerst den
Vater zum Auto bringen und dann Roth abholen. Das hatte Roth aber ganz schnell
vergessen und rannte den anderen hinterher. Raus aus dem Lokal, dann eine
Holztreppe hinunter, hier war sie sehr vorsichtig, dann kam ein abschüssiger
Vorhof, der mit Kieselsteinen ausgelegt war. Am Ende des Hofes standen die
Autos und dort erspähte sie auch ihre Familie. Also rannte sie. Dann stolperte
sie. Liegend rief sie nach ihren Leuten. Ihre Mutter sammelte sie ein,
schimpfend, dass sie nicht im Lokal gewartet hatte. Im Auto betrachtete Roth
ihre Hände, mit denen sie ihren Sturz gebremst hatte. Blut lief in langen
Rinnsalen herunter, in ihren Handflächen steckten etliche Kieselsteine. Roth
sah eine schwere Verletzung, aber sie spürte überhaupt keinen Schmerz. Ihre
Mutter verband ihr ihre beiden Hände später notdürftig. Ein Glück war das
Wetter nicht mehr so toll, sie hätte nicht mehr baden können. Noch lange Zeit
konnte sie die Narben ihres ersten Vollsuffs an ihren Händen betrachten.
Besoffen war sie später oft, aber nie wieder ihrem Vater zuliebe. Überhaupt
erinnert sie sich eigentlich gar nicht, sonst jemals irgendetwas ihrem Vater
zuliebe gemacht zu haben.
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