Was ist das nur für eine Scheiße. Blues läuft ziellos durch
die Straßen. Einfach nur erstmal laufen. Sie muss ihre Gedanken ordnen, aber
die purzeln alle durcheinander. Sie hatte schon geahnt, was der Arzt ihr eben
bestätigt hat. Trotzdem scheint die Sonne jetzt mit anderem Licht, die Welt hat
sich verändert. Sie spürt Gefühle in sich aufsteigen, die sind verboten! Weg,
weg, weg damit. Doch, da drüben, eine Frau mit einem runden Bauch, wie um ihr
Kind festzuhalten, hat die beim Laufen die rechte Hand unterm Bauchnabel. Blues
legt ihre Hand auch dahin…weg, weg. Hier, vor ihr, Vater, Mutter, Kinderwagen.
Ja, mein Gott, ist denn die ganze Welt voll mit diesem Kinderkram? Alles muss
jetzt ganz schnell gehen, lange hält sie das nicht aus, sie braucht einen Plan!
Geld besorgen, Beratungstermin, eine Freundin soll mitfahren nach Wiesbaden.
Wen will sie dabei haben? Vielleicht Violet? Die versteht, wie schwer die Welt
sein kann, die kann auch mal den Mund halten, wenn es nötig ist. Blues hat überhaupt
keinen Bock, das zu erzählen. Die Bestürzung der Mädels… wenn sie sich das
vorstellt muss sie schon fast heulen, aber bestimmt nicht hier auf der Straße,
die Passanten, die wissen doch, dass sie schwanger ist.
Sie fährt im Kaufhaus die Rolltreppe hoch, sie will noch was
besorgen. Da ist die Kinderabteilung, die Kleidchen, die da hängen, wie
niedlich, ist das wohl ein Mädchen in ihrem Bauch? Ein kleines Mädchen, dass
durch die Welt stolpert in so einem altrosa Kleidchen? Auf dem Weg raus holt sie sich noch einen
Tabak, da drüben ist die Schreibwarenabteilung. Schultüten. Blues sieht ihr
kleines Mädchen damit, tollpatschig im Umgang mit der großen Tüte, dahinter
ihre Mädelsclique, alle ganz ordentlich gekleidet, erkenntlich an den bunten
Haaren, aber alle ganz aufgeräumt zur Einschulung, der kleinen Maus, die sie
gemeinsam aufziehen. Oh Gott, schnell weg, raus aus dem Laden, raus aus der
Welt, verstecken, solche Gedanken darf sie nicht denken!
Am Abend, in Biondas Wohnzimmer stellt sich heraus, dass
Bionda und Violet so was schon mal hinter sich gebracht haben. Roth hält den
Mund und macht mal keine Witze, soviel Mitgefühl hätte Blues ihr gar nicht
zugetraut. Also Violet fährt mit, das ist schon mal geklärt. Sie wollen was
trinken gehen. Gute Idee, wenn Blues sich jetzt volllaufen lässt. Sie muss sich
dem Kind gegenüber feindlich verhalten. Beim Bier beschreiben ihr Bionda und
Violet, wie sie sich beim Beratungstermin verhalten soll. „Du darfst die
keinesfalls merken lassen, dass Du Zweifel hast. Wenn die Zweifel nur riechen,
schnappen die zu wie ein Köter und lassen nicht mehr los!“
Roth geht mit zum Beratungstermin. Sie wartet draußen. Blues
sitzt der freundlichen Frau gegenüber und ist einfach nur dicht, zu,
undurchdringlich. Sie beharrt darauf, dass sie nicht bereit ist, für ein Kind.
Nach zwanzig Minuten lässt die Frau es darauf beruhen, fragt nicht mehr weiter,
sondern stempelt den Schein. Blues könnte sich freuen, Etappenziel erreicht,
aber sie ist eher benommen, als ihr Roth im Wartezimmer den Arm um die Schulter
legt und sie zum Ausgang schiebt. Auf dem Weg nach Hause fragt Roth die Frage
der Fragen: „Wie konnte das eigentlich passieren, verhütest du nicht
ordentlich?“ Also doch nicht so sensibel, die Alte. Blues ist nicht in der
Stimmung ihre Verhütungsstrategien darzulegen. „Hör zu, du dusselige Kuh, das
ist im Moment die falsche Frage!“ Roth erzählt von einem Bericht im Fernsehen,
dort hieß es, alle Frauen, die jemals abgetrieben haben, bekämen später eine
Depression. „Sag mal, du spinnst doch, was interessiert mich jetzt die
Depression, die ich in zwanzig Jahren bekomme und außerdem, wer sagt das?“ Roth
erwidert, sie habe irgendwann mal Monitor geguckt, Franz Alt, der Moderator
habe das gesagt, nach einem Bericht über den unterschiedlichen Umgang der
Bundesländer, mit Schwangerschaftsabbruch. „Bleib mir weg mit diesem Pastor!
Ein Mann! Was weiß ein Mann über Abtreibungen! Roth! Du bist echt zu blöd!“
Sie hat das alles in Windeseile hinter sich gebracht.
Rekordverdächtig! Der Fötus war kaum sieben Wochen alt, als er dann aus ihr
raus war. Sie sind schon auf dem Rückweg. Violet steuert das Auto, das sie sich
von Biondas Bruder geliehen haben. Blues sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut
sich ganz aufmerksam den Abendhimmel an. Sie ist eine ganz schlechte
Beifahrerin, sie sollte auf keinen Fall hingucken. Aber die Augen zu machen
kann sie auch nicht, dann sieht sie wieder das große Einweckglas, das da
seitlich stand, darin schwamm ihr abgesaugtes Mädchen. Sie wollte das nicht
sehen. Aber sie ist selbst schuld, egal, wo sie ist, sie hat die Augen immer
weit offen. Sie hätte auch so einen starren Blick haben sollen, wie das
Personal da. Im Wartezimmer lag ein Zettel aus, „ das Personal unterstützt
Schwangerschaftsabbruch“ und ist sowieso ganz auf ihrer Seite. Das Personal war
starr und leblos wie Holzpuppen. Alles war nur sachlich, nichts sonst. Blues
bekam von der Sprechstundenhilfe die sachliche Erlaubnis zu trauern. Was
passiert mit dem Wesen im Einweckglas, wird das jetzt zu Gesichtscreme gemacht?
So erzählen es die Leute. Die Sonne. Die Sonne scheint ihr warm ins Gesicht.
Hinter den Lidern ist es hellrot. Blues betrachtet das rot, hellrot, da sind
noch türkisene Blitze, die sind auch schön. Orangerot mit türkisenen Blitzen.
Das will sie sich merken. Das Bild vom Einweckglas soll überdeckt werden, von
Orange und Türkis. So soll es sein und jetzt ist das Kapitel abgeschlossen! Sie
will nicht mehr zurückschauen!
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