Freitag, 28. November 2014

Albert und Anna III


Sie sind wieder auf Reisen, in Locarno. Hier hatte der Vater große Schwierigkeiten eine günstige Unterkunft zu finden. Aber es hat geklappt, sie schlafen alle vier in einem Zimmer. Wie abgeranzt das Hotel ist, kann Anna gar nicht erkennen, aber als die Mutter ihr sagt, dass sie sich nicht auf den Klodeckel setzen soll, ahnt sie, dass es eine ganz schön heruntergekommene Bleibe ist. Nach dem Abendessen gibt es nichts mehr zu tun. Alle außer Albert liegen schon in ihren Betten, sind aber noch gar nicht müde. Albert tanzt nackt vor Anna´s Bett herum, singt dazu ein ausgedachtes Liedchen und reißt im Rhythmus seine Pobacken auseinander. So kann sie seinen Tanz bewundern und seine rhythmische Rosette sehen. Ein schöner Spaß, dem der Vater ein jähes Ende setzt.

Oftmals langweilen sie sich außerordentlich in engen Hotelzimmern. Der Vater ist bei Besprechungen, der Ort unergiebig oder so. Sie müssen immer parat sein, dürfen nicht ihre eigenen Wege gehen, undenkbar auf die Kinder warten zu müssen. Also lungern sie im Bett herum, was soll man tun. Irgendwann haben sie sich das Massage-Spiel ausgedacht. Die Regeln sind einfach: einer massiert den anderen, nicht nur nach Lust, sondern nach Zeit. Wenn Anna Albert siebzehn Minuten lang massiert hat, dann muss er das auch. Die Uhr sorgt für Gerechtigkeit, denkt Anna. Aber wenn er keine Lust mehr hat, wird die Massage schlecht, negativ, er fängt an sie zu trietzen, naja, das Übliche eben. Es gibt aber keine Alternative, sie müssen in diesem Zimmer bleiben, sie bleiben bei Albert´s Spielchen. Irgendwann kommt der Vater herein, um zu sagen, dass die Reise weitergeht. Er sieht Albert auf Anna sitzen, im Bett, beide mit nacktem Oberkörper. Seine Phantasie geht mit ihm durch. Inzest. Inzest. Er regt sich höllisch auf, die Anderen sind von der Unterstellung eigentlich nur genervt. Anna weiß gar nicht wovon er redet, aber an der Reaktion der Mutter und von Albert merkt sie, dass der Vater mal wieder auf dem völlig falschen Dampfer ist. 

 Der Vater kommt lauthals in Anna´s Zimmer gesprungen: „Anna, steh auf, es ist Weihnachten!“ Ja, mein Gott, es ist noch den ganzen Tag Weihnachten, denkt sie, steht aber auf. Der Vater freut sich immer sehr an Weihnachten, aber aufgepasst, die Stimmung kann schnell umschlagen. Abends sitzt er in seinem Sessel und würde am liebsten alle Päckchen selbst öffnen. Behutsam  fummelt er an jedem einzelnen Knoten, um den Spaß lange auszukosten. Anna hat ja auch noch alle Freude an Weihnachten. Sie hat vormittags die Weihnachtsgeschichte auswendig gelernt und abends nach dem Essen aufgesagt. Dabei kam sie sich dann doch ein bisschen komisch vor. Ja ok, ein Kind sagt ein Gedicht auf, aber die Weihnachtsgeschichte kennen nun mal alle Anwesenden. Anna fühlt sich ertappt bei ihrem  Aufmerksamkeitsdefizit. Die Inszenierung war ein Weg in den Mittelpunkt, für kurz. Die Kerzen am Weihnachtsbaum dürfen nicht lange an sein, der Vater braucht den Sauerstoff für sein Herz. Jetzt legt er alte Platten auf und will tanzen. Er bittet Anna zum Tanz. Warum sie? Er ahnt, dass seine Frau ihm einen Korb gibt. Anna kann sich nicht wehren. Sie genießt die Aufmerksamkeit des Vaters, ist aber auch ängstlich etwas falsch zu machen. „Ich kann aber doch gar nicht tanzen“, wendet sie ein. Der Vater erklärt ihr, dass er ein guter Tänzer ist und sie einfach führt. Das klappt auch, aber Anna ist mächtig unter Druck: sie muss sich führen lassen können und auch noch aufpassen sonst nichts falsch zu machen, damit der Vater fröhlich bleibt. Sie spürt  Verantwortung für die gesamte Familiensituation. So kann sie die seltene Aufmerksamkeit des Vaters gar nicht genießen.

Anna ist Bettnässerin. Das geht so: Sie träumt, dass sie sich irgendwo zum Pinkeln hinhockt und es laufen lässt. Dann wacht sie in einem nasskalten Bett auf. Sie sucht sich einen trockeneren Bereich und schläft weiter. So geht das oft. Weiß die Mutter davon? Keine Ahnung. Mal wieder unterwegs, diesmal in der Schweiz, wird es spät und der Vater hat immer noch keine Unterkunft gefunden. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein teures Hotel zu wählen. Das ist nur für den Vater ein Drama, alle wissen, dass in seiner Brieftasche genug Geld ist. Die restliche Familie genießt das, abgesehen von seiner schlechten Laune, die sowas beschert. Anna freut sich an dem schönen Zimmer, in dem sie schlafen wird. Das Bett ist wie im Märchen mit der Erbse: eine riesige, weiche Matratze. Als Anna sich ins Bett kuscheln will, fällt ihr siedend heiß ein, dass sie ja immer ins Bett macht. Diese Peinlichkeit darf ihr heute nicht passieren, eine furchtbare Vorstellung, diese große Matratze mit Pippi zu nässen. Verkrampft legt sie sich hin, will am liebsten gar nicht einschlafen. Sie träumt wieder, dass sie sich zum Pinkeln hinhockt. Da klingelt ein Alarm in ihrem Kopf, der sie aufweckt. Im Bett ist nur ein kleiner Fleck, damit kann sie Leben. Sie rennt zum Klo. Der Alarm ist jetzt fest installiert. So wurde sie von einem teuren Hotel geheilt.

Anna und Albert zanken mal wieder. Albert verändert die Auseinandersetzung zur Prügelei. Die Bedrohung, die von ihm ausgeht ist zu viel für Anna. Sie flüchtet schnell in ihr Zimmer, stemmt die Klinke mit aller Kraft hoch, damit Albert nicht herein kann. Wohin nun mit seiner Wut? Er greift sich den Stuhl am Klavier und rammt ihn in die Tür. Er ist selbst baff, wie sehr er die Tür lädiert hat. Die kaputte Stelle wird mit Gips aufgefüllt und weiß übermalt. Wer hat diese Ausbesserung denn gemacht? Es war zu viel weiße Farbe, ein Tropfen hat sich gelöst und ist einige Zentimeter herunter gelaufen. So ist alles angetrocknet und geblieben. Immer wenn Anna in ihr Zimmer geht, sieht sie die Stelle. Ein ewiger Hinweis auf ihren Albert, seine Unbeherrschtheit, den Charakter der Beziehung der Beiden. Aber so denkt sie nicht darüber nach. Sie denkt: jaja, der Albert.


Donnerstag, 20. November 2014

Das Muttertier: rotbraun


Rache ist jüdisch, Auge um Auge und so weiter. Jesus hat immer alles verziehen. Mein Bauch ist jüdisch. Mein Kopf wohl eher christlich. Kann mein Körper mit so einem  Konflikt leben?

Und dann auch noch Rache an der eigenen, geliebten Tochter. Außerdem, was hat sie mir schon getan? Sie wollte mit mir reden, über ihre Schuldgefühle mir gegenüber, die ich angeblich befördere, durch mein Verhalten. Ok, so weit, so gut, sie darf mit mir reden, über alles, sagt mein Kopf. Mein Bauch erinnert sich gar nicht so genau an das Gespräch, aber er fühlt sich verletzt und zurückgewiesen. Jetzt will er sich rächen. Ich (mein Kopf) kann gar nicht in Ruhe über das Gespräch nachdenken, mir Verhaltensweisen überlegen, wie ich darauf reagieren will, weil sofort mein Bauch angeschwappt kommt und sich massiv einmischt. Rache, Rache, Rache, sie soll betteln, dass alles wieder so ist wie früher, aber Clint Eastwood ist eisenhart. So ungefähr kommt mein Bauch daher. Ich möchte aber eine adäquate Reaktion auf das Gespräch, mein Kind darf mich verletzen und auch zurückweisen, wenn es sich freistrampeln muss. Wichtig sind ihre Freiheit und ihr Seelenheil, unsere Verstrickungen müssen gelöst werden, wenn sie das braucht. Ich will mich etwas zurückziehen, ich will ihr mehr Positives von mir erzählen und sie nicht mehr so unmittelbar wissen lassen wo ich hadere. Ich will mich nicht mehr in dieser totalen Verfügbarkeit präsentieren. Ich will  ein bisschen Distanz und Zensur im Kopf, nicht mehr reden ohne vorher zu denken. So. Ja. Das kann in Rache umschlagen, weil, es ist eigentlich ein Entzug. So empfinde ich das zumindest, ich ziehe mich da schon zurück, aber ich glaube, das ist das, was sie will. Ich bin dann nicht mehr ganz und gar da, Nora, absolut, 100%. Das erscheint mir wie ein großes Geschenk, Du bekommst die ganze Nora. Aber nein, es ist eher ein Geschenk an mich, die ganze, ganze Nora gibt es nämlich nicht woanders. Bei Nacije nicht, da bin ich immer etwas vorsichtig. Bei Kurt auch nicht mehr, seitdem er mit Angelika ist, außerdem konnte er damit immer gar nichts anfangen. Herbert  vielleicht, am ehesten, vielleicht jetzt noch mal probieren, wenn wir zusammen Urlaub machen. Jedenfalls ist das eigene Kind auch nicht die richtige Adresse für Zweifel, Ängste, dunkle Seiten. Schon die  wahre Mutter und kein Schein, aber das Kind soll mein Gewicht nicht spüren. Genau das ist es. Meine Mutter hat mir immer so schwer auf dem Rücken gelastet, mache ich das jetzt nach? Trägt mich die Kleine, ungefragt?
Also, ich muss meine Rolle neu definieren. Das Vorbild, das einzige, was ich habe, ist meine eigene Mutter. Die war gut und nicht gut. Gut in der Unaufdringlichkeit. Das ist aber auch ihre größte Fahne. Trotzdem hat sie mir jahrzehntelang Rückenschmerzen beschert. Also, vordergründige Unaufdringlichkeit hilft nicht viel, wenn sie ungesehen der Reiter mit der Gerte ist. Aber es gibt hier nicht nur eine Seite. Was ist Tochter´s Anteil, gut, den habe ich ihr in der Prägung vielleicht schon eingepflanzt. Sie rutscht, genauso wie ich, in jede Verantwortungslücke, die sich auftut. Das ist mindestens ihr Anteil, auch wenn ich das verursacht haben sollte. Aber, wie jetzt da rauskommen?

Wir wollen das nicht mehr! Haha. Löst sich das so? Aber was kann dann der Weg sein? Mehr Distanz? Ohne Rache! Sobald ich in die Rache komme, binde ich sie ja wieder. Schuldgefühle! Das war ja der Ausgangspunkt und da bin ich auch gleich wieder. Ich kann gut sehen, dass meine Racheimpulse Schuldgefühle in ihr antriggern sollen. Gut. Die Rache ist übermäßig kontraproduktiv, das ist offensichtlich. Ich will in Verbindung mit ihr sein. Ich will leicht sein und dabei nicht getragen werden. Ich will mütterlich sein, wenn ich so gebraucht werde und dabei nur Mutter sein. Ich will keine Freundin sein. Nur Mutter. Was macht Mutter aus? Mutter ist da und im Hintergrund. Mutter wird geliebt, spielt aber keine Rolle im eigenen Leben. Mutter weiß viel, aber nur wenn sie gefragt wird. Mutter ist das Zentrum von Familie, Verbundenheit, Mutter ist die Herkunft. Das hat alles aber nur Stellenwert, wenn es gebraucht wird. Sonst ist Mutter nur im Hintergrund. Aus diesem Hintergrund kann Mutter viel Kraft geben.


Verstrickungen mit der Mutter rauben Kraft, auch gleichzeitig. Verstrickungen sollten gelöst werden, aber das ist wohl Aufgabe von Therapeuten. Ich würde schon gerne helfen die Verstrickungen zu lösen, aber ich bin involviert, wahrscheinlich kein guter Ratgeber. Ich kann ahnen, aber nicht wissen. Schuldgefühle, darüber haben wir kurz gesprochen, dass auch ich ganz viele Schuldgefühle ihr gegenüber habe. Da sitzen wir einander gegenüber, jeder ein großes Paket Schuldgefühle zum Anderen, wenn wir sie in die Mitte schmeißen könnten, würden sie sich dann amortisieren, oder Krieg der Sterne machen? Da gibt es sicher auch noch viele andere komische Gefühle, die wir zueinander herumtragen, die uns pflocken, binden, drücken. Was tun? Ich kriege Bauchschmerzen, wie immer, wenn ich nicht weiterweiß. Es ist viel, zu viel und kein Land in Sicht.

Sonntag, 16. November 2014

Albert und Anna II


Anna gruselt sich, nein sie hat panische Angst. Sie schreit um ihr Leben. Sie ist in ihrem Zimmer, im Dunkeln, hinter ihrem Fenster draußen ist etwas, das sie bedroht. Mit aller Kraft versucht sie die Tür zu öffnen, aber unmöglich, auf der anderen Seite steht Albert und hält die Tür zu. Es ist keine Frage von Kraft, das weiß sie, sie muss einfach aushalten, bis Albert nachgibt, sie freilässt.  Aber die Panik hat sie fest im Griff, da gibt es nur die Tür, die aufgehen muss, um sie aus der Bedrohung zu retten, zur Familie, ins Warme zu lassen. Bis dahin stemmt sie sich mit aller Kraft gegen die Zarge, es fällt ihr nicht ein das Licht anzumachen, sie kann auch nicht zum Fenster gehen, um zu schauen, was ihr da Angst macht, sie kann nichts machen, außer schreien. Albert hält nur die Tür zu. Es ist ihre Angst, die sie übermannt, lähmt, sie weiß gar nicht, warum sie so viel Angst hat. Aber diese Bedrohung, da draußen am Fenster stellt ihr die Nackenhaare auf, sie muss hier weg, der Moment ist schrecklich lang. Albert hört die Panik in ihrer Stimme und lässt sie frei.

Einmal waren sie in Emden zu Besuch bei Freunden. Eigentlich eine schöne Sache. Morgens wacht Anna auf, das Haus ist noch ruhig, sie weiß, dass sie noch nicht aufstehen darf, um im fremden Haus herumzugeistern. Neben ihr liegt Albert auf der Matratze, er liest. Anna möchte bespaßt werden und gängelt ihn. „Ich kann Dir aus meinem Buch vorlesen, wenn Du willst.“ Sie inspiziert den Buchdeckel. „Der Untergang des Hauses Usher“, sie weiß es, es sind gruselige Kurzgeschichten. „Lies mir eine vor, die nicht so gruselig ist, Du weißt, wie sehr ich mich ängstige!“ Er liest. So geht das, eigentlich ist es auch angenehm, so gemütlich auf der Matratze, Albert liest vor, ungefährlich. So, am lichten Morgen kann  sie die Geschichte auch gut aushalten. Aber  sie ahnt, dass sie sich nicht gut tut. Diese Geschichten sind Futter für ihre Ängste, irgendwann, wenn sie allein ist, vielleicht im Dunkeln, wird ihr das alles wieder einfallen und ihr Angst machen.

Alberts Freunde sind Zwillinge, sie wohnen direkt nebenan. Einmal ist es vorgekommen, dass deren Eltern über Nacht nicht zu Hause waren. Albert durfte dort übernachten, eine einmalige Gelegenheit. Keiner weiß wie Anna das hingekriegt hat, dass sie auch mit durfte. Jedenfalls hatten sie sie am Hacken. Albert und die Zwillinge schliefen im Ehebett, Anna sollte im Kinderzimmer, das direkt an das Elternschlafzimmer anschloss, übernachten. Nach einem Umbau war es nun so, dass das Kinderschlafzimmer kein Fenster mehr hatte. Die Zwillinge schliefen dort ja jede Nacht, aber Anna war fest der Ansicht, dass sie ersticken würde wenn die Tür zum Elternzimmer geschlossen wird. Die Jungs wollten natürlich ihre Ruhe haben, also warteten sie eine Weile, um dann die Tür zum Kinderzimmer zu schließen. Da hatten sie ihre Rechnung aber ohne Anna gemacht. Gespannt wie ein Flitzebogen lag sie hellwach in dem Bett und wartete darauf, dass die Tür leise geschlossen wurde. Dann stand sie auf, ging hin und erklärte, dass sie ersticken würde. Die Zwillinge, die meistens etwas langmütiger mit ihr waren als Albert, erklärten ihr, dass sie jede Nacht zu zweit nicht erstickten. Aber sie blieb eisenhart, das geht nicht! Sie nervte kolossal, das war ihr klar, aber sie konnte nicht anders. Die Episode hat einen unklaren Ausgang, ist sie dann doch eingeschlafen, oder haben die Jungs aufgegeben?

Sie zanken mal wieder, es ist eine rein verbale Auseinandersetzung, bisher. Aber natürlich ist Anna auch verbal unterlegen. Manchmal ist es so wie jetzt, sie knickt plötzlich ein. Sie kann nicht mehr wütend sein, sondern nur noch traurig, verletzt und ängstlich, also rennt sie davon. Albert verfolgt sie. Anna rennt zur Haustür, dem sicheren Hafen, zur Mutter. Als sie an der Tür ankommt passiert das, was sie eigentlich gar nicht will: sie fängt an zu weinen. Die Aussicht auf das wenige Mitgefühl, das sie von ihrer Mutter bekommt, lässt sie weinen. Albert gibt die Verfolgung auf, als sie die Türklinke in der Hand hat, sieht die Tränen und spuckt ihr das Wort „Petze“ hinterher. Sie will ja gar nicht petzen, das lohnt sich auch nicht. Ihre Mutter wird nur sagen: „ihr sollt nicht immer streiten!“  Und damit ist das Thema für sie erledigt.

Es ist Weihnachten. Anna ist beseelt von dem Fest und von dem Versuch Aller bei Harmonie zu bleiben. Außerdem ist sie gierig, wie jedesmal. Die Eltern, die großen Brüder, da kann man einiges erwarten. Diesmal gibt es ein großes Geschenk von Albert, Anna ist überrascht und packt es aus. Es ist ein Brettspiel, die Alpenreise, toll, sie will es am liebsten sofort spielen. Dann entdeckt sie es: er hat mit Kugelschreiber auf den Deckel geschrieben: „von Albert für Anna“ Sie ist empört, wie kann er ihr Spiel so verhunzen. Sie ist nicht empfänglich für die Zugewandtheit und Vorfreude, die er empfunden haben muss, als er das geschrieben hat. Ein Glück steht das da nach über 40 Jahren immer noch auf dem Deckel, in seiner damals schon typischen Handschrift. Seit vielen Jahrzehnten ist sie jedesmal empfänglich und freut sich, wenn sie es liest: „von Albert für Anna“


Sie sind unterwegs, wie so oft, mit den Eltern in Frankreich. Das ist kein wirklicher Urlaub. Der Vater arbeitet als Sachverständiger auf Fabrikdächern in irgendwelchen Provinzkäffern. Die Mutter hat den typischen Assistenz-Sekretärin-Ehefrauen-Job. Albert und Anna langweilen sich auf der Rückbank des Autos auf langen Landstraßen. Abends kehren sie ein, in Lastwagenfahrer Unterkünften an der route nationale. So kann der Vater seinen Spareifer ausleben, sie erleben die französische Hausmannskost, wenn Gott so in Frankreich lebt, dann ist er arm dran. Häufig geht es der Mutter nicht gut. Das ganze macht ihr wenig Freude, einmal leidet sie an Übelkeit. Es ist Hochsommer im Süden Frankreichs. Albert sitzt mit nacktem Oberkörper auf der Rückbank neben Anna, sie haben beide Fenster offen. Sie können hier nicht Zanken, wie gewohnt, der Vater ist streng, sie müssen sich ruhig verhalten. Um der Langeweile zu entrinnen denken sie sich viel Unsinn aus. Eigentlich ist Albert der Spaßvogel, der immer wieder Ideen hat. Anna genießt das. Jetzt ist Albert an seinen Titten zugange. An sich findet er das gar nicht so lustig, dass er mehr Busen hat als seine Schwester, aber zum Spaß vergleichen sie ihre Körbchengröße. Der Mutter ist schlecht, plötzlich dreht sie ihr Fenster herunter und kotzt aus dem Auto. Die Flugbahn des Erbrochenen war eigentlich vorhersehbar, aber Albert war unaufmerksam. So war er überrascht, als die Bröckchen zu seinem Fenster wieder hereinflogen und ihn besprenkelten. Der Vater hielt bei der nächsten Gelegenheit an, um sein Auto mit einem Tuch abzuwischen.  

Donnerstag, 13. November 2014

Befindlichkeiten: Herbstlaub


Ich finde das Herbstlaub wunderschön, so wie es jetzt ist. Schon ganz schön kahl, der Verfall ist überaus sichtbar. Der Himmel ist gleichmäßig grau und scheint direkt über den Bäumen zu beginnen. Der Himmel drückt, auf das Gemüt, wenn ich es zulasse, aber er ist also spürbar, er ist so nah und real, dass ich meine, ihn anfassen zu können, wenn ich die Arme nach oben strecke.

Das Laub ist so unfassbar bunt, alle Farben sind da, keine Bekleidungsindustrie kann solche Farben. Ich weiß aber auch nicht, ob ich mich trauen würde so leuchtend herumzulaufen. Also, diese leuchtenden Farben kommen mir durch den tiefen grauen Himmel noch schöner vor. Diese sterbende Intensität leuchtet ganz für sich, braucht die Sonne nicht. Das Leuchten vor dem Sterben, die Blätter verglühen bevor sie abfallen. Sie versprechen: Weihnachten. Das sind wohl kindliche Überreste, dass ich mich davon verzaubern lasse. Aber ich genieße es. Weihnachten teilt die dunkle Jahreszeit in zwei Hälften. Das ist gut, das macht es leichter diese Zeit zu überstehen. Der Zauber glimmt bei mir auch nur manchmal, seitlich. Da ist ein freundlich erleuchtetes Wohnzimmer,  rot blühende Blumen, heißer Tee, Zeit verschwenden, besinnlich sein, Gemütlichkeit. Falls ich versuchen sollte diese Idee einzufangen und für mich zu zelebrieren, zerrinnt mir alles. Aber als seitliches Wohlfühlbild ist es angenehm.

Der Rausch von gelb-orange-rot-braun zieht mich völlig in den Bann. Ich muss immer hinschauen. Mache mir Sorgen, dass ich nicht aufmerksam genug bin und etwas verpasse. Es wird bald vorbei sein, dann werde ich es vermissen, aber nicht lange. Dann kommt die nächste Jahreszeit mit ihrem Zauber. Ich habe einige Jahre am Äquator zugebracht. Vieles aus meiner Heimat hat mir damals gefehlt, aber was mir sicher sehr gefehlt hat waren die Jahreszeiten. Anfangs dachte ich, ich sei gut dran, so mit ewigem Sonnenschein. Aber das wurde mir doch schnell langweilig. Der Wandel der Jahreszeiten ist immer wieder aufregend. Völlig unaufregend ist jedoch Weihnachtsliedergedudel bei 35 Grad.

Donnerstag, 6. November 2014

Urlaub in Polen

Ich trenne mich! Genau das hat sie jetzt entschieden, wenn nichts besonderes dazwischen kommt, aber die letzten fünf Jahre ist ja auch nichts besonderes dazwischen gekommen. Jedenfalls will sie die Tür noch nicht ganz fest zuschlagen. Obwohl er neben ihr am Steuer sitzt, behält sie ihren Gedanken für sich. Es soll noch ein bisschen ihr ganz eigener Gedanke bleiben. Außerdem hat sie viele schlechte Erfahrungen mit dem gesprochenen Wort gemacht. Lieber erstmal lange, lange auf der Zunge zergehen lassen. Gestern hatten sie gestritten, dabei sind sie doch im Urlaub, hier in Polen an der Ostsee. Eigentlich ist alles wunderbar, das Licht, zum Beispiel: silbern und golden zugleich. Die Sonne steht tief, die Helligkeit hat immer etwas Zwielichtiges, das berauscht sie. Der Strand ist fast leer, die See so weit und trotzdem streiten sie. Gibt´s das? Ja, offensichtlich liegen ihre Konflikte jetzt bloß. Das viele Trennende ist unübersehbar. Erst sind sie lange spazieren gegangen, der Wind rauschte laut in den Ohren, wenn sie den Kopf zu ihm drehte um etwas zu sagen, zog der Wind lange Sabberfäden aus ihrem Mund, das war peinlich, also schwieg sie. Er sagte sowieso nichts. Sie setzten sich in die Dünen, zum Rauchen. Sie fing gleich an zu schreien, dass er sich auf sie zu bewegen muss, sonst geht gar nichts mehr. Er brüllte direkt zurück: „schrei mich nicht an!!“ Sie dann nochmal, wohl etwas leiser: „ du musst dich auf mich zubewegen, sonst geht nichts mehr.“ Das war schon alles, sie rauchten und schwiegen. Später, als sie sich wieder aufrafften, fragte sie ihn: „ und, was war jetzt wichtig an unserem Gespräch?“ „Dass du mich nicht anschreien sollst.“  Gut, nicht gut. Das war wohl der Auslöser für ihre Entscheidung, eben, hier im Auto. Aber das war natürlich keine spontane Entscheidung, hier war nur der finale cut. Schon auch den ganzen Urlaub über hatte sie daran gedacht. Sie sind hier im Urlaub, kein Alltag, keine Zwänge, außen rum alles gut und trotzdem redet er nicht mit ihr! Kein Wort. Sie verbringen Stunden schweigend, nichts gegen einvernehmliches Schweigen, oder Schweigen überhaupt. Aber er redet nicht mit ihr. Immer wieder hatte sie zu ihm gesagt: „sprich mit mir!“

Jetzt trennt sie sich. Sie tut es schon, hier im Auto, ohne dass er es weiß. Das fühlt sich gut an, das Leben leuchtet gleich heller. Ist da auch Häme, Schadenfreude? Sie behält das auf jeden Fall noch ein bisschen für sich, warum weiß sie nicht. Es hat was Genüssliches, alles hat plötzlich eine andere Bedeutung, jede Bemerkung klingt anders. Das exklusive Wissen bleibt erstmal ihres und was noch nicht ausgesprochen ist, ist noch nicht definitiv. Außerdem, merkt der eigentlich irgendetwas? Die ganze Welt hier im Auto verändert sich, hat sich verändert, sie hat sich getrennt! Sie kann warten, bis er fragt. Er soll fragen: was ist mit uns, was ist mit dir, oder so. Egal was, Hauptsache, er zeigt Interesse. Wenn er Interesse an ihr oder der Beziehung zeigen würde, dann könnte sie noch mal überlegen, dann wäre es gut, dass noch nichts ausgesprochen ist.

Es sind schon wieder Stunden vergangen. Die Wege hier in Polen sind viel weiter, als man aus der Karte erahnen kann. Wie festgebacken sitzen sie auf ihren Positionen: er Fahrer, sie daneben. Es gibt immer noch kein Gespräch, weil sie keines beginnt, aber in ihrem Kopf entwickeln sich lauter Geschichten gleichzeitig. Ihre Entscheidung hat sie befreit, sie hat Ballast abgeworfen, ihn. Beflügelt ergeben sich bunte Zukunftsmodelle: Norwegen, Norderney, Neustadt an der Aisch? Sie kann überall hin, alle Bilder im Sinn sind verheißungsvoll, alles gefällt ihr und so verliert sie sich in der Vielfalt. Wie ein riesiger roter Klotz taucht die Marienburg am Horizont auf. Ihr Tagesziel. Die luftigen Zukunftsträume einpacken, zurück in das Miteinander, auch wenn es nur um Alltagsentscheidungen wie Parkplatz und Essen geht.

Die Marienburg ist ja unfassbar beeindruckend. Diese vielen, riesigen, roten Wände drücken sie auf den Boden zurück. Das tut ihr gerade ganz gut. Wenn sie aus den Fenstern schaut, blickt sie auf die masurische Ebene. Diese Weite! So flach! So schön! Das tut ihr alles gut. Fast tausend Jahre alte Mauern umringen sie, über ihr der makellose, blaue Himmel, draußen die Ebene, der Blick verliert sich weit hinten im Dunst. Das tut ihr alles gut, das erdet sie. Abends kommen sie an die Weichsel. Auch so schön und hier wird europäische Geschichte so lebendig, dass Panzer und anderes Kriegsgerät vor ihrem geistigen Auge hin und her fahren, sie hört das Kriegsgebrüll und gleichzeitig die Stille. Dieser Fluss zieht sie völlig in den Bann. Ganz ruhig und doch ganz kraftvoll, sie meint ein Murmeln zu hören, das uralte Geschichten erzählt. Flüsse haben immer eine magische Wirkung auf sie, aber die Weichsel übertrifft alle. Am nächsten Tag setzen sie über mit der Fähre. Nochmal wunderschön auf dem Fluss zu sein, dann muss sie sich verabschieden, vom Fluss, sie fahren weiter nach Danzig. Das Außen ist aufregend und schön, die Beziehung liegt brach, das so gleichzeitig wahr zunehmen ist anstrengend. Auf dem Fahrrad fahren sie gemeinsam durch Danzig. Das ist gut, so können sie die Stadt gemütlich erobern, Wege wiederholt fahren, nochmal gucken, auch raus zu Hafen und Werft, wo sie wieder von Geschichte beeindruckt wird. Danzig wirkt so am Rand. Letzte Tankstelle vor Wladiwostok. Trotzdem ist es warm und ummäntelnd. Das viele Fachwerk, aber ganz besonders: das Licht. Die Sonne steht hell und hoch am Himmel und doch sind die Schatten unwirklich, als wäre das Licht eine Erinnerung. Sie sitzen an der Fußgängerzone unter einer Kastanie. Wenn sie an Stadt und Fluss vorbei zur Sonne schaut, ist es ein herrliches Erlebnis, schaut sie in sein zugeschlossenes Gesicht gegenüber, ist es furchtbar. Ein Spagat mit drei Beinen. Der Blick in die Welt, die sie gerade umgibt ist schön, der Blick in das Innere ist verheißungsvoll, der Blick auf die Beziehung ist eine abgebrannte Steppe.

Das Trennende ist immer unausweichlicher. Jeden Augenblick bestätigt sich ihre Entscheidung. Aber die Schuld, die Verantwortung. Sie behält es ja auch deswegen zurück. Sie hat Angst vor seiner Bestürzung. Die großen Versprechungen, die sie sich damals gemacht haben, als sie verliebt waren: zusammen alt werden, um die Liebe kämpfen, wenn es nötig wird. Davon gibt es schon lange nichts mehr. Verpufft, pulverisiert oder wohl begraben unter einer Betonschicht. Lange Zeit beschäftigte sie sich mit einem Kinderhämmerchen an dieser Betonschicht, nun hat sie aufgegeben. Aufgeben ist eigentlich was trauriges, aber seit der Aufgabe ist alles besser. Innen fühlt sie sich schon frei. So frei wie noch nie in ihrem Leben.

Diese Freiheit lässt sie innerlich jauchzen. Da spürt sie schon Übermut aufkommen vor lauter Verheißung. Dadurch wird alles in der Heimlichkeit spürbarer. Heimlichtuerei verabscheut sie an sich, sie kann das auch gar nicht, dafür trägt sie ihr Herz zu sehr auf der Zunge. Aber diese vier Worte: „ich habe mich getrennt“ will sie immer noch bei sich behalten.  Viele Empfindungen wirbeln in ihr durcheinander. Da scheint Trotz zu sein: wenn du nicht fragst, bist du eben selber Schuld! Kinderworte. Sie hört eine Achtjährige sowas sagen. Will sie ihn bestrafen? Das hast du davon, wenn du dich nie interessierst! Auch das ist kein erwachsenes Verhalten. Sie sind schon lange wieder auf dem Rückweg nach Hause, als sie sich endlich eingesteht, dass es die Angst vor Schuld und Verantwortung ist, die sie zurückhält. Sie übernimmt immer Verantwortung, gerne auch ungefragt, mit ihm hat sie das von Anfang an gemacht. Nun trägt sie schwer daran. Die Vorstellungen von seiner Reaktion auf die Nachricht sind furchtbar, sofort wird ihr heiß von Schuld, aber er fragt ja nicht, also braucht sie sich das auch nicht auszumalen. Es ist beschlossene Sache, wenn er fragt, kriegt er es gesagt.
 Der Alltag ist komisch und ungewohnt. Sie ist getrennt und verhält sich auch so. Er ist noch in Beziehung und verhält sich auch entsprechend. Der Unterschied fällt gar nicht auf. Sie ist in der Warteschleife, Pläne sind schon ausgereift, sie wird in eine neue Stadt ziehen. Noch mal ein neues Leben, das nicht neu sein wird, so einfältig ist sie nicht. Trotzdem, neues Spiel, neues Glück. Sie kratzt mit den Hufen, fängt an ihren Kram auszumisten, aber sagen tut sie nichts.

Einen Tag kommt er total kaputt nach Hause, sein Chef hat ihm gekündigt, er ist wieder arbeitslos. Da stellt er die Frage. „Was ist eigentlich mit uns?“ Sie möchte weinen. Er liegt schon am Boden und sie tritt ihm jetzt noch ins Kreuz. „Tja, ich habe mich schon in Polen von dir getrennt.“  Er nimmt es ganz gefasst auf. Sie fühlt sich schon recht schuldig, aber eher, weil der Zeitpunkt so schlecht ist. Eine saublöde Idee den Zeitpunkt ihm zu überlassen

Sonntag, 2. November 2014

Befindlichkeiten


Ich liebe den Blick in den Himmel. Einfach nur Himmel. Da bin ich weg und verliere mich nicht. Die Augen spüren die endlose Weite, die Seele spürt das auch. Der Himmel ist ein großes Versprechen. Es gibt noch mehr als meine kleine Existenz. Theoretisch habe ich alle Möglichkeiten: ich könnte alles, aber auch alles anders machen, verspricht der Himmel. Ich mache nichts anders, aber die Idee von lustvollem Leben schenkt er mir. Es ist Verheißung und mehr brauche ich nicht. Morgens und abends ist es natürlich am schönsten. Ich bestaune Licht und Schatten, beobachte, wie die Farben sich verändern, die Weite, der Westen. Es ist Stille in mir und doch spielt sie leise Musik auf und prickelt ein bisschen. Jetzt. Es ist das Jetzt. Alles andere verschwindet hinter dem Jetzt. Ich spüre nur meine Existenz in der Welt, die berauschend schön ist.

Von hier nehme ich den Blick wieder herunter in mein Leben. Und es ist einfach nur Leben. Das ist Arbeiten, Sport, Hobby, Freunde, Verwandte, Fernsehen. Daran hänge ich wie eine Klette. Das Leben macht mir mehr Freude als jemals zuvor. Früher war der Gedanke, dass das Leben endlich ist, akzeptabel, manchmal auch tröstlich, zumindest ein Weg Distanz zur Situation herzustellen. Jetzt ist er nur noch Schade. Besonders, wenn ich in den Himmel schaue. Diese wunderbare Welt, mit den schönen Farben, wird mir fehlen, wenn ich mal nicht mehr hier bin.