Samstag, 28. März 2015

IG Farben bei Müllers hats gebrannt

Die Trauer ist so groß. Sie kann gar nichts machen, die Trauer ist überwältigend. Doch, sie hat was gemacht: sie hat sich die Haare abgeschnitten. Mit einer Küchenschere. Sie hat eine Strähne nach der anderen in die Hand genommen und abgesäbelt. Ihre wunderschönen Haare! Damit versucht sie ihrer Trauer Ausdruck zu geben. Nun sieht sie aus wie ein zerrupftes Huhn. Aber das ist egal, die Trauer liegt über allem. Sie geht in die Sedanstrasse, um die Mädels zu treffen. Wenn sie jetzt zusammen  etwas Essen würden, wäre das ein Leichenschmaus. Alle sind wie gelähmt. Geteiltes Leid ist halbes Leid? Ha! Das gemeinsame Trauern ist unerträglich. Alle 4 sitzen am Küchentisch und sind einfach nur traurig. Das ist nicht auszuhalten. Roth muss schnell wieder abhauen. Sie fühlt sich  wie eine Verräterin, aber sie kann es eben nicht aushalten. Sie geht zurück in ihr besetztes Haus. Da ist es auch das Thema. Ja.Ja. Das VZ ist abgebrannt! Interessant, traurig, aber nicht überwältigend. Hier bekommt sie sogar Mitgefühl. Alle wissen ja, dass das VZ ihr soviel bedeutet hat.
Ihr ist etwas genommen worden, ein Teil von ihr. Das VZ war Teil ihrer Identität. Sie war damit verwachsen, es war ihr Platz, wo sie sich selbst Ausdruck geben konnte. Ihr Forum, Nacht für Nacht, das war der Roth-Darstellungsraum. Nicht nur im Obergeschoss, wo sie ihre aktuelle Carmen Oper aufführen wollten, das ist auch mit abgebrannt. Nein, das ganze VZ war ihr Raum, in dem sie sich Leben konnte. Und nun ist es abgebrannt. Wilde Theorien sind im Umlauf, Brandstiftung! Löst die Stadtverwaltung so ihre Probleme? Roth glaubt fest daran. Es ist einige Tage lang Thema, und dann rückt es immer mehr in den Hintergrund. Die Stadt befriedet, obwohl das gar nicht so nötig erscheint. Für Roth und ihre Mädels ist es das Drama, für die anderen dreht sich die Welt weiter. Es gibt ein paar Demos, aber nichts Herausragendes, Roth merkt schnell, dass da nicht viel passieren wird. Den Punx  wird Platz für ein neues cräsh zur Verfügung gestellt. Die großen Herren kriegen ein „Jazzhaus“ Die Mädels gehen natürlich leer aus. Sie haben ja auch nichts gefordert, sie hätten sich wohl auch selbst ausgelacht, sie haben keine Lobby, sie haben kein Konzept, sie hätten nicht mal sagen können was sie wollen. Roth will auch diese Scheiß-Befriedung nicht. Das ist hier kein Scheiß-Marktplatz, wo der Schlaue den besten Deal macht. Sie trauert noch, sie ist erschüttert. Jetzt sind die Punx friedlich, die Politfreaks richten sich in ihrem schicken Jazzhaus ein. Der Typ, der das kleine Schickeria gemacht hat, hat soviel Kohle veruntreut, dass er ein immenses Kneipenimperium aufbauen wird. Leer sind nur die Mädels. Bekanntermaßen kann Roth Leere überhaupt nicht aushalten. Sie taucht ein und unter in ihrem besetzten Haus, lässt sich von Lärm und Gedöns berieseln und versucht zu vergessen, dass ihre Welt abgebrannt ist.
Es ist ja auch schön. Es ist auf jeden Fall schön. Endlich ist sie mit ihrem Leben zufrieden. Alles ist anregend, aufregend, sie ist da, Teil des Geschehens. Sie ist ein Schmetterling und der freundliche Wind pustet sie hin und her. Da gibt es Purzelbäume und Bruchlandungen, aber sie rappelt sich immer wieder auf und flattert hoch in den Wind. Die vielen Leute, neue Blickwinkel, neue Ideen, neue Aufgaben. Da ist ja ganz viel von dem, was sie wollte. Sie geht mit ihren großen Herren auf Plenen. Wird sie schon akzeptiert, wenn sie sich zu Wort meldet? Das macht sie immer noch mit klopfendem Herzen. Aber sie sitzt neben dem wichtigen Stefan. Das ist so, als würde sie den Weihnachtsmann persönlich kennen. Sie spürt, dass sie einen neuen Platz in der Rangliste einnimmt, ho! Das tut ihr gut. Da gibt es neue Bereiche für sie, wo sie sich früher nicht hin getraut hätte. Jetzt kann sie dort ganz entspannt ein- und ausgehen. Sie gehört jetzt dazu, sie wohnt ja in dem Haus. Die vielen neuen Leute. Das beschäftigt sie, da ist sie gefordert. Sie wird wichtiger in ihrer neuen Familie. Sie bekommt Raum, in dem sie sich bewegen kann. So kann sie ihre Trauer verdrängen. Sie verdrängt aber eben ihre Mädels mit, das ist ihr gar nicht klar. Wenn sie dann doch mal drüber nachdenkt, dann macht sie eine Mädelspause, so sieht sie das. Aber Nachdenken ist ja  nicht ihr Ding. Nachdenken macht sie  immer traurig. Lieber in die Küche gehen und schauen, was da so los ist. Dann sind die Mädels gleich wieder vergessen und sie taucht ein in neue Verbundenheit, action, Zeuch!
Einen Abend, an ihrem neu eroberten Platz, im Grether Cafe, trifft sie Bionda. Die Freude ist groß, Roth ist sehr angeregt und will von ihrem neuen Leben erzählen. Das interessiert Bionda überhaupt nicht, irritierend. Bionda macht Roth Vorwürfe. „Du bist nicht die Königin, die du glaubst zu sein!“ Roth schaut sprachlos in das Gesicht, das sie immer so schön und strahlend fand. Jetzt sieht sie nur Empörung, Wut und Verletztheit. Roth steckt in der Falle, sie hört den Vorwurf, sie spürt etwas anderes. Bionda fährt fort mit Vorwürfen, Roth bleibt sprachlos, kann sie sich nicht erklären, oder will sie es nicht? Sie ist durcheinander, sie durchschaut die Situation nicht. Sie bleibt gefangen in der doppelten Aussage von Bionda. Bionda sagt nicht „du fehlst mir! Ich vermisse dich! Du hast mich verletzt! Ich will mit dir zusammen trauern! Ich will mich weiter aufgehoben fühlen in der Freundschaft mit dir! Bionda sagt das alles nicht, aber Roth spürt es doch. Was sie hört ist: „Du bist nicht die Königin, die du glaubst zu sein!“ Was sie sieht, ist ein böses, zurückweisendes Gesicht. Der Vorwurf selbst ist so schräg. Roth fragt sich, was Bionda von ihr sehen kann! Roth hat mit Königin so gar nicht zu tun, höchstens wenn sie mal gekokst hat. Wie bei einem Sterbenden, zieht ihre Freundschaft in schnellen Bildern an ihrem inneren Auge vorbei. Die herausragenden Erlebnisse, die Verbindung zu Bionda, die Roth so haltbar empfunden hat. Die wunderbare Leichtigkeit, mit der Bionda das Leben schlürft, davon wollte sich Roth immer eine Scheibe abschneiden. Das hat allerdings nie geklappt, Roth blieb gefangen in ihrer inneren Schwere, auch wenn sie äußerlich die Leichtlebigkeit Biondas kopiert hat. All das wischt Bionda weg mit ihrem „Du bist nicht…“. Roth, immer noch sprachlos wird überwältigt von Traurigkeit. Wer steht da vor ihr? Die Freundin, mit der sie über Jahre ihr Leben geteilt hat? So eng, so nah? Roth ist niemals Königin! Roth ist immer gefangen in ihrer Depression. Klar, äußerlich ist sie spritzig, witzig und vorlaut, aber wer ihr nah kommt muss doch die Verzweiflung und Trauer sehen, in der sie feststeckt. Was hat Bionda die ganze Zeit gemacht? Sie hat Roth nicht gesehen! War Roth immer nur Spiegel, in dem Bionda sich sonnen wollte? Natürlich war Roth bereit, diesen Wunsch zu erfüllen, das gehört für sie zu Freundschaft. Bionda wollte Anerkennung und Bewunderung, na dann, solchen Wünschen nachzukommen war für Roth kein Problem. Roth weiß nicht genau, was sie von ihren Freundinnen will, aber sicher will sie gesehen werden. Und sie will keineswegs mit Vorwürfen konfrontiert werden, die so abwegig sind, dass sie kotzen könnte. Das Haus ihrer Freundschaft fällt ihr hier und jetzt aus der Hand und zerschellt am Boden. Roth, immer noch schweigend, hört es klirren, sieht auf das Malheur, wendet sich ab und geht, ohne Abschied, mit ihrem Bier, zurück zu ihrer neuen Familie. Ob die sie sehen können, oder wollen? Diese Frage schüttelt sie auf dem kurzen Weg zu ihren Leuten, quer durchs Lokal, ganz schnell ab. Diese Frage würde ihre Abgründe wieder auftun. Keinesfalls! Sie will Leben. Sie will Spaß haben. Sie will sich verbunden fühlen. Und sie will vertrauen haben, dass ihre Leute sich so sehr für sie interessieren, dass sie genau hinschauen.

Noch nie hat sie das Ende einer Freundschaft so schmerzlich und so präsent empfunden. Noch nie hat sie sowas so kampflos hingenommen. Man könnte meinen, sie macht sich zum Opfer. Aber sie fühlt sich als Täterin: sprachlos, kampflos und doch aktiv.

Sonntag, 22. März 2015

IG Farben eine Hausbesetzung

Eine Hausbesetzung! Wow! Endlich! Das war alles so geil und aufregend! Puh. Die letzten Tage…richtig gut! Es fing an mit einer Reihe von Demos. Roth war wieder mit Brunella unterwegs, ist ja bekannt, die anderen Mädels sind keine Straßenkämpfer. Kurt, Bernd und der Andere waren auch dabei, also war Roth gut eingebettet und konnte alles unbeschwert genießen. Ja, die schönen Demos… es war Adventszeit, also war die Stadt voll mit kaufwütigen Wahnsinnigen, die übellaunig ihr Geld zum Fenster rauswarfen. Darum ging es bei den Demos. Jeden Samstag zogen sie in die Stadt. Motto: „Brot für die Welt, aber die Wurst bleibt hier!“ Vorher gab es immer ein Treffen in der „Erbse“. Das ist die Edel-Ausgabe der besetzten Häuser in der Stadt. Da wohnen viele große Herren der Szene. Da wird Politik gemacht, intellektuell palavert, das ist Roths siebter Himmel, da will sie hin. Also jeden Samstag früh dort treffen, sich schön machen (das heißt vermummen) und dann alle zusammen los zur „Kaufrausch- Demo“ Das hat richtig Spaß gemacht. Bei der letzten Demo, am 4. Adventssamstag haben sie sich richtig aufgebrezelt. So als Monster vermummt. Kurt und Bernd waren die Hauptdarsteller. Bernd war so eine Art Gollum und Kurt ein leprakranker Quasimodo.  Die Zwei robbten und humpelten, krabbelten und grunzten vor einem Mönch in Kutte herum, der Schwachsinn predigte und immer wieder skandierte der ganze Pulk „Brot für die Welt, aber die Wurst bleibt hier!“ War das ein Spaß! Roth war neidisch auf Bernd und Kurt, wegen ihrer Hauptrolle. Die Bullen waren sehr beschäftigt, aber die Demonstranten haben, wider Erwarten, nichts Böses gemacht. Also forderten die Bullen die Demonstranten einzeln auf, ihre Vermummung abzulegen. Das war aber oft nur Quark mit Leinsamen im Gesicht. Ist das eine Vermummung? Bulle, gib mir deinen Spachtel, damit mein Gesicht wieder zum Vorschein kommt!
Dieses Spektakel haben einige andere Leute genutzt, um ganz unöffentlich ein leerstehendes Haus zu besetzen. Roth war traurig, dass sie nicht dabei war, aber sie konnte halt nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Schon am Nachmittag ging sie hin, um zu schauen, was da so los war, wer da war und so weiter. Ho! Da waren tolle Leute. Tolle Stimmung. Roth saß einige Zeit in der Küche herum, dann machte sie sich an das überquellende Waschbecken. Erstmal abwaschen. So schleimt man sich ein. Bernd und Kurt haben gleich gesagt, dass sie da einziehen wollen. Roth wollte auch mit! Da gab es Leute, die sagten, man kann nicht zwischen zwei besetzten Häusern hin- und herziehen. Warum eigentlich nicht? Fragte sich Roth, was spricht dagegen? Sie wollte unbedingt dabei sein. Da waren ein paar von den ganz großen Herren eingezogen. Das gäbe „eins rauf“ für Roth. Wenn sie mit denen unterwegs wäre, dann würde sie endlich respektiert, dachte sie, hoffte sie. Sie ließ sich noch einige Tage Zeit, dann ging sie zum Plenum und sagte, mit klopfendem Herzen, dass sie einziehen will. Stille. Dann sagte der Rolf, den sie uunheimlich toll findet mit einem Achselzucken: „naja, dann zieh doch ein!“ Seliges Kribbeln breitete sich in ihr aus, mit einem kleinen Grinsen und auch Achselzucken, sagte sie nur „ockkay“
So war das. Jetzt ist sie am Ziel ihrer Träume angelangt. In dem Haus wohnen 25 Leute. Das sind keine WGs oder so, alle Essen zusammen und bestreiten ihren Alltag zusammen. Es ist immer was los. Es kommt auch viel Besuch. Wann immer Roth in die Küche geht, sitzt da schon jemand. So kann sie ihrem inneren Abgrund für immer entfliehen. Den tollen Kerlen kann sie sich ganz behutsam nähern. Sie wird gesehen und akzeptiert, so wie sie ist. Sie ist glücklich und eine echte Gruppensau.
Der Winter ist kalt. Ein Glück gibt es in dem Haus genügend Leute, die sich mit Organisation gut auskennen. Das Haus muss winterfest gemacht werden. Wasser und Elektrizität müssen her. Es braucht Öfen, kaputte Scheiben müssen ersetzt werden, Holz muss rangeschafft werden. Roth hilft, wo sie kann. Sie ist ein Honk. Helfer ohne nennenswerte Kenntnisse. In der Not wäscht sie wieder ab, um sich einzubringen. Der Winter ist sehr kalt. Minus 18 Grad, das ist in dieser Stadt ungewöhnlich. Der Weg ins VZ ist jetzt weit. Wenn sie von dort mitten in der Nacht nach Hause kommt, ist das Blut in ihrem dicken Hintern gefroren. Dann missbraucht sie Kurt als Heizöfle. Ja sie hat von Bernd zu Kurt gewechselt.

 Sie musste Bernd natürlich mitnehmen. Wenn schon mal einer ganz offensichtlich auf sie abfährt, kann sie das nicht vorbeiziehen lassen. Aber sie fühlte sich von Bernd nicht erkannt. Sie war auf einem Sockel, konnte sich dort nicht bewegen, im Bett konnte sie sich auch nicht bewegen, weil sie mit ihren Ängsten beschäftigt war. Nach kurzer Zeit hatte sie genug davon, um es Bernd ordentlich reinzudrücken, hat sie Kurt schwer angebaggert und in ihr Bett gezerrt. Das hat soweit gut geklappt, aber Kurt ist, wider Erwarten, an ihr kleben geblieben. Das nimmt sie nun gerne in Kauf. Er entspricht nicht ihrem Beuteschema, aber vorübergehend ist das ganz ok. Er ist amüsant und immer da, wenn sie ihn braucht. Eben auch als Heizöfle. Mit dem kalten Arsch könnte sie niemals einschlafen. So geht es ihr richtig gut. In dem Haus sind einige Leute, die sie vorher nicht kannte. Viele von denen sind supergut drauf. Roth fühlt sich wie ein Tanzkreisel. Sie ist voll beschäftigt: die Bindung an Kurt und Bernd vertiefen, mit den vielen neuen Leuten richtig abfeiern, sich gegenüber den großen Herren ordentlich positionieren. Sie arbeitet sich in kurzer Zeit in die Mitte der Gruppe vor. Nachts laufen sie mit vielen Leuten den Weg ins VZ. Im VZ ist sie die Königin, sie kann Freibier besorgen, geht, wenn sie will, hinter die Theke, zeigt ihren neuen Freunden ihre alten Freunde. Und dann brennt es.

Freitag, 13. März 2015

IG Farben krass krank alles


Ach du Gott ach ne, was ist das nur für eine komische Welt in der Blues lebt. Gestern im VZ, das war wieder so erschreckend. Also, es ist ja so: man kommt rein, dann geht gegenüber die Treppe runter in den Keller, links geht es in das cräsh, halb links ist das kleine Schickeria, nach rechts geht’s ins Cafe. Dieser Verteilungsflur, in den man reinkommt ist auch groß. Da ist auch öfter mal was los, weil so viele Leute auf der Suche nach Spaß hin und her rennen. Die Punx  versuchen ihr cräsh für sich zu behalten, sie gucken jeden schräg an, von dem sie meinen, dass er da nicht hingehört. Aber das klappt nicht so, wie sie es gerne hätten. Neben der Tür, an der Wand steht groß „off limits für Roth“, weil die den Punx beim Plenum immer die Meinung geigt (oder heißt es flötet?), andererseits, jemand der sich  an ihrem Dosenbier ordentlich volllaufen lässt, ist immer willkommen, die Punx sind geldgeil. Naja, jedenfalls wollte Blues gestern vom Cafe ins cräsh laufen, da war im Flur eine große Menschenmenge, sie kam nicht voran. Beim näheren Hinsehen erwies sie sich als Zuschauerpulk. In der Mitte prügelten sich zwei Typen. Also prügeln wäre ja ok gewesen, das waren zwei riesige Kerle mit Glatzen und Bomberjacken (solche sieht man im VZ nicht oft), beide hatten riesige Ketten in der Hand, vielleicht 50 cm lang, mit denen schlugen sie aufeinander ein. Blues bekam sofort weiche Knie, als sie das sah. So schräge Typen…wollen die sich hier gegenseitig totschlagen? Was machen die ganzen Gaffer hier? Wollen die Blut sehen? Will da jemand mal einschreiten und denen sagen, dass sie sich woanders prügeln sollen, dass das hier keiner haben will?
Da waren schon letzte Woche welche da, die völlig unnötig waren. Mitten im Feiern hieß es, alle mal vor die Tür, es gibt einen Angriff. Angriff? Fragte sich Blues, was ist das schon wieder? Als sie auf den Hof kam, standen da vielleicht hundert Leute, Hasslacher, hieß es. Denen gegenüber stand der dicke Georg, der spielt sich gerne mal in den Vordergrund, er wollte mit ihnen reden. Alle anderen sammelten sich erstmal an der Tür und beobachteten. Georg stand so weit vorne, man konnte ihn reden hören, aber nicht verstehen, was er sagt. Plötzlich stand Georg in einem Flammensee. Jemand hatte einen Molli geworfen. Blues erschrak bis ins Mark, aber das war sehenswert: der dicke Georg, der sonst oft ein bisschen schwerfällig wirkt, machte aus dem Stand einen eleganten und weiten Sprung zur Seite und rieb seine brennenden Schuhe im Staub ab. Was eben noch überaus bedrohlich wirkte, hatte er ganz locker bewältigt. Die Hasslacher sind wohl genauso erschrocken wie Blues und als Georg wie ein strenger Vater auf sie einschimpfte, zogen sie bald ab. Was in Blues übrig blieb, war die Erkenntnis von Verletzlichkeit. Das VZ hat viele Feinde und die können sich jederzeit zusammenrotten.
Ja, Verletzlichkeit! Da war noch was, die Tage, was sie mehr und mehr erschreckt. Zuerst haben nur die Schwulen drüber geredet. Sie sehen es als Attacke auf ihre Lebensweise. Es heißt der amerikanische Geheimdienst habe es in die Welt gesetzt. Manche sagen es kommt aus Afrika. Typisch, denkt Blues, alles Schlechte kommt aus Afrika. Es ist eine neue Geschlechtskrankheit. Sie nennen es Aids. Gerüchte, Gerüchte, aber alles ganz beängstigend. Keiner weiß was genaues, aber alle reagieren drauf. Sie waren doch gerade sexuell befreit und jetzt das! Man könnte den Schwulen recht geben, das kommt doch von oben! Man könnte auch meinen, es kommt von den Kondomherstellern. Hätte Blues zuviel Geld, sie würde es in Kondomaktien investieren. In allen Wohnungen stehen jetzt Einweckgläser mit Kondomen. Lustig! Noch vor wenigen Wochen war das ein Riesenact, einen Kerl davon zu überzeugen ein Kondom zu benutzen. Das war so als würde ihm der Schwanz abfallen, müsste er ein Kondom überstülpen. Aber nein! Das ist alles nicht lustig! Angst geht um. Diese Angst entsexualisiert alle. Naja, viele. Die anderen beeinflusst es aber auch. Bis vor kurzem ging es nur um Lust. Lust geht gut nonverbal, jetzt geht es immer auch um Angst. Lust und Angst zusammen, da muss man reden. Sex ist plötzlich problematisch und wenn einer anders damit umgeht, dann ist es auch komisch. Blues sagt ihren Freundinnen nicht, dass es für sie kein so großes Problem ist. Für Blues ist Sexualität etwas sehr privates. Sie würde mit dem Thema niemals so hausieren gehen, wie es beispielsweise Bionda tut. Blues ist schüchtern und zurückhaltend, aber das ist eines ihrer vielen Geheimnisse. Blues verbringt gerne ihre Zeit mit den Freundinnen, aber in vielerlei Hinsicht unterscheidet sie sich von den anderen. Schon klar, sie sind alle Individuen und Bionda hat die Deutungshoheit, legt meistens fest, was so angesagt ist. Alle nehmen das hin und jede macht auf ihre Art ihr Ding. Blues schlägt sich mit ihrem Witz durch. Damit hält sie alle und alles auf Distanz, braucht sich über ihre Eigenheiten nicht auseinanderzusetzen, kann sich immer mit einem Scherz rausretten. Das ist vielleicht auch einer der Gründe für ihre vielen Verehrer. Also Blues sieht schon auch gut aus, sie hat lange Beine und ordentlich Holz vor der Hütte, das haben die anderen nicht. Aber sie ist keine Schönheit, wie Violet und hat auch nicht so ein einnehmende Wesen wie Bionda, aber wohl am meisten Verehrer. Blues macht es ihrer Umgebung leicht sie zu mögen. Sie ist immer unbeschwert und zum Scherzen aufgelegt. Ihre auffällige Distanz weckt vielleicht den Wunsch sich ihr zu nähern. So ein Pulk Verehrer macht das Leben aber auch nicht leichter. Das sind ja alles nette Jungs, aber keiner dabei, der sie vom Hocker reißt. Und da unterscheidet sie sich eben von den anderen. Die Mädels würden nun einen nach dem anderen in ihr Bett zerren, um zu schauen, was er so hergibt. Sowas mag Blues nicht. Sie weiß, wenn sie sich auf einen einlässt, kommt sie nicht mehr los, dann ist verletzlich, hat eine Pforte aufgemacht, die sie nicht mehr zukriegt. Deswegen hat sie ziemlich selten Sex und wenn sie welchen hat, dann verhütet sie mit Kondom. Also ist AIDS für sie kein so großes Problem.

Eigentlich ist Blues völlig unpolitisch, aber hier sieht sie dann doch mal die gesellschaftliche Relevanz. Das wird die Welt verändern! Die gängigen Sprüche: wer 2x mit der gleichen pennt gehört schon zum Establishment. Blues ist bestimmt keine Emanze, trotzdem hört sie  das Frauenfeindliche an dem Spruch. Aber darum geht’s jetzt grad nicht. Sexualität war mit Mühe frei vom Mottengeruch der letzten Generationen. Freud hätte vielleicht seine Freude gehabt: es ging nur noch um Lust, eigentlich. Und nun das! Angst und Sexualität passen nicht zusammen

Freitag, 6. März 2015

IG Farben: Einsilbige Jungs

Da sind neue Jungs aufgetaucht. Jung, nett und energiegeladen wirken die. Das ist auf jeden Fall eine Bereicherung. Meistens sind sie zu dritt. Der Eine ist so normal, dass man sich weder sein Gesicht noch seinen Namen merken kann. Der Zweite heißt Bernd. Dieses Gesicht ist alles andere als normal. Er sieht aus wie ein jugendlicher Neandertaler. Aber unheimlich nett. Ach ja, ein Hippie-Neandertaler. Lustiger Typ! Sehr viel Energie, er will das VZ völlig umkrempeln, hat 1000 Ideen, was man alles machen könnte. Er hat ein Auge auf Roth geworfen, hat sich von ihr seine Haare blau färben lassen. Das sieht vielleicht urig aus: lange, blaue Hippie-Haare. Jetzt haben wir also die grüne Roth und den blauen Bernd. Der Dritte im Bunde ist auch der Hammer. Der sieht aus wie der hinterste Waldschrat. Aber gar nicht finster. Nach einer hohen Stirn beginnen wilde Haare, die in alle Richtungen abstehen. Vor den Augen steckt eine dicke runde Brille und vor dem Rest des Gesichts steht ein riesiger Bart. Bei all dem hat er eine ganz freundliche Ausstrahlung. Wenn er sich bewegt merkt man vom Waldschrat auch nichts mehr, er bewegt sich fließend und flott. Wenn er tanzt sind alle beeindruckt, dann sind seine Bewegungen so elegant und leicht, jetzt kein Akrobat, aber doch als hätte er weniger Schwerkraft zu überwinden. Das ist der Kurt und er hat sich in Blues Fanclub eingereiht. Violet findet es ein bisschen verwirrend, dass keiner auf sie abfährt, aber naja, die sind eh beide nicht ihr Typ. Und, natürlich, die Jungs machen auch eine Theke, die andere Woche von den Schwulen und als pendant zur Mädelstheke nennen sie sich Bubitheke. Jetzt ist das VZ-Cafe schon an vielen Tagen offen. Manchmal, wenn sie Lust haben, machen Buben und Mädchen zusammen noch samstags auf. Was dabei raus kommt, ist dass sie sich noch öfter für Umme zusaufen, dass das VZ viel Geld hat und dass die großen Herren der Szene ein sorgenvolles Gesicht machen. Das VZ wurde vor Jahren ja auch mal besetzt. Das Haus gehört zum Institut für osteuropäische Geschichte, also der Uni. Es ist riesengroß und war damals ungenutzt. Von einer Demo aus zog eine große Menschenmenge zur Besetzung. Das hat alles gut geklappt damals, die Idee eines Zentrums: Veranstaltungen, Kommunikation, Trainingsräume, eben Platz für alles, was so eine Szene braucht. Dass eine Szene nur billigen Alk braucht war nicht der Gedanke der Macher. Aber wenn Geld gebraucht wird, zum Beispiel für Anwälte, oder so, dann ist das VZ-Plenum doch der erste Ansprechpartner.
Nun sind also diese Energie-Jungs auch beim Plenum und wollen ständig was machen. Naja, zu tun gibt es wirklich genug. Die Urinale auf dem Klo sind verstopft. Außerdem ist der Weg zum Klo für die Leute aus dem cräsh weit. Es gibt also welche, die gehen zum Pissen in den Keller (immer noch besser als zum Lachen in den Keller zu gehen). Violet schaut sich das nicht an, aber man hört, dass da unten die Pisse knietief steht. Andere gehen zum Pissen vor die Tür. Wenn man rauskommt dann ist links eine dunkle Ecke. Da pissen viele einfach hin. Bei Regenwetter stinkt der ganze Hof danach. Kurt, Bernd und der Andere meinen da müsste man was machen. Die Mädels sind ja nun nicht die großen Handwerker, aber sie sind bei diesen nachmittags Terminen natürlich dabei. In einer Hand ein Besen, in der anderen ein Bier, schaut Violet mit genügend Abstand zu, wie sich einige Leute am Urinal zu schaffen machen. Der Wolfgang, einer von den Freitags- Rockern hält das randvolle Becken, während der Thomas von den Schwulen an der Wandhalterung schraubt. Plötzlich löst sich das Urinal aus der Wand. Literweise ergießt sich gelbbraune Flüssigkeit über Wolfgang. Er springt zurück und lässt das Becken fallen, was die Situation deutlich verschlimmert. Zuerst floss die Suppe nur über seine Beine, aus dem Becken spritzt es fast bis zu seinem Gesicht. Fluchend lässt er alles stehen und liegen. Violet muss sich unglaublich anstrengen nicht laut loszuprusten. Sie schäumt über vor Schadenfreude. Der Wolfgang, so ein Hotelbesitzerinnensohn aus Konstanz. Psychologie Student. Ständig schlecht gelaunter Klugschwätzer. Wie geil, dass der Zwuckel das abgekriegt hat. Um sich zu beruhigen geht Violet nach draußen, zu der anderen Baustelle, die sie heute angefangen haben. Das stehen schon ihre Freundinnen, natürlich auch mit Bier. Sie schauen zu, wie Kurt und Bernd eine Pissrinne bauen. Nun stehen die vier Freundinnen also beisammen und übertrumpfen sich gegenseitig mit klugen Ratschlägen. Kurt und Bernd nehmen das gelassen, wie gesagt, wirklich nette Jungs. Das ist so simpel, das hätten sogar die Mädels geschafft. Aber es braucht dann doch erst solche Macher-Macker. Sie haben aus Zement einen abschüssigen Sockel gebastelt und darauf montieren sie ein längliches Blech. Einfach! Schwierig ist nur das Loch in der Hauswand und der Anschluss an das Abwasserrohr bei den Toiletten, das schlauerweise genau da innen verläuft. Die Mädels bleiben da, bis die Buben fertig sind. Es ist klar, die Anwesenheit von Blues und Roth beflügelt sie zu Höchstleistungen. Das ist die Art von Einsatz, den die Mädels leisten, das VZ dankt es ihnen mit Bier. Deal!

Nach getaner Arbeit hat der Abend noch gar nicht angefangen aber die Mädels sind jetzt richtig durstig. Sie holen von oben eine Kiste Bier, die die Jungs nach Hause tragen. Der Bernd wohnt ja jetzt auch in dem besetzten Haus, auf dem gleichen Stockwerk wie Roth und Blues. Naja, kann man das wohnen nennen? Es gab da bisher eine ungenutzte „Kammer“, neben der Küche. Als Raum erkenntlich hauptsächlich wegen der Tür. Sonst nur Dachstuhl, kein richtiger Boden, kein Fenster, die blanken Dachziegeln. Bernd fragte, ob er da einziehen darf. Was soll man da sagen? Klar! Innerhalb kurzer Zeit hat Bernd einen richtig netten Raum daraus gemacht, alle waren schwer beeindruckt, was so möglich ist. Dort lassen sie sich nieder mit ihrer Kiste und verwandeln den Raum in eine Frisierstube. Das ist der Plan: Blues frisiert Bernd und Roth beschneidet Kurt. Spannung. Am Boden liegt ein großer Haufen blauer Haare und aus dem Hippie Neandertaler ist ein…ja was eigentlich… geworden? Roth hatte von Blues mehr erwartet. Bernds Haare sind jetzt fast alle einfach kurz. Nur vorne rechts fällt eine große Strähne ins Gesicht. Das sieht ziemlich bekloppt aus, aber Bernd trägt es mit stoischem Humor. Er sieht bescheuert aus, gleicht das aber mit einem geschmeidigen Lächeln wieder aus. Roths Job ist dankbarer. Sie schneidet dem Waldschrat einfach erstmal den Kopf kurz. Dann rasiert sie den Bart. Der Waldschrat verschwindet für immer, heraus kommt Kurt, das sieht ganz schön gut aus, aber Kurts Lächeln ist kein bisschen geschmeidig. Er hat seinen riesigen Bart jahrelang getragen, seine Mimik ist in diesem versteckten Gesicht völlig verloren gegangen. Seine untere Gesichtshälfte wirkt bloß, nackt und jungfräulich. Nach dem Haare schneiden sitzen sie in Bernds Kammer, leeren die Kiste und unterhalten sich. Aber Blues und Roth konzentrieren sich nicht richtig auf die Unterhaltung, sie sind beide eigentlich mit ihrem Werk beschäftigt. Und alle schauen auf Kurts Mund, wie der sich nackt der Welt präsentiert.