Die Trauer ist so groß. Sie kann gar nichts machen, die
Trauer ist überwältigend. Doch, sie hat was gemacht: sie hat sich die Haare
abgeschnitten. Mit einer Küchenschere. Sie hat eine Strähne nach der anderen in
die Hand genommen und abgesäbelt. Ihre wunderschönen Haare! Damit versucht sie
ihrer Trauer Ausdruck zu geben. Nun sieht sie aus wie ein zerrupftes Huhn. Aber
das ist egal, die Trauer liegt über allem. Sie geht in die Sedanstrasse, um die
Mädels zu treffen. Wenn sie jetzt zusammen etwas Essen würden, wäre das ein
Leichenschmaus. Alle sind wie gelähmt. Geteiltes Leid ist halbes Leid? Ha! Das
gemeinsame Trauern ist unerträglich. Alle 4 sitzen am Küchentisch und sind
einfach nur traurig. Das ist nicht auszuhalten. Roth muss schnell wieder
abhauen. Sie fühlt sich wie eine
Verräterin, aber sie kann es eben nicht aushalten. Sie geht zurück in ihr
besetztes Haus. Da ist es auch das Thema. Ja.Ja. Das VZ ist abgebrannt!
Interessant, traurig, aber nicht überwältigend. Hier bekommt sie sogar Mitgefühl.
Alle wissen ja, dass das VZ ihr soviel bedeutet hat.
Ihr ist etwas genommen worden, ein Teil von ihr. Das VZ war
Teil ihrer Identität. Sie war damit verwachsen, es war ihr Platz, wo sie sich
selbst Ausdruck geben konnte. Ihr Forum, Nacht für Nacht, das war der
Roth-Darstellungsraum. Nicht nur im Obergeschoss, wo sie ihre aktuelle Carmen
Oper aufführen wollten, das ist auch mit abgebrannt. Nein, das ganze VZ war ihr
Raum, in dem sie sich Leben konnte. Und nun ist es abgebrannt. Wilde Theorien
sind im Umlauf, Brandstiftung! Löst die Stadtverwaltung so ihre Probleme? Roth
glaubt fest daran. Es ist einige Tage lang Thema, und dann rückt es immer mehr
in den Hintergrund. Die Stadt befriedet, obwohl das gar nicht so nötig
erscheint. Für Roth und ihre Mädels ist es das
Drama, für die anderen dreht sich die Welt weiter. Es gibt ein paar Demos, aber
nichts Herausragendes, Roth merkt schnell, dass da nicht viel passieren wird.
Den Punx wird Platz für ein neues cräsh
zur Verfügung gestellt. Die großen Herren kriegen ein „Jazzhaus“ Die Mädels
gehen natürlich leer aus. Sie haben ja auch nichts gefordert, sie hätten sich
wohl auch selbst ausgelacht, sie haben keine Lobby, sie haben kein Konzept, sie
hätten nicht mal sagen können was sie wollen. Roth will auch diese
Scheiß-Befriedung nicht. Das ist hier kein Scheiß-Marktplatz, wo der Schlaue
den besten Deal macht. Sie trauert noch, sie ist erschüttert. Jetzt sind die
Punx friedlich, die Politfreaks richten sich in ihrem schicken Jazzhaus ein.
Der Typ, der das kleine Schickeria gemacht hat, hat soviel Kohle veruntreut,
dass er ein immenses Kneipenimperium aufbauen wird. Leer sind nur die Mädels.
Bekanntermaßen kann Roth Leere überhaupt nicht aushalten. Sie taucht ein und
unter in ihrem besetzten Haus, lässt sich von Lärm und Gedöns berieseln und
versucht zu vergessen, dass ihre Welt abgebrannt ist.
Es ist ja auch schön. Es ist auf jeden Fall schön. Endlich
ist sie mit ihrem Leben zufrieden. Alles ist anregend, aufregend, sie ist da,
Teil des Geschehens. Sie ist ein Schmetterling und der freundliche Wind pustet
sie hin und her. Da gibt es Purzelbäume und Bruchlandungen, aber sie rappelt
sich immer wieder auf und flattert hoch in den Wind. Die vielen Leute, neue
Blickwinkel, neue Ideen, neue Aufgaben. Da ist ja ganz viel von dem, was sie
wollte. Sie geht mit ihren großen Herren auf Plenen. Wird sie schon akzeptiert,
wenn sie sich zu Wort meldet? Das macht sie immer noch mit klopfendem Herzen.
Aber sie sitzt neben dem wichtigen Stefan. Das ist so, als würde sie den
Weihnachtsmann persönlich kennen. Sie spürt, dass sie einen neuen Platz in der
Rangliste einnimmt, ho! Das tut ihr gut. Da gibt es neue Bereiche für sie, wo
sie sich früher nicht hin getraut hätte. Jetzt kann sie dort ganz entspannt
ein- und ausgehen. Sie gehört jetzt dazu, sie wohnt ja in dem Haus. Die vielen
neuen Leute. Das beschäftigt sie, da ist sie gefordert. Sie wird wichtiger in
ihrer neuen Familie. Sie bekommt Raum, in dem sie sich bewegen kann. So kann
sie ihre Trauer verdrängen. Sie verdrängt aber eben ihre Mädels mit, das ist
ihr gar nicht klar. Wenn sie dann doch mal drüber nachdenkt, dann macht sie
eine Mädelspause, so sieht sie das. Aber Nachdenken ist ja nicht ihr Ding. Nachdenken macht sie immer traurig. Lieber in die Küche gehen und
schauen, was da so los ist. Dann sind die Mädels gleich wieder vergessen und
sie taucht ein in neue Verbundenheit, action, Zeuch!
Einen Abend, an ihrem neu eroberten Platz, im Grether Cafe,
trifft sie Bionda. Die Freude ist groß, Roth ist sehr angeregt und will von
ihrem neuen Leben erzählen. Das interessiert Bionda überhaupt nicht,
irritierend. Bionda macht Roth Vorwürfe. „Du bist nicht die Königin, die du
glaubst zu sein!“ Roth schaut sprachlos in das Gesicht, das sie immer so schön
und strahlend fand. Jetzt sieht sie nur Empörung, Wut und Verletztheit. Roth
steckt in der Falle, sie hört den Vorwurf, sie spürt etwas anderes. Bionda
fährt fort mit Vorwürfen, Roth bleibt sprachlos, kann sie sich nicht erklären,
oder will sie es nicht? Sie ist durcheinander, sie durchschaut die Situation
nicht. Sie bleibt gefangen in der doppelten Aussage von Bionda. Bionda sagt
nicht „du fehlst mir! Ich vermisse dich! Du hast mich verletzt! Ich will mit
dir zusammen trauern! Ich will mich weiter aufgehoben fühlen in der
Freundschaft mit dir! Bionda sagt das alles nicht, aber Roth spürt es doch. Was
sie hört ist: „Du bist nicht die Königin, die du glaubst zu sein!“ Was sie
sieht, ist ein böses, zurückweisendes Gesicht. Der Vorwurf selbst ist so
schräg. Roth fragt sich, was Bionda von ihr sehen kann! Roth hat mit Königin so
gar nicht zu tun, höchstens wenn sie mal gekokst hat. Wie bei einem Sterbenden,
zieht ihre Freundschaft in schnellen Bildern an ihrem inneren Auge vorbei. Die
herausragenden Erlebnisse, die Verbindung zu Bionda, die Roth so haltbar
empfunden hat. Die wunderbare Leichtigkeit, mit der Bionda das Leben schlürft,
davon wollte sich Roth immer eine Scheibe abschneiden. Das hat allerdings nie
geklappt, Roth blieb gefangen in ihrer inneren Schwere, auch wenn sie äußerlich
die Leichtlebigkeit Biondas kopiert hat. All das wischt Bionda weg mit ihrem
„Du bist nicht…“. Roth, immer noch sprachlos wird überwältigt von Traurigkeit.
Wer steht da vor ihr? Die Freundin, mit der sie über Jahre ihr Leben geteilt
hat? So eng, so nah? Roth ist niemals Königin! Roth ist immer gefangen in ihrer
Depression. Klar, äußerlich ist sie spritzig, witzig und vorlaut, aber wer ihr
nah kommt muss doch die Verzweiflung und Trauer sehen, in der sie feststeckt.
Was hat Bionda die ganze Zeit gemacht? Sie hat Roth nicht gesehen! War Roth
immer nur Spiegel, in dem Bionda sich sonnen wollte? Natürlich war Roth bereit,
diesen Wunsch zu erfüllen, das gehört für sie zu Freundschaft. Bionda wollte
Anerkennung und Bewunderung, na dann, solchen Wünschen nachzukommen war für
Roth kein Problem. Roth weiß nicht genau, was sie von ihren Freundinnen will,
aber sicher will sie gesehen werden. Und sie will keineswegs mit Vorwürfen
konfrontiert werden, die so abwegig sind, dass sie kotzen könnte. Das Haus
ihrer Freundschaft fällt ihr hier und jetzt aus der Hand und zerschellt am
Boden. Roth, immer noch schweigend, hört es klirren, sieht auf das Malheur,
wendet sich ab und geht, ohne Abschied, mit ihrem Bier, zurück zu ihrer neuen
Familie. Ob die sie sehen können, oder wollen? Diese Frage schüttelt sie auf
dem kurzen Weg zu ihren Leuten, quer durchs Lokal, ganz schnell ab. Diese Frage
würde ihre Abgründe wieder auftun. Keinesfalls! Sie will Leben. Sie will Spaß
haben. Sie will sich verbunden fühlen. Und sie will vertrauen haben, dass ihre
Leute sich so sehr für sie interessieren, dass sie genau hinschauen.
Noch nie hat sie das Ende einer Freundschaft so schmerzlich
und so präsent empfunden. Noch nie hat sie sowas so kampflos hingenommen. Man
könnte meinen, sie macht sich zum Opfer. Aber sie fühlt sich als Täterin:
sprachlos, kampflos und doch aktiv.