Freitag, 27. Februar 2015

IG Farben Komm wir wollen Freundinnen sein, für immer

Da gab es mal einen besonderen Abend, an den Bionda sich gerne erinnert. Bionda hat ja einen sehr skurrilen Drogendealer, der hier unbedingt erwähnt werden muss. Er heißt Günther, er ist viel jünger als er aussieht. Er war mal im Knast, dort ist er körperlich völlig fertig gemacht worden. Er steht auf Bionda, war ja klar, so bekommt sie alles, was sie braucht, entweder umsonst, oder zum Einkaufspreis. Bionda versteht sich gut darauf, ihn mit Lächeln und anderen Aufmerksamkeiten bei der Stange zu halten. Der Abend damals ist für Bionda der Beginn ihrer Freundschaft mit Roth. Alle tun immer so, als wären sie eine lockere Clique, aber so ist das nicht. Violet und Blues kommen aus der gleichen Gegend, ihr abgefahrener Dialekt verbindet sie. Bionda fühlt sich mehr und mehr mit Roth verbunden. Sie machen ja auch immer mehr zusammen. Ihre Feierzeit verbringen sie ja sowieso schon zusammen, oft zu viert. Aber Bionda und Roth gehen seit Oktober zusammen studieren, außerdem ist Roth schon vor einiger Zeit zu Biondas Theatergruppe hinzugestoßen. Also, es war so, dass Bionda Roth gefragt hat, ob sie nicht dazu kommen will. Roth hat sich da sehr gut eingefügt und hat super Ideen. Zuerst hat Roth Bionda geholfen ein Stück auswendig zu lernen. Ein 2 Frauen Stück von Slawomir Mrozek, es geht um Kommunikation. Dann haben sie beschlossen, es zusammen aufzuführen. Das ist nur so ein 15 Minuten Teil, das haben sie einfach eingebettet in ein riesiges Spektakel, das sie an der alten Uni im großen Saal dargeboten haben. Roth hat sich mehr und mehr eingebracht. Sie haben das Spektakel dreimal aufgeführt, am Ende war Roth in fast jeder Szene dabei und hatte alles ordentlich aufgepeppt. Danach war die Theatergruppe gut bekannt und hätte mit einem Rülpskonzert den Audimax füllen können. Sie haben angefangen zu aktuellen Stadtthemen kleine Sachen zu inszenieren und im VZ, im Obergeschoss, aufzuführen. Als letztes ging es um eine neue Initiative der Stadtverwaltung: in der Innenstadt sitzen viele Punx herum, nun meinte die Stadtverwaltung, die Sitzbänke in der Innenstadt sollten entfernt werden, damit würden auch die Punx entfernt. Ein dankbares Thema. Ihre Gruppe machte daraus eine Winnetou-Persiflage. Bionda verbrachte das Stück auf Roths Rücken, die ihr Pferd darstellte. Das war natürlich ganz ohne Anspruch, aber extrem lustig und die Zuschauer haben gejohlt. Das nächste Thema wollen sie singen, Carmen Melodien. Das könnte grausam für die Zuschauer werden. Viele einschlägige Ideen kommen von Roth. Roth ist für Bionda eine tolle Freundin, weil sie keine Konkurrenz ist. Sie rivalisieren nicht, dadurch kann Bionda sich ihr gut zuwenden. Die Sache hat leider einen Haken: Roth hat schon eine beste Freundin. Das ist so eine Zicke, wenn die ab und an mal auftaucht, sind die Mädels bei Roth abgeschrieben. Das ist verletzend für Bionda, aber, genau, der Drogenabend, da war Najiye, die Zicke auch dabei.
Also der Günther war da und hatte ein ganzes Löschblatt dabei,  genug für eine ganze Garnison. Der ewige Georg hatte sich selbst eingeladen, als er davon hörte. Damals hat Roth noch woanders gewohnt und ihre ganze WG mitgebracht. Abgesehen von Najiye sind das nette Leute, nämlich der Hans, der Martin, Brunella und der Marcellus. Marcellus war ganz offensichtlich in die kleine Zicke verliebt. Außerdem hatte Bionda noch ihrem Lieblingsbruder Bescheid gesagt. Der Günther ist ein echter Dealer, er hat zwar den Abend mit ihnen verbracht, aber selbst keinen Löschblattfitzel in den Mund gesteckt. Er hat sich eine Flasche Wodka mitgebracht, sich daraus bedient und zugeschaut, was so abgeht. Also waren sie neun Leute, die den Wahnsinn aus dem Löschblatt herausgekaut haben. Roth und Najiye waren Anfängerinnen. Roth war die Aufregung anzusehen, sie hatte die Augen weit aufgerissen, als sie sich das kleine Stück Löschblatt mit dem Stempel in den Mund schob. Die meisten waren ja sozusagen routiniert, also ging es bald zur Sache. Bionda, als Gastgeberin, gab die Gesetze des Abends heraus: immer gut drauf bleiben, darauf achten, dass genügend Kippen da sind, nicht auf den Fisch im Mund konzentrieren und so weiter.

Najiye zog sich bald mit Marcellus in Biondas Zimmer zurück. Das war Bionda ganz recht, dass die Alte sozusagen nicht mitfeiert. Wenn man in das Zimmer reinschaute, war das ein lustiges Bild. Najiye kauerte auf Biondas Bett und kaute auf ihrer Lippe. Offensichtlich überdachte sie den Lauf der Welt, oder versuchte zu entscheiden, ob Huhn oder Ei zuerst da war, oder ob Schiller oder Lessing der größere Dichter war. Marcellus saß vor ihr auf dem Boden und betrachtete sie andächtig. Man meinte in seinem Gesicht die aktuelle Entscheidung ablesen zu können: das ist die Frau meines Lebens und sie wird es für immer bleiben. Naja, Marcellus ist nicht Biondas Typ, also sollte er ruhig auf die Alte abfahren. In der Küche ging es richtig zur Sache. Georg, Roth und Bionda machten richtig was los. Freies Assoziieren auf LSD ist so frei und doch lässt sich alles verbinden, also fühlt man sich verbunden. Brunella, Martin und Biondas Bruder machten auch mit, aber sie waren nicht so aufgedreht und witzig. Der Abend würde super werden, das war schon nach kurzer Zeit klar. Inmitten von dem Getöse saß Hans ganz ruhig und dachte nach. Bionda fand das herausragend, wie konzentriert Hans war. Immer mal wieder kam  Najiye in die Küche gestürzt. Sie rannte zu Roth. Einmal tanzte sie glücklich herum und schrie „ich habs, ich habs“ und umarmte Roth. Ein anderes Mal kam sie heulend, schmiss sich in Roths offene Arme, todunglücklich „ich halts nicht mehr aus“ So ging das den halben Abend lang, mal so, mal so. Roth öffnete einfach die Arme, nahm hin, was da kam. Bionda will Roth auch als Freundin, das beschloss sie an diesem Abend. Was sie erst viel später merkte war, dass sie Najiye nicht verdrängen konnte. Bionda spielt bei Roth immer nur irgendeine Geige, aber keinesfalls die Erste. Irgendwann wurde ihnen die Küche zu eng und sie gingen raus. Die ganze Gruppe, das gab viel Energie und Sicherheit. Die Welt um sie herum war sehr verändert, aber in der Gruppe war das spaßig, aufregend und interessant. Brunella kletterte behände auf einen Baum. Dann saß sie da oben wie eine junge Katze, sie konnte nicht mehr runter. Biondas Bruder kletterte irgendwann rauf um sie zu retten, Bionda hätte Lust gehabt sie einfach dort sitzen zu lassen. Brunella nervt ja doch immer. Sie machten was her, sie waren laut, sie waren unterwegs. Anfänglich liefen sie durch das Stadtzentrum nach Norden. Es war toll, in so einer großen Gruppe, mitten in der Nacht in der leeren Stadt unterwegs zu sein. An jeder Litfasssäule  hielten sie an, um etwas zu entdecken, sich zu amüsieren. Sie hatten alle Zeit der Welt und nicht nur die Welt war komisch und verzerrt, auch die Zeit hatte ein ganz verzerrtes Tempo. Am folgenden Nachmittag fanden sie sich weit im Süden der Stadt wieder. Die Stadt ist nicht so groß, dass man Tage braucht sie abzulaufen. Keiner wusste, was sie die letzten Stunden getrieben haben, aber sie waren sicher, dass es lustig war. Langsam verzog sich das Gift aus ihren Körpern. Neben dem Wahn kam jetzt auch viel Erschöpfung. Die Turnseestraße war nah, dort konnten sie sich vor der Welt zurückziehen. Die Energie reichte nun nicht mehr um der fremden Welt die Stirn zu bieten. Sie  saßen im Zimmer von Hans und Martin zum Runterkommen.  Es war traurig den Wahn aufzugeben, aus diesem totalen Miteinander wieder zum Individuum zu werden. Aber alle waren so erschöpft, dass sie sich auch wünschten einfach Ausruhen zu können.

Sonntag, 22. Februar 2015

IG Farben An der Strasse


Roth war zu Besuch in der Drogen WG. Dazu muss sie 20 Kilometer nach Norden, ein echter Ausflug, denn sie trampt. Jetzt ist sie auf dem Rückweg, ganz erstaunlich, es war niemand zu Hause. Das ist ihr zum ersten Mal passiert. Schade eigentlich, da wohnen einige nette Jungs. Gewöhnlich setzt sie sich dort in die Küche und überlässt sich den Dingen. Meistens wird gekifft und palavert, manchmal bleibt sie über Nacht, oder sie fahren alle zusammen in die Stadt. Da steht sie jetzt am Straßenrand und fragt sich, was sie mit dem Tag anfangen soll. Ein hässlicher Opel Rekord mit einem jungen Typ hält an. Sie steigt ein, ohne zu fragen, der fährt doch sowieso in die Stadt. Sie fahren, quatschen ein bisschen, plötzlich spürt sie etwas im Nacken. Eine Pistole, sie soll ihm einen blasen. „Klar, mach ich, aber nimm die Pistole weg!“ Sie biegen ab, in die Weinberge, sie tut, was sie tun muss. Schwert schlucken.  Zurück an der Straße, steigt sie aus, sagt noch brav „Tschüss“ und  schlägt die Tür zu. Sie hält wieder den Daumen in den Wind und wundert sich, was ihr da gerade passiert ist. Oft reden sie zu Hause darüber, was Frau sein ausmacht. Roth hat sich zur These verstiegen: Jede Frau erlebt eine Schwangerschaft, eine Abtreibung und eine Vergewaltigung, bevor sie eine richtige Frau ist. Ob das so stimmt weiß sie gar nicht, aber nun hat sie einen Teil davon erlebt.  Sie steht da und überlegt, ob und wie sie es ihren Leuten erzählt.
Irgendwann am Abend ist der Moment richtig: „Ja, genau so was habe ich heute erlebt. Der hatte eine Waffe, was sollte ich machen….“ Und so erzählt sie die Tatsachen. Sie fühlt sich ein bisschen wie ein neues Clubmitglied. Die anderen regen sich auf, „hast Du Dir die Autonummer gemerkt?“ „Du musst zu den Bullen!“ Dass alle das so ernst nehmen, das tut ihr gut. Sie weiß gar nicht, wie sie das nehmen soll, sie wusste nur, sie hat was zu erzählen. Meistens neigt Roth dazu, ihre Geschichten noch ein bisschen auszuschmücken, nur so etwas Schliff, oder mehr Gewicht. Diese Geschichte hat 3 Worte und das ist alles. Sie ist ja so unfassbar blöd, sie hat sich die Autonummer nicht gemerkt und ok, morgen geht sie zu den Bullen. Wenn sie zu den Bullen geht….das macht die Geschichte so wirklich und so nah. Eigentlich ist alles schon so weit weg, als wäre es vor Monaten passiert.

Sie muss zur Kripo. Komischer Laden, die sehen alle gar nicht so richtig wie Bullen aus, sie verhalten sich auch nicht so. Alle sind ganz freundlich. Trotzdem ist Roth angespannt, sie kämpft um Glaubwürdigkeit, sie kämpft da mit sich selbst und die Bullen dürfen davon keinesfalls was merken. Ihre Geschichte soll kein einziges Fragezeichen über lassen. Der Kripotyp, der sich um sie kümmert, verhält sich total ok. Das ist keine Selbstverständlichkeit, die meisten Fremden verhalten sich ihr gegenüber abweisend. Roth weiß schon, dass das an ihr liegt, die Art, wie sie sich kleidet und die  Haare. Außerdem  ahnt sie, dass ihre Körperhaltung und ihr „feindliche-Welt-Gesicht“  noch eins obendrauf setzen. Sie fahren zusammen raus aus der Stadt, Roth soll genau zeigen, wo alles passiert ist und so. Sie halten an der Stelle am Fuß der Hügel, „gut geschätzt, genau 700 Meter, wie Du gesagt hast“, sagt er nach einem Blick auf den Tacho. Das tut ihr gut, sie kann sich das alles gar nicht mehr glauben. Er zeigt gar keine Zweifel, er macht die Geschichte wahr. Sie spürt gar nichts und nachdem sie die Weinberge  verlassen haben rutscht alles ganz schnell wieder in eine Traumwelt. Nach einigen Wochen wird sie abgeholt, sie soll zur Gegenüberstellung. Sie hat Herzklopfen. Ist das so? War das alles so? Wird sie den überhaupt erkennen? Sie kann sich gar nicht mehr erinnern. Sie darf jetzt ja keinen Falschen beschuldigen. Wieder der Kripotyp und wieder ist er ganz freundlich. Ganz in Ruhe erklärt er ihr das Setting: sie guckt durch Glas, ihr Gegenüber schaut zurück, sieht sie aber nicht, schaut in einen Spiegel. Roth hat schweißnasse Hände, beklemmend. Der Bulle legt ihr eine Hand auf die Schulter, „lass Dir Zeit“, sagt er. Bei ihm fühlt sie sich echt gut aufgehoben, er ist da, nicht zu nah, nicht väterlich. Von seitlich nähert sie sich vorsichtig dem Glas. Die Zweifel in ihrem Kopf werden immer lauter, sie zwingt sich. Sie sieht ihn direkt an, er schaut zurück, grinst ein bisschen. Sie hat gar nicht gemerkt, dass es sie 3 Schritte zurück gehauen hat. Der Bulle fängt sie auf und führt sie zu einem Stuhl. Sie keucht. „Alles ok?“ fragt er besorgt. Seine Fürsorge, oh Mann, echt gut. Sie überlegt, ob der wohl eine Freundin hat. Alle möglichen Gedanken sind jetzt gut, nur ganz schnell das Gesicht vergessen, das sie eben angeschaut hat.

Sonntag, 15. Februar 2015

IG Farben Kinderkram

Was ist das nur für eine Scheiße. Blues läuft ziellos durch die Straßen. Einfach nur erstmal laufen. Sie muss ihre Gedanken ordnen, aber die purzeln alle durcheinander. Sie hatte schon geahnt, was der Arzt ihr eben bestätigt hat. Trotzdem scheint die Sonne jetzt mit anderem Licht, die Welt hat sich verändert. Sie spürt Gefühle in sich aufsteigen, die sind verboten! Weg, weg, weg damit. Doch, da drüben, eine Frau mit einem runden Bauch, wie um ihr Kind festzuhalten, hat die beim Laufen die rechte Hand unterm Bauchnabel. Blues legt ihre Hand auch dahin…weg, weg. Hier, vor ihr, Vater, Mutter, Kinderwagen. Ja, mein Gott, ist denn die ganze Welt voll mit diesem Kinderkram? Alles muss jetzt ganz schnell gehen, lange hält sie das nicht aus, sie braucht einen Plan! Geld besorgen, Beratungstermin, eine Freundin soll mitfahren nach Wiesbaden. Wen will sie dabei haben? Vielleicht Violet? Die versteht, wie schwer die Welt sein kann, die kann auch mal den Mund halten, wenn es nötig ist. Blues hat überhaupt keinen Bock, das zu erzählen. Die Bestürzung der Mädels… wenn sie sich das vorstellt muss sie schon fast heulen, aber bestimmt nicht hier auf der Straße, die Passanten, die wissen doch, dass sie schwanger ist.
Sie fährt im Kaufhaus die Rolltreppe hoch, sie will noch was besorgen. Da ist die Kinderabteilung, die Kleidchen, die da hängen, wie niedlich, ist das wohl ein Mädchen in ihrem Bauch? Ein kleines Mädchen, dass durch die Welt stolpert in so einem altrosa Kleidchen?  Auf dem Weg raus holt sie sich noch einen Tabak, da drüben ist die Schreibwarenabteilung. Schultüten. Blues sieht ihr kleines Mädchen damit, tollpatschig im Umgang mit der großen Tüte, dahinter ihre Mädelsclique, alle ganz ordentlich gekleidet, erkenntlich an den bunten Haaren, aber alle ganz aufgeräumt zur Einschulung, der kleinen Maus, die sie gemeinsam aufziehen. Oh Gott, schnell weg, raus aus dem Laden, raus aus der Welt, verstecken, solche Gedanken darf sie nicht denken!
Am Abend, in Biondas Wohnzimmer stellt sich heraus, dass Bionda und Violet so was schon mal hinter sich gebracht haben. Roth hält den Mund und macht mal keine Witze, soviel Mitgefühl hätte Blues ihr gar nicht zugetraut. Also Violet fährt mit, das ist schon mal geklärt. Sie wollen was trinken gehen. Gute Idee, wenn Blues sich jetzt volllaufen lässt. Sie muss sich dem Kind gegenüber feindlich verhalten. Beim Bier beschreiben ihr Bionda und Violet, wie sie sich beim Beratungstermin verhalten soll. „Du darfst die keinesfalls merken lassen, dass Du Zweifel hast. Wenn die Zweifel nur riechen, schnappen die zu wie ein Köter und lassen nicht mehr los!“
Roth geht mit zum Beratungstermin. Sie wartet draußen. Blues sitzt der freundlichen Frau gegenüber und ist einfach nur dicht, zu, undurchdringlich. Sie beharrt darauf, dass sie nicht bereit ist, für ein Kind. Nach zwanzig Minuten lässt die Frau es darauf beruhen, fragt nicht mehr weiter, sondern stempelt den Schein. Blues könnte sich freuen, Etappenziel erreicht, aber sie ist eher benommen, als ihr Roth im Wartezimmer den Arm um die Schulter legt und sie zum Ausgang schiebt. Auf dem Weg nach Hause fragt Roth die Frage der Fragen: „Wie konnte das eigentlich passieren, verhütest du nicht ordentlich?“ Also doch nicht so sensibel, die Alte. Blues ist nicht in der Stimmung ihre Verhütungsstrategien darzulegen. „Hör zu, du dusselige Kuh, das ist im Moment die falsche Frage!“ Roth erzählt von einem Bericht im Fernsehen, dort hieß es, alle Frauen, die jemals abgetrieben haben, bekämen später eine Depression. „Sag mal, du spinnst doch, was interessiert mich jetzt die Depression, die ich in zwanzig Jahren bekomme und außerdem, wer sagt das?“ Roth erwidert, sie habe irgendwann mal Monitor geguckt, Franz Alt, der Moderator habe das gesagt, nach einem Bericht über den unterschiedlichen Umgang der Bundesländer, mit Schwangerschaftsabbruch. „Bleib mir weg mit diesem Pastor! Ein Mann! Was weiß ein Mann über Abtreibungen! Roth! Du bist echt zu blöd!“

Sie hat das alles in Windeseile hinter sich gebracht. Rekordverdächtig! Der Fötus war kaum sieben Wochen alt, als er dann aus ihr raus war. Sie sind schon auf dem Rückweg. Violet steuert das Auto, das sie sich von Biondas Bruder geliehen haben. Blues sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut sich ganz aufmerksam den Abendhimmel an. Sie ist eine ganz schlechte Beifahrerin, sie sollte auf keinen Fall hingucken. Aber die Augen zu machen kann sie auch nicht, dann sieht sie wieder das große Einweckglas, das da seitlich stand, darin schwamm ihr abgesaugtes Mädchen. Sie wollte das nicht sehen. Aber sie ist selbst schuld, egal, wo sie ist, sie hat die Augen immer weit offen. Sie hätte auch so einen starren Blick haben sollen, wie das Personal da. Im Wartezimmer lag ein Zettel aus, „ das Personal unterstützt Schwangerschaftsabbruch“ und ist sowieso ganz auf ihrer Seite. Das Personal war starr und leblos wie Holzpuppen. Alles war nur sachlich, nichts sonst. Blues bekam von der Sprechstundenhilfe die sachliche Erlaubnis zu trauern. Was passiert mit dem Wesen im Einweckglas, wird das jetzt zu Gesichtscreme gemacht? So erzählen es die Leute. Die Sonne. Die Sonne scheint ihr warm ins Gesicht. Hinter den Lidern ist es hellrot. Blues betrachtet das rot, hellrot, da sind noch türkisene Blitze, die sind auch schön. Orangerot mit türkisenen Blitzen. Das will sie sich merken. Das Bild vom Einweckglas soll überdeckt werden, von Orange und Türkis. So soll es sein und jetzt ist das Kapitel abgeschlossen! Sie will nicht mehr zurückschauen!

Freitag, 6. Februar 2015

IG Farben Trockenzeit


Es ist jetzt der dritte Tag ohne Alkohol. Alles ist völlig normal, nur das Feiern klappt halt nicht so gut. Dafür ist ihr Zimmer aufgeräumt, alle Bücher für das Seminar gelesen, was noch? Sie hat soviel Zeit! Morgens springt sie energiegeladen aus dem Bett, könnte Bäume ausreißen, aber keiner ist wach, der das mit ihr zusammen macht. Sie kann mit sich nichts anfangen, sie hat keine Hobbies, nichts wofür sie sich interessiert. Sie könnte spazieren gehen, das hat sie gestern früh gemacht, das war ganz lustig: sie lief ziellos durch die Straßen. Eigentlich ganz schön, die Sonne schien silbrig, die Temperatur war angenehm, nur ihre Ziellosigkeit war störend. Immer stärker bekam sie das Gefühl, das etwas  anders ist als sonst. Suchend schaute sie sich um. Leichte Verwirrung, da ist etwas deutlich anders, aber sie konnte es nicht ausmachen. Sie bog um eine Ecke und die Sonne blendete sie. Ok, ja, die Sonne steht im Osten, sehr verwirrend, das kennt sie nicht. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist sie nicht mehr vormittags aufgestanden oder aus dem Haus gegangen. Ganz neu: die Sonne geht im Osten auf.
Ja ja, so war das, aber was nun? Sie sitzt hier am Schreibtisch. Nichts zu tun. Sie geht zum Spiegel und betrachtet sich. Alles bekannt und auch nicht sonderlich erbaulich, sie will jetzt nicht anfangen mit ihren Äußerlichkeiten, also weiter zum Fenster. Da ist aber auch nicht viel zu sehen. Der Dachfirst gegenüber, ein Stück Himmel, einige Wolken werden vom Wind getrieben und verändern im Vorbeiziehen ihre Form. Das wirkt lebendig, immerhin lebendiger als ihr Leben. Sie fühlt sich wie Rilkes Panther. Oder wie ein Gepard im Zoo. Der Weg : Schreibtisch-Spiegel-Fenster-Schreibtisch. Ihr erscheint er wie ein ausgetretener Pfad. Aber nein, sie ist ja nicht eingesperrt in diesem Zimmer. Aber sie fühlt sich eingesperrt in ihrem Leben. Sie möchte ausbrechen, aus sich. Aber sie schafft es nicht, versucht hat sie es bestimmt schon hundertmal. Die Stille. Die Stille in ihr ist laut. Roth braucht immer Lärm um diese Stille zu übertönen. Und wenn sie angetrunken ist, dann ist sie so enthemmt, dass sie selbst auch noch viel Lärm machen kann, dann beherrscht sie die Stille. Sie ist wohl gar nicht süchtig nach Alkohol, das denkt Bionda. Roth ahnt, sie ist süchtig nach Gesellschaft, nach action. Sie will ständig mächtig bespaßt werden, damit sie ihre Verlorenheit in sich selbst nicht spüren muss. Nun beackert sie ihren Pfad, ihr Zimmerdreieck und wartet, dass die Zeit vergeht. Um Geldbeschaffung braucht sie sich jetzt auch nicht mehr zu kümmern. Vor einiger Zeit war sie mal wieder zu Hause, also in dem Kaff, wo sie herkommt. Am letzten Tag wollte ihr Vater mit ihr sprechen, das ist erwähnenswert, sie sprechen eigentlich nie miteinander. Mit einer Menge Scheine in der Hand erzählte er ihr eine Geschichte:
„Mädchen, kürzlich habe ich einen alten Bekannten getroffen. Der fragte mich: wie geht es Ihren Kindern? Ich antwortete, also, mein Ältester, der ist Ingenieur und hat eine gute Anstellung bei Esso. Mein Zweiter hat Mathematik studiert und ist jetzt als Systemanalytiker bei BMW angestellt. Mein jüngster Sohn studiert Jura und ist damit bald fertig…..    ….   Ja aber, fragt mich der Bekannte, sie haben doch auch noch eine Tochter? Ja, hmm, meine Tochter,… ich weiß nicht, was die macht, antwortete ich. Mädchen! Das ist so peinlich! Bitte, nimm das Geld und studier wieder!“
So war das. Mit einem schiefen Grinsen nahm sie das Geld und jetzt hat er auch wieder einen Dauerauftrag eingerichtet. Da Roth keine Miete bezahlt, kommt sie mit den paar Kröten, die ihr Alter locker macht ganz gut aus. Sie hat die Geschichte schon verstanden, er hat sie verleugnet. Aber sie weigert sich, das zu spüren. So, wie sie sich überhaupt weigert, irgendwas zu ihrem Vater zu spüren.
Aber da denkt sie jetzt mal gar nicht drüber nach, Kellertür bleibt zu, abgeschlossen, gesichert, verbarrikadiert, gepanzert.

 Ach ja, die Geschichte mit ihrem ersten Vollsuff hängt auch mit ihrem Vater zusammen. Sie waren im Urlaub in Österreich. Es war Sommer, die Mutter kaufte für Roth und ihren Bruder ein kleines Gummiboot. Das war der absolute Renner, eigentlich waren sie schon viel zu alt für ein Gummiboot. Nicht mal einer von beiden konnte darin sitzen ohne unter zu gehen. Roth hätte schon immer gerne so ein Gummiboot gehabt. Jedenfalls spielten sie den ganzen Tag im Wasser mit dem Gummiboot. Der Vater wollte nun auch mit Großzügigkeit  hervorkommen: er lud ein zu einem zünftigen Abend. Sie fuhren mit dem Auto auf einen Hügel, dort war ein sehr volles Lokal. Sie fanden einen Tisch und nun wollte der Vater mit ihnen feiern. Es gab Heurigen, also jungen Weißwein. Ihre Mutter trinkt grundsätzlich keinen Weißwein und Roth kann sich auch nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals gerne mit dem Vater gefeiert hätte. Ihr Bruder wollte auch nichts trinken, Roth war verblüfft. Warum wollte ihr Bruder nicht? Der Vater wollte großzügig sein und konnte nun seine Großzügigkeit gar nicht an den Mann bringen. Also sprang Roth in die Bresche, sie hatte noch nie Weißwein getrunken, sie wusste also gar nicht, ob sie das Zeug runterkriegt, trotzdem sagte sie zum Vater: „ich trinke mit dir!“ Der Vater ließ sich darauf ein, Vater und Tochter waren eine Art Notgemeinschaft. Roth hatte große Probleme mit ihrem Vater mitzuhalten und das Zeug zu schlucken, aber sie hatte das Gefühl, dass der Frieden von ihren Schluckfähigkeiten abhängt. Irgendwann hatte ihr Vater genug und sie wollten nach Hause. Roth übersah die Situation überhaupt nicht mehr. Sie wurde angewiesen sitzen zu bleiben, ihr Bruder und die Mutter wollten zuerst den Vater zum Auto bringen und dann Roth abholen. Das hatte Roth aber ganz schnell vergessen und rannte den anderen hinterher. Raus aus dem Lokal, dann eine Holztreppe hinunter, hier war sie sehr vorsichtig, dann kam ein abschüssiger Vorhof, der mit Kieselsteinen ausgelegt war. Am Ende des Hofes standen die Autos und dort erspähte sie auch ihre Familie. Also rannte sie. Dann stolperte sie. Liegend rief sie nach ihren Leuten. Ihre Mutter sammelte sie ein, schimpfend, dass sie nicht im Lokal gewartet hatte. Im Auto betrachtete Roth ihre Hände, mit denen sie ihren Sturz gebremst hatte. Blut lief in langen Rinnsalen herunter, in ihren Handflächen steckten etliche Kieselsteine. Roth sah eine schwere Verletzung, aber sie spürte überhaupt keinen Schmerz. Ihre Mutter verband ihr ihre beiden Hände später notdürftig. Ein Glück war das Wetter nicht mehr so toll, sie hätte nicht mehr baden können. Noch lange Zeit konnte sie die Narben ihres ersten Vollsuffs an ihren Händen betrachten. Besoffen war sie später oft, aber nie wieder ihrem Vater zuliebe. Überhaupt erinnert sie sich eigentlich gar nicht, sonst jemals irgendetwas ihrem Vater zuliebe gemacht  zu haben.