Sonntag, 30. August 2015

Der rote Mond Hauptsache es knallt

Gehen Sie zurück zum Anfang, gehen Sie nicht über los. Also wieder die Tauchübung. Erika taucht, sie hat keine Schwimmbrille auf, sie sieht wenig, kennt den Weg nicht, hört nichts. Sie bekommt keine Luft.
Sie merkt nichts, oder wenig. Sie kann das alles nicht realisieren, sie kann nur den Schmerz unter dem Deckel halten. Das Leben geht weiter. Ihr kaltes Herz modert in ihrem Bauch, da spürt sie keinesfalls hin. Erika lebt nur noch eine flache Scheibe von sich, so wie ihre Mutter. Aber die hat richtige Schicksalsschläge hinnehmen müssen.
Erikas Mutter war sieben Jahre alt, als ihre eigene Mutter starb. Als Kind konnte Erika das Mitgefühl kaum aushalten, wenn ihre Mutter davon erzählte. Erika fühlt sich  ganz stark an ihre Mutter gebunden. Die Mutter war erst 19, als dann auch ihr Vater starb. Das war ein anderer Vater als Erikas. Die Mutter spricht mit liebevoller Ehrfurcht von ihrem Vater. Erika stellt sich immer vor, wie allein gelassen und voller Trauer ihre Mutter damals in der chaotischen Welt stand. Das war ja Chaos pur: Nazizeit, Krieg, Vertreibung, Besetzung. In all dem Durcheinander fand ihre Mutter den Mann ihres Lebens. Horst. Der heilige Horst. Erika hat sich viel von Horst erzählen lassen. Der absolute Gutmensch. Die Zwei haben geheiratet, die Mutter war zweimal Schwanger, beide verloren, und bald danach hat Krebs den Horst dahingesiecht. Erika sieht nur Trauer und Verlust, wenn sie sich die Jugend ihrer Mutter anschaut. Als Kind konnte sie das gar nicht aushalten, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt. Die Cognacflasche steht schon immer in der Küche über der Spüle, das macht Erika ihrer Mutter auch nach. Aber Cognac mag sie nicht, sie trinkt Martini oder Apfelkorn, Hauptsache es knallt. Ihre Mutter ist flach, Erika kann das verstehen, nimmt es ihrer Mutter nicht übel. Ihre Mutter hat sich abgeschnitten, von ihren eigentlichen Gefühlen. Man muss wohl zu Horsts Grab gehen, um den Rest von ihrer Mutter zu finden. Vordergründig kann man keinen Mangel erkennen. Ihre Mutter ist liebevoll und empathisch. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man den Rückzug vom Leben, die tiefe Trauer, die sie umflort und eben, dass sie ganz flach ist, abgeschnitten von ihren Gefühlen, die sie ausmachen.
Nein nein, Erika vergleicht sich nicht mit ihrer Mutter, das ist unmöglich. Und doch hat Erikas kleine  Geschichte sie zerrissen und nun macht sie es ihrer Mutter nach, trinkt, taucht und schneidet sich ab. Das kleine Fitzelchen Selbstbewusstsein, das in letzter Zeit gewachsen war, ist mit zersplittert. Erika sitzt wieder in ihrem Zimmer und macht den Köpper in den Abgrund, bodenlos. Sie hätte Peter fragen können, warum es so gekommen ist. Aber sowas macht sie nicht. Wenn sie sich verletzt fühlt, zieht sie sich sofort ganz zurück. Das ist wie ein Reflex, geht ganz schnell, da hat sie keinen Einfluss. Also kann sie nur raten, aber sie rät nicht mal, sie bezieht es einfach voll und ganz auf ihre Person. Sie ist nicht liebenswert. Das ist die einzige Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen kann, aber sie hat den Deckel drauf und zieht ihn mit Apfelkorn fest.
Das Leben geht weiter. Otto macht weiter seine tollen kleinen Zusammenkünfte, es kommen immer mehr Leute. Da ist Einer, Thomas, braune Augen, lebendiger Typ, lustig. Diese schönen, braunen Augen schauen auf Erika. Kann der was von Erika wollen? Dieser coole Typ? Sie verabreden sich für den nächsten Tag. Erika geht ihn besuchen. Sie unterhalten sich, hören Musik, ein paar Küsschen sind wohl auch dabei. Am Montag in der Schule ist es das Erste, was Erika herausposaunt: „Ich habe einen Freund!“ Ihre Klassenkameradinnen wollen alles ganz genau wissen, Erika verspricht, dass sie ihn in der großen Pause sicherlich zu sehen bekommen, da er ja auch hier Schüler ist.

Wie meistens steht sie mit ihren Klassenkameradinnen am Rand der breiten Treppe, die vom Pausenhof in das Gebäude führt. Hier haben sie den besten Überblick, sehen und gesehen werden. Am Ende der Pause läuft Thomas mit seinen Freunden an ihr vorbei, er schaut ihr in die Augen, sonst keine besondere Regung. „Hier, eben, der Dunkelhaarige, das war er!“ Silke H. faucht sie direkt an:    „ du erzählst wieder einen Scheiß! Wenn der dein Freund wäre, dann wäre er jetzt hergekommen und hätte Hallo gesagt!“ Erika weiß mal wieder keine Antwort. Sie fühlt sich getroffen und sie schämt sich. Silke! Die kennt sich wohl aus, sie ist schon lange mit Heino zusammen. Erika kennt sich gar nicht aus. Ist dann Thomas vielleicht doch eher ein freundlicher Bekannter? Wahrscheinlich hat Erika die Situation völlig falsch eingeschätzt. Es gibt ja auch überhaupt keinen Grund für ihn, auf sie abzufahren

Mittwoch, 5. August 2015

Fahrradfahren in Berlin

Mit dem Fahrrad in Berlin unterwegs zu sein, ist immer schön, außer bei Regen, aber in Berlin regnet es ja selten. Ich fahre und lasse die Stadt dabei auf mich wirken. Die ganz alltäglichen Wege sind inzwischen natürlich etwas langweilig, aber auch da entdecke ich manchmal was Neues. Mein Lieblingsweg ist von Zuhause zu einem Freund in Moabit. Ich mag den Freund, aber den Weg mag ich so sehr, dass ich den Freund am liebsten alle drei Tage besuchen würde. Zuerst fahre ich über das Feld, an der Stirnseite, östlich. Die Seite ist kurz, trotzdem habe ich genügend Zeit über das Feld zum Flughafengebäude zu schauen, im Süden den Ullsteinturm auszumachen. Hier kann man im Winter die schönsten Sonnenuntergänge sehen. Diese Weite, mitten in der Stadt, das ist berauschend. Im Dezember geht die Sonne hinter den Schloten eines Kraftwerks unter, das könnte Lankwitz sein, ich weiß es aber nicht genau. Der freie Blick über das Feld, dann die rauchenden Schlote, dahinter die orangene Sonne: soviele Assoziationen auf einmal. Freiheit, Vergänglichkeit, Stadtleben mit verseuchter Lunge und gleichzeitig der kühle, scheinbar frische Wind um die Nase. Die Weite genießen, sehen, wie die vielen Leute den Raum nutzen. Die Neuköllner, eine mir vertraute berliner Volksgruppe. Um den Fernsehturm zu sehen, muss ich hier ein Stück auf das Feld rauf fahren. Ich mag das, immer wieder, oft plötzlich, unerwartet, irgendwo zwischen Häuserschluchten, zeigt sich der Fernsehturm. Wie ein Pflock um den sich Berlin anordnet. Wie ein Zeigefinger ragt er in den Himmel, „ hier bin ich, orientier dich!“ Es heißt ja: alle Wege führen nach Rom, bedeutungslos, alle Wege führen zum Alex. Das Buch, Berlin, Alexanderplatz, will ich schon lange lesen, jetzt wird es dringender. Ich muss wissen, wie Döblin den Flair eingefangen hat. Allerdings habe ich Sorge, dass ich mit der Sprache nicht klarkomme. Thomas Mann wirkt auf mich immer wie ein Schlafmittel, ich muss mich regelrecht durchkämpfen, ob das bei Döblin anders ist?
Vom Feld komme ich durch die Hasenheide. Schon wieder entspanntes Radeln durch einen Park. Wieder viele junge Menschen, Rasenflächen, alte Bäume. Ich schaue auf die vielen Grüntöne und spüre gleich, wie gut mir das tut. Hier sind schon mehr Kinderwagen, hier sind Decken auf dem Rasen ausgebreitet, Leute mit Getränken und Gitarre, Freizeitakrobaten. Das Neuköllner Durcheinander wechselt zu Kreuzberger Aufgeräumtheit. In der Bergmannstraße bestaune ich, wie sich Kreuzberg verkauft. Eingeborene und Touristen lassen sich leicht unterscheiden. Ich bin froh, wenn ich über die Ampel in die Kreuzbergstraße komme und die gierige Geschäftigkeit langsam abebbt. Ich passe den richtigen Moment ab, Augen links: Kreuzberg, mit Denkmal und Wasserfall. Über Katzmann- und Yorckstraße komme ich schon in den nächsten Park: Gleisdreieck. Hier steht kein einziger großer Baum. Der Raum wirkt viel offener, gleißender, grauer. Wieder so viele junge Menschen, sportlich, oder mit Kindern. Der Park scheint ein riesiger Spielplatz für groß und klein zu sein. Erst versinken die Bahngleise im Tunnel. Dann alte Brücken, über die die S-Bahn rumpelt, rechts alte Lagergebäude, links Neubauten. Die sehen richtig teuer aus. Jetzt sehe ich auch, dass sich der Volksstamm schon wieder verändert hat. Emsiges Streben liegt in der Luft, die Kinderwagen haben Allradantrieb, die hippen Skater waschen sich brav die Hände, wenn sie in den Dreck gefallen sind. Ich komme am Potsdamer Platz aus dem Park. Diese Gegend wirkt blutleer. Die wenigen Leute, die ich sehe, sind auf dem Sprung. Einige Touristen sitzen in stylischen Lounges. Ich freue mich in den Tiergarten einzutauchen, Potsdamer Platz, da sind zu viele Anzüge mit teuren Schuhen. Im Tiergarten radeln auch solche Anzüge an mir vorbei, aber ich bin wieder entspannter. Der Park, obwohl er recht schmal ist, hat eine starke Aura, irgendwie erhaben, unberührbar. Bei Bellevue fahre ich über die Spree und komme so nach Moabit. Von hier zur Turmstraße verändert sich der Flair so schnell, das es überraschend ist. Eben noch Regierungsviertel, machtvolle Weitläufigkeit, bin ich hier wieder in einem lebendigen Durcheinander gelandet. Hier fühle ich mich wieder richtig wohl, ich spüre weder Dünkel noch Gier. Die Leute machen einfach ihr Ding, ohne zu sehr auf Außen zu achten, so wirkt das auf mich.
Von Berlin nach Tokio durchfliegt man 10 Zeitzonen, oder so. Von Britz nach Moabit zähle ich 8 Berlinzonen. Acht unterschiedliche Volksstämme. Achtmal verändert sich der Geschmack auf der Zunge, der Weg dauert nur 40 Minuten, aber ich bekomme so viele Eindrücke, dass ich tagelang damit beschäftigt sein kann.
Ich stelle mein Fahrrad ab und setze mich im kleinen Tiergarten auf eine Bank. Der Autolärm stört gar nicht so sehr, ich kann ihn gut ausblenden. Die Sonne scheint silbern, es ist Vormittag, noch etwas frisch. Ich schaue der entspannten Geschäftigkeit zu, die mich hier umgibt. Das hört sich an wie ein Paradox, ich kann es aber nicht besser ausdrücken. Alle scheinen ein Ziel zu haben, es gibt auch keine Langsamkeit und doch ein Verharren im Jetzt. Gegenüber hat ein Türke seine Auslagen in einer alten Garage aufgebaut. Er quatscht mit einem Passanten, geistesabwesend sortiert er hin und wieder eine vergammelte Nektarine aus. Ich würde gerne bei ihm einkaufen, aber es wäre natürlich blödsinnig das Obst quer durch die Stadt zu tragen. Eine alte Frau setzt sich neben mir auf die Bank, sie schmeißt Brotreste für Vögel vor sich auf den Boden. Sofort kommen Spatzen und Tauben angeflogen. Ich mag das nicht so sehr. Ich mag Vögel, keine Frage, aber nicht so nah. Ich mag nicht mehr atmen, ich habe das Gefühl, die Luft ist von Keimen verseucht. Aber mein Platz ist so schön, bis eben war ich so entspannt und offen für die Welt, dass ich eigentlich nicht aufstehen will.

Dieses Moabit gefällt mir so richtig gut, es wirkt ganz ähnlich unaufgeräumt wie Neukölln, wie ein Zwilling auf der anderen Seite der Stadt. Hier würde ich auch gerne wohnen.