Es ist ein ganz normaler Abend. Anna liegt auf dem Boden im
Wohnzimmer. Die Arme hat sie zur Seite
ausgestreckt. Sie keucht. Sie fühlt sich ausgeliefert. Sie muss um Gnade
wimmern. Das will sie keinesfalls, aber es ist mal wieder so weit. Albert sitzt auf ihr, seine Knie quetschen
ihre Oberarmmuskeln. Sie versucht ihn mit ihren Beinen zu erwischen, aber das
klappt nicht. Die Arme tun weh, richtig weh.
Sie gibt auf, weint , er quält sie noch so lange, wie es ihm gefällt,
dann lässt er von ihr ab. Albert ist älter, kräftiger, ein Junge eben. Er ist
kein Böser, oder so, aber es gibt viel negative Energie in ihm, so wie bei wohl
fast allen Familienmitgliedern. Anna ist die Einzige an die er sich mit diesen
Impulsen wenden kann, zumindest ungestraft. Sie ist verbissen, eine
Kämpfernatur, jedesmal von Neuem versucht sie ihm Paroli zu bieten, nicht
verbal, da zeigen sich die über drei Jahre Altersunterschied zu deutlich, aber
in den körperlichen Auseinandersetzungen kämpft sie zäh und mit allen Mitteln.
Er gibt die Regeln vor, sie hält sich dran, wenn sie kann, aber im Zank kann
sie machen, was sie will, als Unterlegene darf sie zu allen Mitteln greifen.
Albert zügelt sich, spielt mit ihr wie die Katze mit der Maus, aber das bemerkt
sie nicht, für sie geht es immer um alles.
Es gibt Abendbrot. Die Mutter hat Reste vom Mittagessen
aufgewärmt, für Albert und Anna ein Fest. Die kleine Portion wird gerecht auf
ihre zwei Teller aufgeteilt. Anna überlässt sich der Gier und spachtelt gleich
los. Zu spät bemerkt sie, dass Albert wieder mit ihr spielt, er macht langsam,
beobachtet, und als sie schon fast nichts mehr auf dem Teller hat, ist die
Situation perfekt. Er zeigt ihr ihre Gier und dann ihren Neid. Genüsslich isst
er langsam, sie muss zuschauen. Albert
ist immer überlegen, er legt fest, was gespielt wird, was Thema ist, einfach
alles. Trotzdem geht sie immer wieder zu ihm. Sie geht ihm nicht aus dem Weg,
im Gegenteil, sie geht ihm auf die Nerven. Er hat gute Freunde, sie spielen oft
zusammen, auch da will sie immer dabei sein. Schon als Kleinkind ist sie immer
hinterher gerannt, ihre ersten Worte waren angeblich „peng-peng“. Anna weiß,
dass sie sich ausliefert, aber der Zug zu ihm ist so stark. Vielleicht will sie
sich immer wieder ausprobieren, oder ist Macht und Ohnmacht einfach ihr Thema?
Jedenfalls lernt sie hier was Zeit ist, was Prozess bedeutet. Anscheinend gibt
es einen sich ständig wiederholenden Ablauf: Sie sucht ihn auf, „spiel mit
mir“, er ist schon in irgendetwas vertieft, sie gängelt ihn, bis er sich auf sie
einlässt. Aber er bestimmt das Spiel, die Regeln, sie hat keine Wahl, sie
spielen ein bisschen. Irgendwann wird ihm langweilig, er fängt an das Spiel zu
verändern, stichelt, treibt sie in die Enge, so macht das keinen Spaß mehr. Zu
spät merkt sie, dass es schon um etwas anderes geht, ihre Ohnmacht lässt seinen
Sadismus frei. Der Streit wird körperlich, bald muss sie aufgeben. So ist das
und doch geht sie immer wieder zu ihm. Ist Anna so in Not, wenn sie sich
langweilt, oder was lässt sie wieder und wieder hingehen, obwohl sie doch schon
vorher weiß, dass das gefährlich ist.
Albert kommt von der Schule nach Hause, schmeißt seinen
Ranzen in die Ecke und schmeißt sich selbst auf den hinteren roten Sessel im
Wohnzimmer. Er schmeißt seinen Kopf auf dem roten Polster hin und her, der Rest
des Körpers ist ganz still. So macht er das lange, dabei ist er unberührbar,
sie kann zuschauen, stören kann sie ihn nicht. Der großegroße Bruder kommt nach
Hause. Er stellt seine Schultasche behutsam zur Seite, setzt sich ans Klavier
und spielt den fröhlichen Landmann. Wunderschön. Anna beginnt zu Tanzen, naja,
Tanzen! Sie dreht sich, die Arme ausgestreckt. Wie ein Tanzkreisel, immer nur
um die eigene Achse, schnell, aber sie brummt nicht. Sie spürt die
Verwandtschaft zu Alberts Kopfwackeln. Es geht um Reinigung, Loslassen,
Abschütteln. Manche Tante, die zu Besuch ist, meint die Mutter müsste mit ihm
zum Arzt gehen. Pathologisch! Anna weiß, dass alles gut ist, dass er sich nur
sauber macht. Anna weiß immer viel über Albert, aber es interessiert sich
niemand für ihr Wissen. Sie ist und bleibt klein, die Kleinste. Sie nervt
grundsätzlich, wenn sie sich zu Wort meldet, das wissen alle. So lernt sie nichts über Sinn
und Unsinn ihrer Gedanken.
Albert holt Anna unter den Forsythienbusch. Eines ihrer besten Verstecke. Es sind
eigentlich zwei Büsche. Sie stehen nah beieinander und sind in ein
wunderschönes Rund gewachsen. Es gibt an den Wurzeln eine gemütliche, lichte
Höhle. Dort teilt er mit ihr den Kartoffelsalat, den er beim Fischmann gekauft
hat. Der Salat schmeckt herrlich nach Konservierungsstoffen. Anna versucht sich
gut zu benehmen, nicht zu gierig zu sein. Sie will, dass er in der
Großzügigkeit bleibt, die Stimmung soll nicht kippen. Anna ist immer auf der
Hut, sie versucht frühe Anzeichen zu finden, wie sich Albert´s Gemütszustand entwickelt. Sie versucht auch
zu lernen, was ihr Anteil ist. Mit Albert Zeit zu verbringen ist wie Karussell
fahren. Es kann ganz schnell gehen, alles verändert sich. Mit ihm ist es am
schönsten, aber auch am gefährlichsten. Jetzt jedenfalls versucht sie ganz so
zu sein, wie er sie mag, damit sie den heimlichen Kartoffelsalat mit ihm und
seine großzügige Zugewandtheit in Ruhe genießen kann. Aber, sie weiß ja gar
nicht, wie er sie mag. Sie weiß eigentlich auch gar nicht wie sie ist. Sie weiß
genau wie Albert ist, sie weiß auch wie die Anderen sind. Aber Anna selbst? Das
kann sie nicht sehen. Manchmal, selten, wird ihr was über sie gesagt, dass sie
immer zankt, zum Beispiel. Das merkt sie nicht. Die großen Brüder sagen immer
„erst denken, dann reden“, das schafft sie nicht. Sie will mitreden, dabei
sein; sie lassen sie nicht.
Der Vater ist selten zu Hause, wenn er dann da ist neigen
sich alle unter sein Joch. Sie sitzen mal wieder beim Abendbrot. Der Vater hat sich in Rage
geredet und orgelt endlos über Albert. Albert hat seinen Platz neben dem Vater,
Anna sitzt einen Platz weiter. Albert ist der Puffer zwischen ihr und dem
Vater. Also heute hat es Albert erwischt. Der Vater schimpft und schimpft,
Albert sitzt wie eingefroren an seinem Platz, er schaut auf seinen Teller, der
Kopf ist minimal eingezogen, Anna kann das an seinem Nacken erkennen. Albert
ist erstarrt, körperlich, sie kennt das gut, sie erstarrt auch, wenn der Vater
sie im Visier hat. Albert ist innerlich in der Erstarrung völlig aufgewühlt.
Der Vater hat sich jetzt mal wieder dahin gesteigert, dass er Albert ins
Internat schicken will. „Ich will ihn hier nicht mehr sehen…“ Da kommt der
Vater meistens an, wenn er sich über Albert aufregt. Das ist Albert´s größte
Angst: weg von zu Hause! Albert ist sehr an Haus und Garten gebunden, die
Vorstellung, das zu verlieren, ist wohl die schlimmste. Anna hat so viele
Ängste, aber bei Albert kennt sie nur diese eine. Sie selbst hat Angst vor
Dunkelheit, leeren Räumen, Kellern, Gespenstern, der Nacht, dem Weltall, es
gibt bestimmt noch viel mehr, aber das fällt ihr jetzt nicht ein. Da sitzt er der arme Albert, mit
eingezogenem Nacken, seine einzige Angst ist wach und angesprochen. Anna ist
voller Mitgefühl. Sie kann nichts für ihn tun, sie versucht ihm telepathisch
beizustehen. In solchen Situationen spürt sie ihre starke Verbundenheit mit
Albert.